Eröffnungsveranstaltung

1. Tag: Dienstag, 3. Mai 2005, 10:00 UHR

Estrel Festival Center, Berlin

(Musikalische Einleitung: Georg Friedrich Händel: Die Königin von Saba,
Astor Piazzolla: Contrabajeando, Mike Curtis: Freylacher Bulgar; Berliner Saxophon Ensemble)

Dr. Günther Jonitz, Präsident der Ärztekammer Berlin:
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich darf Sie ganz herzlich zur Eröffnungsveranstaltung des 108. Deutschen Ärztetages in Berlin begrüßen. Ich freue mich, dass Sie so zahlreich gekommen sind. Ich freue mich auch, dass trotz der Tatsache, dass keine Sitzungswoche ist, auch zahlreiche hochrangige Vertreter aus dem Deutschen Bundestag heute hier sind. Ich begrüße primär als Vertreter des Senats von Berlin Herrn Dr. Hermann Schulte-Sasse, Staatssekretär für Gesundheit und Verbraucherschutz. Lieber Hermann, schön, dass du hier bist.

(Beifall)

Ich darf in doppelter Funktion, nämlich als Vertreterin der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag als auch als Bundesministerin für Gesundheit und Soziale Sicherung, Frau Ulla Schmidt herzlich willkommen heißen.

(Beifall)

Ich darf die gesundheitspolitische Sprecherin der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Frau Birgitt Bender, begrüßen.

(Beifall)

Ich begrüße sehr herzlich Frau Annette Widmann-Mauz, die gesundheitspolitische Sprecherin der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und Mitglied des Bundestagsausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung.

(Beifall)

Ebenso begrüße ich den Bundestagsabgeordneten und ärztlichen Kollegen Dr. Hans Georg Faust.

(Beifall)

Für die FDP ist der gesundheitspolitische Sprecher der FDP-Bundestags­fraktion, Herr Dr. Dieter Thomae, anwesend.

(Beifall)

Ich freue mich, dass Sie hier sind. Vor allen Dingen müssen wir heute Vormittag das tun, was wir als Ärzte bei unseren Patienten auch tun, nämlich zuhören. Dazu besteht reichlich Gelegenheit.

Ich begrüße den Staatssekretär im Thüringischen Ministerium für Soziales, Familie und Gesundheit, Herrn Stephan Illert.

(Beifall)

Ich begrüße herzlich den Ehrenpräsidenten der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages, Herrn Professor Dr. Dr. h. c. Karsten Vilmar.

(Beifall)

Ich begrüße die Ehrenpräsidentin des 108. Deutschen Ärztetages, Frau Dr. Rita Kielhorn-Haas.

(Beifall)

Mit großer Freude begrüße ich – sozusagen als Dauerbrenner – Herrn Professor Dr. Dr. h. c. Jörg-Dietrich Hoppe, den Präsidenten der Bundesärztekammer. Lieber Jörg, du bist gut in Form; wir freuen uns richtig auf die nächsten Tage.

(Beifall)

Ich begrüße das Ehrenmitglied des Vorstands der Bundesärztekammer, Herrn Professor Dr. Hans-Joachim Sewering.

(Beifall)

Ich begrüße Frau Dr. Waltraud Diekhaus, die Generalsekretärin des Weltärztinnenbundes.

(Beifall)

Ich begrüße den frisch ins Amt gewählten Vorstand der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Herrn Dr. Andreas Köhler und Herrn Ulrich Weigeldt.

(Beifall)

Die Spitze der Selbstverwaltungsgremien auf gesetzlicher Grundlage wird re­präsentiert durch Herrn Dr. Rainer Hess, den Vorsitzenden des Gemeinsamen Bundesausschusses. Herzlich willkommen!

(Beifall)

Von den Repräsentanten der Institutionen auf nationaler Basis darf ich ganz herzlich Herrn Professor Dr. Encke, den Präsidenten der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften, begrüßen. Herr Encke, die Zusammenarbeit macht Spaß; ich finde das richtig gut.

(Beifall)

Ich begrüße Herrn Dr. Oesingmann, den Vorsitzenden des Bundesverbandes der Freien Berufe, und gratuliere ihm nachträglich zu seinem halbrunden Geburtstag.

(Beifall)

Ich begrüße aus dem Ausland Herrn Dr. André Wynen, den Generalsekretär emeritus des Weltärztebundes und Träger des Ehrenzeichens der deutschen Ärzteschaft.

(Beifall)

Ebenfalls unter uns ist Frau Lisette Tiddens, die Generalsekretärin des Ständigen Ausschusses der Europäischen Ärzte.

(Beifall)

Gesundheitspolitik wird mehr und mehr in Brüssel gemacht und hoffentlich in Deutschland sachkundig umgesetzt. Umso mehr freut es mich, dass Sie anwesend sind.

Herrn Dr. Otmar Kloiber, den neuen Generalsekretär des Weltärztebundes, begrüße ich ausdrücklich herzlich.

(Beifall)

Lieber Otmar, gutes Gelingen!

Ich begrüße jetzt in toto die Vertreter zahlreicher anderer ärztlicher und medizinischer Verbände. Ich habe gesehen, dass der Deutsche Pflegerat vertreten ist, ebenso zahlreiche Krankenkassen, zumindest die regionalen Krankenkassen. Über Ihre Anwesenheit freue ich mich sehr. Wir müssen zusammenarbeiten. Das können wir lernen; zum Teil praktizieren wir es ja auch schon.

(Beifall)

Ich begrüße die Kolleginnen und Kollegen, die als Gäste am 108. Deutschen Ärztetag teilnehmen, und ich begrüße alle Delegierten dieses 108. Deutschen Ärztetages. Ich heiße alle Freunde hier in diesem Saal, die man im Laufe der berufspolitischen Arbeit kennen lernt, willkommen; es ist ja nicht ständig nur Arbeit.

Wenn ich jemanden vergessen haben sollte, so sehen Sie mir das bitte nach. Die Familie der Medizin ist groß. Jeder ist hier heute in gleichem Maße herzlich willkommen.

(Beifall)

Sie wissen ja: Wo Berlin ist, ist vorn. 1989, beim letzten Deutschen Ärztetag, der in Berlin stattgefunden hat, waren die Stadt und unser Land noch geteilt. Wir waren das einzige Land der Welt mit einer gut funktionierenden Stadtmauer. Wir alle sind froh, dass sie weg ist. Weder Ochs noch Esel sollten den Lauf des Sozialismus aufhalten; das meinten zumindest die damals Mächtigen.

Sie haben sich getäuscht, es ist anders gekommen. Wir erleben es in Berlin tagtäglich, wie vormalige Grenzen nur noch in der Erinnerung existieren und selbst getrennte Stadtteile inzwischen gemeinsam verwaltet werden. Aus Altem wird Neues geschaffen. Das ist nicht immer ganz einfach, weil Dinge zusammengebracht werden müssen, die nicht immer nacheinander gerufen haben. Der Nachbarbezirk Friedrichshain-Kreuzberg, in dem die Ärztekammer Berlin ihren Sitz hat, kennt diese Probleme relativ genau.

Dies ist der erste Ärztetag in Berlin nach dem Umzug der Bundesregierung nach Berlin. Bundesärztekammer, Kassenärztliche Bundesvereinigung und Deutsche Krankenhausgesellschaft sind im letzten Jahr hierher gezogen. Berlin ist die Hauptstadt. Hier spielt die – politische – Musik. Die ärztlichen Verbände sind bereits hier. Andere, wie die großen Krankenkassen, der Gemeinsame Bundesausschuss und das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, werden folgen.

Herzlich willkommen in Berlin! Es ist schön, dass Sie da sind. Für die, die sich in Berlin bereits eingelebt haben, sage ich: Sehn se, so schön is Berlin! Für diejenigen, die noch etwas brauchen, um den Charme der Großstadt und seiner wunderschönen Umgebung zu entdecken, sage ich: Keine Panik, Sie werden es schon schaffen. Sie werden sich auch hier wohl fühlen.

Berlin ist eine sehr große Stadt; das wird oft unterschätzt. Sie hat knapp 3,5 Millionen Einwohner. Damit ist sie fast so groß wie Neuseeland mit 3,9 Millionen Einwohnern oder Uruguay mit 3,4 Millionen Einwohnern. Sie ist beinahe halb so groß wie die Schweiz mit 7,4 Millionen und Österreich mit 8,1 Millionen Einwohnern. Sich dies gelegentlich in Erinnerung zu rufen, erleichtert den Umgang mit den Problemen und den Herausforderungen, denen sich diese Stadt und wir alle uns gegenübersehen.

Berlin hat viel zu bieten. Eine der bemerkenswertesten Einrichtungen in Berlin ist die Einrichtung, in der Sie sich gerade aufhalten. Das Hotel Estrel steht im Guinessbuch der Rekorde: Es ist der größte Hotel-, Entertainment- und Conventionkomplex Europas und sicherlich der einzige, der mitten im wahren Leben gelegen ist.

(Heiterkeit)

– Der Nordosten von Neukölln ist ein Sozialstandort. Alle Probleme, die wir hier in Neukölln haben, erleben die allermeisten von uns jeden Tag in Klinik oder Praxis. Das sind Erlebnisse, die sich in der Regel nicht in offiziellen Gutachten oder Stellungnahmen niederschlagen; aber sie sind die Realität. Wichtig ist aufm Platz.

Alle großen Parteien haben hier Parteitage abgehalten, Bambis und Echo-Preise wurden hier verliehen, „Wetten, dass …?“ und andere Medien- und Messeveranstaltungen wurden und werden hier abgehalten. Was früher in Westberlin „jwd“ war, „janz weit draußen“, ist jetzt, wenn Sie auf den Stadtplan schauen, doch ziemlich zentral. Für das Estrel gilt, was für vieles in Berlin gilt: Wenn man erst mal da ist, ist es auch schön!

(Heiterkeit)

Auch die musikalische Begleitung stammt aus dieser Stadt. Ich freue mich, dass es gelungen ist, das Berliner Saxophon Ensemble für die musikalische Umrahmung zu gewinnen. Ich darf Ihnen die vier Künstler vorstellen: Anne Voigt – Baritonsaxophon und Basssaxophon, Norbert Nagel – Sopransaxophon und Klarinette, Alexander Darashkevich – Altsaxophon, Bettina Matt – Tenorsaxophon.

(Beifall)

So flott kann es in Berlin zugehen. Berlin ist eine musikalische Stadt.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Albert Einstein hat einmal gesagt: Die Probleme, die es in der Welt gibt, können nicht mit den gleichen Methoden gelöst werden, die sie erzeugt haben. Welche Probleme haben wir denn? Das erste Problem ist: Die Medizin ist besser geworden. Meine Großmutter väterlicherseits starb Mitte der 70er-Jahre an den Folgen einer Schenkelhalsfraktur. Sie war damals weit über 80 Jahre alt. Die Schenkelhalsfraktur war Mitte der 70er-Jahre genauso wenig behandelbar wie 1902, als Rudolf Virchow ebenfalls an den Folgen einer Schenkelhalsfraktur starb. Die Mutter meiner Mutter starb 1968 an den Komplikationen des Diabetes mellitus, der Zuckerkrankheit, und zwar nach relativ kurzem Krankheitsverlauf. Krankheit war Schicksal, Krankheit war wenig behandelbar, vor allem im Alter.

Machen wir uns doch bitte für einen Augenblick klar, wie ungeheuer leistungsfähig unsere Medizin geworden ist. Hüftgelenksnahe Brüche zu operieren ist gähnende Routine geworden, Narkosen bei alten Menschen gehören in allen deutschen Krankenhäusern zum Alltag. Gegen die Komplikationen der Zuckerkrankheit haben wir ein ganzes Arsenal an Möglichkeiten, bis hin zur Insulinpumpe, zu Transplantationen der Bauchspeicheldrüse und minimalinvasiven Verfahren bei Gefäßkomplikationen.

Diese Leistungsfähigkeit ist so sehr zur Routine geworden, dass man nicht mehr darüber nachdenkt. Über Selbstverständlichkeiten gibt es keine Gutachten. Es ist mir trotz vielfältiger Bemühungen nicht gelungen, irgendeine Einrichtung zu finden, die bereits einmal eine solche Erfolgsbilanz erstellt hat. Vielleicht findet sich in diesem Raum jemand, der darüber nachdenkt und versucht, eine Erfolgsbilanz aufzustellen.

Das zweite Problem ist: Unsere Patienten sind älter geworden, sie sind kränker geworden. Das Durchschnittsalter steigt, im Krankenhaus wie in der Praxis. Wer je mit einem über Achtzigjährigen versucht hat, mehrere Untersuchungstermine an einem Tag im Krankenhaus abzuspulen, weiß um die Belastungen für den kranken Menschen.

Chronische Krankheiten und Multimorbidität prägen unseren Alltag. Sie machen unsere Arbeit anspruchsvoller. Das ist, um mit den Worten des Regierenden Bürgermeisters von Berlin zu sprechen, auch gut so. Es ist der Preis des Fortschritts. Hätten wir diesen Fortschritt nicht, wäre der Preis, früher zu sterben. Das ist obsolet.

Schließlich sind unsere Patienten auch anspruchsvoller geworden. Selbstverständlich möchten Junge wie Alte an den Segnungen der Medizin teilhaben: von der Früherkennung und dem Gesundbleiben durch mehr oder weniger sinnvolle Verfahren auf der einen Seite bis zur Hoffnung auf Heilung selbst bei unheilbaren Leiden auf der anderen Seite. Der Erwartungsdruck wächst.

Dieses Phänomen wird als die Fortschrittsfalle der Medizin bezeichnet: Je erfolgreicher die Medizin ist, umso mehr Kranke haben wir. Denn immer öfter gelingt es der Medizin, kranke Menschen länger am Leben zu erhalten; man denke an die Erfolge bei Stoffwechselkrankheiten, bei Tumorerkrankungen oder bei Aids.

Parallel dazu sinken die Möglichkeiten, diese Erwartungen zu erfüllen. Liebe Frau Ministerin, das ist kein Lamento, sondern ich versuche, das zu vermitteln, was man als Arzt beispielsweise gegenüber einem Hochrisikopatienten tut: Man muss ihm sagen, welche Risiken und Nebenwirkungen sein Verhalten haben wird, wenn er weitermacht wie bisher. Das gilt genauso für die Politik. Allerdings ist es so: Wenn im ärztlichen Alltag etwas schief geht, ist der einzelne Patient betroffen; wenn in der Gesundheitspolitik etwas aus dem Gleis gerät, haben wir alle die Probleme.

(Beifall)

Nach über 20 Jahren Sparpolitik sehen wir die Spuren mittlerweile überall. Es wird eng, ambulant wie stationär. Die Leistungsfähigkeit sinkt und die Unzufriedenheit wächst. Trotz aller Anstrengungen der Menschen vor Ort erodiert die Grundlage unseres Gemeinwesens. Mit jedem Arbeitslosen in Deutschland mehr wird ein Mensch eher krank und entgehen den Krankenkassen wichtige Beiträge. Arbeitslosigkeit ist nach wie vor das Gesundheitsrisiko Nummer eins in Deutschland. Arbeitslosigkeit macht krank. Auch dies ist seit den Jahren von Rudolf Virchow unverändert. Wir werden auf diesem Deutschen Ärztetag im Rahmen des Tagesordnungspunktes IV „Krankheit und Armut“ ausführlicher darüber diskutieren können.

Liebe Frau Ministerin, liebe politisch und ökonomisch Verantwortliche in diesem Land: Wir reden viel von Prävention. Das ist nicht nur als politisches Thema wichtig, sondern auch weil man selbst betroffen ist. Ich habe lieber keine Krankheiten und tue etwas dafür, dass ich sie nicht bekomme, als vorhandene Krankheiten zu behandeln. Wenn man die Volksgesundheit nachhaltig stärken und Krankheiten verhindern möchte, wenn man die Beitragssätze spürbar senken und dennoch mehr Geld ins System geben möchte, damit die Leistungsfähigkeit gestärkt wird, muss man drei Dinge tun: Arbeitsplätze schaffen, Arbeitsplätze schaffen, Arbeitsplätze schaffen.

(Beifall)

Wer keine Arbeit hat, hat keine Lebensgrundlage und hat keine Lebensperspektive. Der reagiert entsprechend darauf. Die Folgen liegen auf der Hand: Eine Fülle von Herz-Kreislauf- und auch von Lungenkrankheiten haben diese Ursache.

Dies gilt natürlich auch und vor allem für diejenigen, die „Arbeitgeber“ heißen, aber sehr oft „Arbeit-Nehmer“ geworden sind. Es tut mir Leid, aber ich muss es hier loswerden – es ist vielleicht nicht ganz der richtige Platz –: Mich stört das höchst einseitige Lamento zahlreicher Arbeitgebervertreter außerordentlich.

Lieber Arbeitgeberpräsident Hundt, Art. 14 Abs. 2 des Grundgesetzes lautet:

Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.

In Matthäus 7 Vers 5 heißt es:

Du Heuchler, zieh am ersten den Balken aus deinem Auge; darnach siehe zu, wie du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehest.

(Beifall)

Wer keine Orientierung hat, kann sich durchaus zwischendurch bei Grundgesetz und Bergpredigt orientieren. Das Prinzip der sozialen Verantwortung in dieser Gesellschaft gilt nicht nur für die sozial tätigen Berufsgruppen. Es gilt ganz besonders für die unternehmerisch Verantwortlichen in diesem Land. Und wenn man es befolgt, zahlt es sich auch aus.

(Beifall)

Lieber Jörg Hoppe, meine Damen und Herren, was hat sich in den letzten Jahren nicht verändert – die Medizin hat sich verändert, die Patienten haben sich verändert, die Rahmenbedingungen haben sich verschlechtert –, was ist gleich geblieben? Beispielsweise das Grundprinzip auch unseres Gesundheitswesens, das Fließband: Einer macht die Gesetze, ein anderer zieht das Geld ein und verteilt, der Dritte gibt es aus und der Vierte, der Patient, erhält dafür Leistungen. Alle arbeiten nacheinander. Jeder hat seine eigenen Ziele: Die Politik will gegenüber dem Wähler gut dastehen und Kosten niedrig halten, die Kassen möchten gerne ihre Beitragssätze geringer halten als die konkurrierende Kasse und freuen sich über den Risikostrukturausgleich, Ärztinnen und Ärzte möchten gute Medizin machen und dabei fair behandelt werden und die Patienten möchten gerne, wenn sie in Not sind, sofort und umfassend auf dem besten Niveau versorgt werden.

Was am Ende dabei herauskommt, medizinisch wie ökonomisch, wissen wir eigentlich nicht. Es gibt kein Lernen am Ergebnis. Hauptsache, es geschieht etwas und die Kosten laufen nicht aus dem Ruder. Das ist menschlich, das ist nachvollziehbar. Aber die Summe des Eigennutzes der Beteiligten summiert sich nicht zum Gesamtnutzen des Systems, sondern zum Gesamtschaden. „Schwarzer Peter“ heißt das Spiel und wir, die wir die Patientinnen und Patienten aus dem Alltag kennen, wissen das zur Genüge.

Dieses Spiel hilft nicht. Die unterschiedlichen und zum Teil auch widerstrebenden Interessen der Beteiligten im Gesundheitswesen erzeugen enorme Reibungsverluste. Das kostet eine Riesenstange Geld. Niemand hat dafür Verständnis, schon gar nicht die Bürgerinnen und Bürger im Lande. Sie erwarten, dass wir in irgendeiner Art und Weise konstruktiv zusammenarbeiten. Und, offen gestanden, liebe Kolleginnen und Kollegen: Spaß macht es eigentlich auch nicht, rhetorisch aufeinander rumzudreschen. Es ist schön, sich in der Debatte zwischendurch zu raufen, aber in der Sacharbeit möge man sich um ein höheres Maß an Konsens kümmern, als es in der Vergangenheit – aus unterschiedlichen Gründen – möglich war. Sich gegenseitig das Leben schwer zu machen, dient niemandem, schon gar nicht der Versorgung.

(Beifall)

Die Folgen dieser steinzeitlichen Politik sind uns allen bekannt. Die Schere zwischen Anspruch und Wirklichkeit wird jeden Tag größer. Es wird immer schwerer, gute Medizin zu machen. Es wird für die Patienten immer schwerer, eine gute und angemessene Behandlung zu bekommen. Die Kosten sinken nicht.

Wenn in einem Gesundheitswesen mehr Geld für Medikamente und Bürokratie ausgegeben wird als für Arztgehälter und -honorare, ist etwas faul.

(Beifall)

Wenn Ärztinnen und Ärzte über lange Jahre als Buhmänner dargestellt werden – politisch-strategisch heißt das „framing“, dem Gegner einen hässlichen Rahmen verpassen, an dem man ihn immer wieder durchs Dorf treiben kann –, dann braucht man sich über die Folgen nicht zu wundern: Die Jugend läuft weg und die älteren Jahrgänge steigen früher aus. Drei von vier Anträgen auf Ruhestand sind Anträge auf Vorruhestand, zumindest bei der Berliner Ärzteversorgung. Durchhalteparolen und Appelle sind da wenig hilfreich.

Ich bedanke mich bei der Ministerin und ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für das Gutachten des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung zur Situation der jungen Ärztinnen und Ärzte. Das Gutachten ist wichtig und richtig. Schon zwei Deutsche Ärztetage haben sich seit 1998 mit diesem Thema befasst und kamen zu ähnlichen Ergebnissen.

Vorher aufeinander zu hören, zuzuhören, zu denken und dann zu handeln – das wäre aus meiner Sicht ein erfolgversprechenderes politisches Prinzip, als den Ereignissen nachzulaufen.

(Beifall)

Die Kolleginnen und Kollegen draußen vor der Türe – es sind auch Funktionäre dabei, Frau Ministerin, und zwar deshalb, weil Funktionäre mit gutem Beispiel vorangehen müssen und deswegen zu Funktionären gewählt worden sind, damit sie funktionieren und Interessen vertreten; das sind keine Berufsdemonstranten – protestieren nicht einfach für ihre eigene Zukunft. Sie kämpfen für bessere Arbeitsbedingungen, die vor allem ihren Patienten zugute kommen. Fragen Sie doch einmal Ihren Nachbarn, wie ausgeruht und erfahren der Arzt sein soll, der ihn morgens früh um vier Uhr mit Verdacht auf Herzinfarkt in der Rettungsstelle aufnimmt. So einfach kann Patientenorientierung im Gesundheitswesen sein!

(Beifall)

Diese Kolleginnen und Kollegen erwarten unsere Solidarität. Sie haben einen Anspruch darauf. Überstunden müssen gegengezeichnet werden, auch in staatlich geführten Einrichtungen wie Universitätskliniken.

(Beifall)

Eine humane Patientenversorgung ist durch inhumane Arbeitsbedingungen nicht zu gewährleisten.

(Beifall)

Ein Gesundheitswesen mit Dumpinglöhnen für seine Leistungsträger ist weder konkurrenzfähig noch leistungsfähig.

(Beifall)

Wir sind in einem Teilbereich unserer Gesellschaft, in dem es Insiderwissen gibt: Das ist der Bereich des Gesundheitswesens. Wenn das Insiderwissen irgendwo ganz besonders groß ist, dann bei den Leistungsträgern in diesem System, nämlich bei den Ärzten.

Der Prozess, den wir momentan in unserem Gesundheitswesen erleben, ist übrigens ähnlich dem der Endzeit der Deutschen Demokratischen Republik. Auch damals wurden Beharrung und Alles-ist-gut-Parolen postuliert – und das Volk hat mit den Füßen abgestimmt. Es gab Montagsdemonstrationen und wer gehen konnte, konnte gehen. In diesem Sinne wiederholt sich die Geschichte der DDR derzeit im ärztlichen Bereich unseres Landes, der Bundesrepublik Deutschland.

(Beifall)

Lieber Jörg Hoppe, meine Damen und Herren, unser Gesundheitswesen regelt sich derzeit auf dem Weg des Marktes – das ist politisch so gewollt; das haben Sie bestellt, das bekommen Sie jetzt auch geliefert –,

(Beifall)

auf dem Weg von Angebot und Nachfrage, auf dem Weg der Ökonomisierung. Das ist auf der einen Seite erfreulich, sage ich ganz eigennützig: Patienten wird es immer geben, sogar verstärkt durch Alter und Multimorbidität, und Ärztinnen und Ärzte werden zunehmend gebraucht. Das darf aus eigennützigen Motiven durchaus optimistisch stimmen. Für mich ist am Ende des Tunnels ein bisschen Licht zu sehen.

Das Problem ist: Dieser Weg ist für das Gesamtsystem teuer und aufwendig, weil die Grundorientierung falsch ist:

Ökonomie zielt – bestenfalls – indirekt auf das Sozialwesen Mensch; sie kalkuliert die Menschen zwar ein, aber nur in Funktionen: als Größe in der Produktion, als Verbraucher, als Ware im Arbeitsmarkt. Unsere Kritik gilt der … totalen Ökonomisierung eines kurzatmigen Profit-Denkens. Denn dadurch geraten einzelne Menschen … aus dem Blick.

Dies könnte einer Rede des Präsidenten der Bundesärztekammer Jörg-Dietrich Hoppe entstammen oder einem Beschluss eines vergangenen Ärztetages. Stammt es aber nicht. Es stammt aus der Rede von Franz Müntefering, dem Vorsitzenden der SPD, im letzten Monat zur Kritik am Kapitalismus.

(Beifall)

Auch hier gilt: Wie sich die Erkenntnisse gleichen! Hätte man sich vielleicht zu einem früheren Zeitpunkt über Probleme unterhalten, hätte man vielleicht gemeinsame Lösungsansätze erhalten. Lernen wir doch bitte alle daraus. So erleben wir weiterhin das klassische, autoritär-administrative Verhalten, das Vorgaben macht und die Letztverantwortung gerne beim behandelnden Arzt belässt. Das „Schwarzer-Peter-Spiel“ in der Gesundheitspolitik wird zum „Schwarzer-Peter-Prinzip“ in der Versorgung. Den Letzten beißen die Hunde. Das wollen wir eigentlich nicht.

(Beifall)

Herr Präsident! Frau Ministerin! Sehr verehrte Damen und Herren! Wir haben auf dem anstehenden Ärztetag umfangreich Gelegenheit, zu vielen sehr wichtigen Themen zu diskutieren, zu beraten und zu beschließen. An einer Grundtatsache kommt niemand vorbei: Die wichtigste Person im Leben eines kranken Menschen ist der Arzt. Die Krankheit hat er, wie er sie hat, wenn er zum Arzt kommt, sein bio-psycho-soziales Umfeld ebenfalls, nur den Arzt kann er sich – noch – heraussuchen. Dieser ist die einzige Variable im Krankheitsgeschehen. Der Arzt ist die wichtigste Person im Gesundheitssystem; denn durch seine Entscheidungen werden knapp 80 Prozent aller finanziellen Mittel im Gesundheitswesen gesteuert. Wäre es nicht besser, darüber nachzudenken, was die Leistung des Arztes fördert, was ihn besser macht, anstatt ihm das Leben schwer zu machen?

(Beifall)

Wer kluge Schüler will, braucht gute Lehrer; wer gesunde und zufriedene Patienten haben will, braucht gute Ärzte. Prosaisch brachte es Eugen Roth auf den Punkt:

Behandle drum den Doktor gut, damit er euch desgleichen tut.

(Beifall)

Liebe Frau Ministerin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch wenn es nicht immer leicht ist: Seien Sie nett zu Ihren Ärztinnen und Ärzten, sonst werden Sie sie eines Tages sehr vermissen.

Herzlichen Dank.

(Lebhafter Beifall)

Ich darf nun Herrn Staatssekretär Dr. Schulte-Sasse von der Senatsverwaltung für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz bitten, uns im Namen des Landes Berlin und des Senats zu begrüßen.


© 2005, Bundesärztekammer.