Estrel Festival Center,
Berlin
(Musikalische Einleitung:
Georg Friedrich Händel: Die Königin von Saba,
Astor Piazzolla: Contrabajeando, Mike Curtis: Freylacher Bulgar; Berliner
Saxophon Ensemble)
Dr. Günther Jonitz, Präsident der Ärztekammer Berlin:
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich darf Sie ganz herzlich zur
Eröffnungsveranstaltung des 108. Deutschen Ärztetages in Berlin begrüßen. Ich
freue mich, dass Sie so zahlreich gekommen sind. Ich freue mich auch, dass
trotz der Tatsache, dass keine Sitzungswoche ist, auch zahlreiche hochrangige
Vertreter aus dem Deutschen Bundestag heute hier sind. Ich begrüße primär als
Vertreter des Senats von Berlin Herrn Dr. Hermann Schulte-Sasse, Staatssekretär
für Gesundheit und Verbraucherschutz. Lieber Hermann, schön, dass du hier bist.
(Beifall)
Ich darf in doppelter Funktion, nämlich als Vertreterin der
SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag als auch als Bundesministerin für
Gesundheit und Soziale Sicherung, Frau Ulla Schmidt herzlich willkommen heißen.
(Beifall)
Ich darf die gesundheitspolitische Sprecherin der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen, Frau Birgitt Bender, begrüßen.
(Beifall)
Ich begrüße sehr herzlich Frau Annette Widmann-Mauz, die
gesundheitspolitische Sprecherin der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und Mitglied
des Bundestagsausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung.
(Beifall)
Ebenso begrüße ich den Bundestagsabgeordneten und ärztlichen
Kollegen Dr. Hans Georg Faust.
(Beifall)
Für die FDP ist der gesundheitspolitische Sprecher der
FDP-Bundestagsfraktion, Herr Dr. Dieter Thomae, anwesend.
(Beifall)
Ich freue mich, dass Sie hier sind. Vor allen Dingen müssen
wir heute Vormittag das tun, was wir als Ärzte bei unseren Patienten auch tun,
nämlich zuhören. Dazu besteht reichlich Gelegenheit.
Ich begrüße den Staatssekretär im Thüringischen Ministerium
für Soziales, Familie und Gesundheit, Herrn Stephan Illert.
(Beifall)
Ich begrüße herzlich den Ehrenpräsidenten der
Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages, Herrn Professor Dr. Dr. h. c.
Karsten Vilmar.
(Beifall)
Ich begrüße die Ehrenpräsidentin des 108. Deutschen
Ärztetages, Frau Dr. Rita Kielhorn-Haas.
(Beifall)
Mit großer Freude begrüße ich – sozusagen als Dauerbrenner –
Herrn Professor Dr. Dr. h. c. Jörg-Dietrich Hoppe, den Präsidenten der
Bundesärztekammer. Lieber Jörg, du bist gut in Form; wir freuen uns richtig auf
die nächsten Tage.
(Beifall)
Ich begrüße das Ehrenmitglied des Vorstands der
Bundesärztekammer, Herrn Professor Dr. Hans-Joachim Sewering.
(Beifall)
Ich begrüße Frau Dr. Waltraud Diekhaus, die Generalsekretärin
des Weltärztinnenbundes.
(Beifall)
Ich begrüße den frisch ins Amt gewählten Vorstand der
Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Herrn Dr. Andreas Köhler und Herrn Ulrich Weigeldt.
(Beifall)
Die Spitze der Selbstverwaltungsgremien auf gesetzlicher
Grundlage wird repräsentiert durch Herrn Dr. Rainer Hess, den Vorsitzenden des
Gemeinsamen Bundesausschusses. Herzlich willkommen!
(Beifall)
Von den Repräsentanten der Institutionen auf nationaler Basis
darf ich ganz herzlich Herrn Professor Dr. Encke, den Präsidenten der
Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften,
begrüßen. Herr Encke, die Zusammenarbeit macht Spaß; ich finde das richtig gut.
(Beifall)
Ich begrüße Herrn Dr. Oesingmann, den Vorsitzenden des
Bundesverbandes der Freien Berufe, und gratuliere ihm nachträglich zu seinem
halbrunden Geburtstag.
(Beifall)
Ich begrüße aus dem Ausland Herrn Dr. André Wynen, den
Generalsekretär emeritus des Weltärztebundes und Träger des Ehrenzeichens der
deutschen Ärzteschaft.
(Beifall)
Ebenfalls unter uns ist Frau Lisette Tiddens, die
Generalsekretärin des Ständigen Ausschusses der Europäischen Ärzte.
(Beifall)
Gesundheitspolitik wird mehr und mehr in Brüssel gemacht und
hoffentlich in Deutschland sachkundig umgesetzt. Umso mehr freut es mich, dass
Sie anwesend sind.
Herrn Dr. Otmar Kloiber, den neuen Generalsekretär des
Weltärztebundes, begrüße ich ausdrücklich herzlich.
(Beifall)
Lieber Otmar, gutes Gelingen!
Ich begrüße jetzt in toto die Vertreter zahlreicher anderer
ärztlicher und medizinischer Verbände. Ich habe gesehen, dass der Deutsche
Pflegerat vertreten ist, ebenso zahlreiche Krankenkassen, zumindest die
regionalen Krankenkassen. Über Ihre Anwesenheit freue ich mich sehr. Wir müssen
zusammenarbeiten. Das können wir lernen; zum Teil praktizieren wir es ja auch
schon.
(Beifall)
Ich begrüße die Kolleginnen und Kollegen, die als Gäste am
108. Deutschen Ärztetag teilnehmen, und ich begrüße alle Delegierten dieses
108. Deutschen Ärztetages. Ich heiße alle Freunde hier in diesem Saal, die man
im Laufe der berufspolitischen Arbeit kennen lernt, willkommen; es ist ja nicht
ständig nur Arbeit.
Wenn ich jemanden vergessen haben sollte, so sehen Sie mir das
bitte nach. Die Familie der Medizin ist groß. Jeder ist hier heute in gleichem
Maße herzlich willkommen.
(Beifall)
Sie wissen ja: Wo Berlin ist, ist vorn. 1989, beim letzten
Deutschen Ärztetag, der in Berlin stattgefunden hat, waren die Stadt und unser
Land noch geteilt. Wir waren das einzige Land der Welt mit einer gut
funktionierenden Stadtmauer. Wir alle sind froh, dass sie weg ist. Weder Ochs
noch Esel sollten den Lauf des Sozialismus aufhalten; das meinten zumindest die
damals Mächtigen.
Sie haben sich getäuscht, es ist anders gekommen. Wir erleben
es in Berlin tagtäglich, wie vormalige Grenzen nur noch in der Erinnerung
existieren und selbst getrennte Stadtteile inzwischen gemeinsam verwaltet
werden. Aus Altem wird Neues geschaffen. Das ist nicht immer ganz einfach, weil
Dinge zusammengebracht werden müssen, die nicht immer nacheinander gerufen
haben. Der Nachbarbezirk Friedrichshain-Kreuzberg, in dem die Ärztekammer
Berlin ihren Sitz hat, kennt diese Probleme relativ genau.
Dies ist der erste Ärztetag in Berlin nach dem Umzug der
Bundesregierung nach Berlin. Bundesärztekammer, Kassenärztliche
Bundesvereinigung und Deutsche Krankenhausgesellschaft sind im letzten Jahr
hierher gezogen. Berlin ist die Hauptstadt. Hier spielt die – politische –
Musik. Die ärztlichen Verbände sind bereits hier. Andere, wie die großen
Krankenkassen, der Gemeinsame Bundesausschuss und das Institut für Qualität und
Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, werden folgen.
Herzlich willkommen in Berlin! Es ist schön, dass Sie da sind.
Für die, die sich in Berlin bereits eingelebt haben, sage ich: Sehn se, so
schön is Berlin! Für diejenigen, die noch etwas brauchen, um den Charme der
Großstadt und seiner wunderschönen Umgebung zu entdecken, sage ich: Keine
Panik, Sie werden es schon schaffen. Sie werden sich auch hier wohl fühlen.
Berlin ist eine sehr große Stadt; das wird oft unterschätzt.
Sie hat knapp 3,5 Millionen Einwohner. Damit ist sie fast so groß wie
Neuseeland mit 3,9 Millionen Einwohnern oder Uruguay mit 3,4 Millionen
Einwohnern. Sie ist beinahe halb so groß wie die Schweiz mit 7,4 Millionen und
Österreich mit 8,1 Millionen Einwohnern. Sich dies gelegentlich in Erinnerung
zu rufen, erleichtert den Umgang mit den Problemen und den Herausforderungen,
denen sich diese Stadt und wir alle uns gegenübersehen.
Berlin hat viel zu bieten. Eine der bemerkenswertesten
Einrichtungen in Berlin ist die Einrichtung, in der Sie sich gerade aufhalten.
Das Hotel Estrel steht im Guinessbuch der Rekorde: Es ist der größte Hotel-,
Entertainment- und Conventionkomplex Europas und sicherlich der einzige, der
mitten im wahren Leben gelegen ist.
(Heiterkeit)
– Der Nordosten von Neukölln ist ein Sozialstandort. Alle
Probleme, die wir hier in Neukölln haben, erleben die allermeisten von uns
jeden Tag in Klinik oder Praxis. Das sind Erlebnisse, die sich in der Regel
nicht in offiziellen Gutachten oder Stellungnahmen niederschlagen; aber sie
sind die Realität. Wichtig ist aufm Platz.
Alle großen Parteien haben hier Parteitage abgehalten, Bambis
und Echo-Preise wurden hier verliehen, „Wetten, dass …?“ und andere Medien- und
Messeveranstaltungen wurden und werden hier abgehalten. Was früher in Westberlin
„jwd“ war, „janz weit draußen“, ist jetzt, wenn Sie auf den Stadtplan schauen,
doch ziemlich zentral. Für das Estrel gilt, was für vieles in Berlin gilt: Wenn
man erst mal da ist, ist es auch schön!
(Heiterkeit)
Auch die musikalische Begleitung stammt aus dieser Stadt. Ich
freue mich, dass es gelungen ist, das Berliner Saxophon Ensemble für die
musikalische Umrahmung zu gewinnen. Ich darf Ihnen die vier Künstler
vorstellen: Anne Voigt – Baritonsaxophon und Basssaxophon, Norbert Nagel –
Sopransaxophon und Klarinette, Alexander Darashkevich – Altsaxophon, Bettina
Matt – Tenorsaxophon.
(Beifall)
So flott kann es in Berlin zugehen. Berlin ist eine
musikalische Stadt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Albert Einstein hat
einmal gesagt: Die Probleme, die es in der Welt gibt, können nicht mit den
gleichen Methoden gelöst werden, die sie erzeugt haben. Welche Probleme haben
wir denn? Das erste Problem ist: Die Medizin ist besser geworden. Meine
Großmutter väterlicherseits starb Mitte der 70er-Jahre an den Folgen einer
Schenkelhalsfraktur. Sie war damals weit über 80 Jahre alt. Die
Schenkelhalsfraktur war Mitte der 70er-Jahre genauso wenig behandelbar wie
1902, als Rudolf Virchow ebenfalls an den Folgen einer Schenkelhalsfraktur
starb. Die Mutter meiner Mutter starb 1968 an den Komplikationen des Diabetes
mellitus, der Zuckerkrankheit, und zwar nach relativ kurzem Krankheitsverlauf.
Krankheit war Schicksal, Krankheit war wenig behandelbar, vor allem im Alter.
Machen wir uns doch bitte für einen Augenblick klar, wie
ungeheuer leistungsfähig unsere Medizin geworden ist. Hüftgelenksnahe Brüche zu
operieren ist gähnende Routine geworden, Narkosen bei alten Menschen gehören in
allen deutschen Krankenhäusern zum Alltag. Gegen die Komplikationen der Zuckerkrankheit
haben wir ein ganzes Arsenal an Möglichkeiten, bis hin zur Insulinpumpe, zu
Transplantationen der Bauchspeicheldrüse und minimalinvasiven Verfahren bei
Gefäßkomplikationen.
Diese Leistungsfähigkeit ist so sehr zur Routine geworden,
dass man nicht mehr darüber nachdenkt. Über Selbstverständlichkeiten gibt es
keine Gutachten. Es ist mir trotz vielfältiger Bemühungen nicht gelungen,
irgendeine Einrichtung zu finden, die bereits einmal eine solche Erfolgsbilanz
erstellt hat. Vielleicht findet sich in diesem Raum jemand, der darüber
nachdenkt und versucht, eine Erfolgsbilanz aufzustellen.
Das zweite Problem ist: Unsere Patienten sind älter geworden,
sie sind kränker geworden. Das Durchschnittsalter steigt, im Krankenhaus wie in
der Praxis. Wer je mit einem über Achtzigjährigen versucht hat, mehrere
Untersuchungstermine an einem Tag im Krankenhaus abzuspulen, weiß um die
Belastungen für den kranken Menschen.
Chronische Krankheiten und Multimorbidität prägen unseren
Alltag. Sie machen unsere Arbeit anspruchsvoller. Das ist, um mit den Worten
des Regierenden Bürgermeisters von Berlin zu sprechen, auch gut so. Es ist der
Preis des Fortschritts. Hätten wir diesen Fortschritt nicht, wäre der Preis,
früher zu sterben. Das ist obsolet.
Schließlich sind unsere
Patienten auch anspruchsvoller geworden. Selbstverständlich möchten Junge wie
Alte an den Segnungen der Medizin teilhaben: von der Früherkennung und dem
Gesundbleiben durch mehr oder weniger sinnvolle Verfahren auf der einen Seite
bis zur Hoffnung auf Heilung selbst bei unheilbaren Leiden auf der anderen
Seite. Der Erwartungsdruck wächst.
Dieses Phänomen wird als
die Fortschrittsfalle der Medizin bezeichnet: Je erfolgreicher die Medizin ist,
umso mehr Kranke haben wir. Denn immer öfter gelingt es der Medizin, kranke
Menschen länger am Leben zu erhalten; man denke an die Erfolge bei
Stoffwechselkrankheiten, bei Tumorerkrankungen oder bei Aids.
Parallel dazu sinken die
Möglichkeiten, diese Erwartungen zu erfüllen. Liebe Frau Ministerin, das ist
kein Lamento, sondern ich versuche, das zu vermitteln, was man als Arzt
beispielsweise gegenüber einem Hochrisikopatienten tut: Man muss ihm sagen,
welche Risiken und Nebenwirkungen sein Verhalten haben wird, wenn er
weitermacht wie bisher. Das gilt genauso für die Politik. Allerdings ist es so:
Wenn im ärztlichen Alltag etwas schief geht, ist der einzelne Patient
betroffen; wenn in der Gesundheitspolitik etwas aus dem Gleis gerät, haben wir
alle die Probleme.
(Beifall)
Nach über 20 Jahren Sparpolitik sehen wir die Spuren
mittlerweile überall. Es wird eng, ambulant wie stationär. Die
Leistungsfähigkeit sinkt und die Unzufriedenheit wächst. Trotz aller Anstrengungen
der Menschen vor Ort erodiert die Grundlage unseres Gemeinwesens. Mit jedem
Arbeitslosen in Deutschland mehr wird ein Mensch eher krank und entgehen den
Krankenkassen wichtige Beiträge. Arbeitslosigkeit ist nach wie vor das
Gesundheitsrisiko Nummer eins in Deutschland. Arbeitslosigkeit macht krank.
Auch dies ist seit den Jahren von Rudolf Virchow unverändert. Wir werden auf
diesem Deutschen Ärztetag im Rahmen des Tagesordnungspunktes IV „Krankheit und
Armut“ ausführlicher darüber diskutieren können.
Liebe Frau Ministerin, liebe politisch und ökonomisch
Verantwortliche in diesem Land: Wir reden viel von Prävention. Das ist nicht
nur als politisches Thema wichtig, sondern auch weil man selbst betroffen ist.
Ich habe lieber keine Krankheiten und tue etwas dafür, dass ich sie nicht
bekomme, als vorhandene Krankheiten zu behandeln. Wenn man die Volksgesundheit
nachhaltig stärken und Krankheiten verhindern möchte, wenn man die
Beitragssätze spürbar senken und dennoch mehr Geld ins System geben möchte,
damit die Leistungsfähigkeit gestärkt wird, muss man drei Dinge tun:
Arbeitsplätze schaffen, Arbeitsplätze schaffen, Arbeitsplätze schaffen.
(Beifall)
Wer keine Arbeit hat, hat keine Lebensgrundlage und hat keine
Lebensperspektive. Der reagiert entsprechend darauf. Die Folgen liegen auf der
Hand: Eine Fülle von Herz-Kreislauf- und auch von Lungenkrankheiten haben diese
Ursache.
Dies gilt natürlich auch und vor allem für diejenigen, die
„Arbeitgeber“ heißen, aber sehr oft „Arbeit-Nehmer“ geworden sind. Es tut mir
Leid, aber ich muss es hier loswerden – es ist vielleicht nicht ganz der
richtige Platz –: Mich stört das höchst einseitige Lamento zahlreicher
Arbeitgebervertreter außerordentlich.
Lieber Arbeitgeberpräsident Hundt, Art. 14 Abs. 2 des
Grundgesetzes lautet:
Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem
Wohle der Allgemeinheit dienen.
In Matthäus 7 Vers 5 heißt es:
Du Heuchler, zieh am ersten den Balken aus deinem Auge;
darnach siehe zu, wie du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehest.
(Beifall)
Wer keine Orientierung hat, kann sich durchaus zwischendurch
bei Grundgesetz und Bergpredigt orientieren. Das Prinzip der sozialen
Verantwortung in dieser Gesellschaft gilt nicht nur für die sozial tätigen
Berufsgruppen. Es gilt ganz besonders für die unternehmerisch Verantwortlichen
in diesem Land. Und wenn man es befolgt, zahlt es sich auch aus.
(Beifall)
Lieber Jörg Hoppe, meine
Damen und Herren, was hat sich in den letzten Jahren nicht verändert – die
Medizin hat sich verändert, die Patienten haben sich verändert, die
Rahmenbedingungen haben sich verschlechtert –, was ist gleich geblieben?
Beispielsweise das Grundprinzip auch unseres Gesundheitswesens, das Fließband:
Einer macht die Gesetze, ein anderer zieht das Geld ein und verteilt, der
Dritte gibt es aus und der Vierte, der Patient, erhält dafür Leistungen. Alle
arbeiten nacheinander. Jeder hat seine eigenen Ziele: Die Politik will
gegenüber dem Wähler gut dastehen und Kosten niedrig halten, die Kassen möchten
gerne ihre Beitragssätze geringer halten als die konkurrierende Kasse und
freuen sich über den Risikostrukturausgleich, Ärztinnen und Ärzte möchten gute
Medizin machen und dabei fair behandelt werden und die Patienten möchten gerne,
wenn sie in Not sind, sofort und umfassend auf dem besten Niveau versorgt
werden.
Was am Ende dabei herauskommt, medizinisch wie ökonomisch,
wissen wir eigentlich nicht. Es gibt kein Lernen am Ergebnis. Hauptsache, es
geschieht etwas und die Kosten laufen nicht aus dem Ruder. Das ist menschlich,
das ist nachvollziehbar. Aber die Summe des Eigennutzes der Beteiligten
summiert sich nicht zum Gesamtnutzen des Systems, sondern zum Gesamtschaden.
„Schwarzer Peter“ heißt das Spiel und wir, die wir die Patientinnen und Patienten
aus dem Alltag kennen, wissen das zur Genüge.
Dieses Spiel hilft nicht. Die unterschiedlichen und zum Teil
auch widerstrebenden Interessen der Beteiligten im Gesundheitswesen erzeugen
enorme Reibungsverluste. Das kostet eine Riesenstange Geld. Niemand hat dafür
Verständnis, schon gar nicht die Bürgerinnen und Bürger im Lande. Sie erwarten,
dass wir in irgendeiner Art und Weise konstruktiv zusammenarbeiten. Und, offen
gestanden, liebe Kolleginnen und Kollegen: Spaß macht es eigentlich auch nicht,
rhetorisch aufeinander rumzudreschen. Es ist schön, sich in der Debatte
zwischendurch zu raufen, aber in der Sacharbeit möge man sich um ein höheres
Maß an Konsens kümmern, als es in der Vergangenheit – aus unterschiedlichen
Gründen – möglich war. Sich gegenseitig das Leben schwer zu machen, dient
niemandem, schon gar nicht der Versorgung.
(Beifall)
Die Folgen dieser steinzeitlichen Politik sind uns allen
bekannt. Die Schere zwischen Anspruch und Wirklichkeit wird jeden Tag größer.
Es wird immer schwerer, gute Medizin zu machen. Es wird für die Patienten immer
schwerer, eine gute und angemessene Behandlung zu bekommen. Die Kosten sinken
nicht.
Wenn in einem Gesundheitswesen mehr Geld für Medikamente und
Bürokratie ausgegeben wird als für Arztgehälter und -honorare, ist etwas faul.
(Beifall)
Wenn Ärztinnen und Ärzte über lange Jahre als Buhmänner
dargestellt werden – politisch-strategisch heißt das „framing“, dem Gegner
einen hässlichen Rahmen verpassen, an dem man ihn immer wieder durchs Dorf
treiben kann –, dann braucht man sich über die Folgen nicht zu wundern: Die
Jugend läuft weg und die älteren Jahrgänge steigen früher aus. Drei von vier
Anträgen auf Ruhestand sind Anträge auf Vorruhestand, zumindest bei der
Berliner Ärzteversorgung. Durchhalteparolen und Appelle sind da wenig
hilfreich.
Ich bedanke mich bei der Ministerin und ihren Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern für das Gutachten des Bundesministeriums für Gesundheit und
Soziale Sicherung zur Situation der jungen Ärztinnen und Ärzte. Das Gutachten
ist wichtig und richtig. Schon zwei Deutsche Ärztetage haben sich seit 1998 mit
diesem Thema befasst und kamen zu ähnlichen Ergebnissen.
Vorher aufeinander zu hören, zuzuhören, zu denken und dann zu
handeln – das wäre aus meiner Sicht ein erfolgversprechenderes politisches
Prinzip, als den Ereignissen nachzulaufen.
(Beifall)
Die Kolleginnen und
Kollegen draußen vor der Türe – es sind auch Funktionäre dabei, Frau
Ministerin, und zwar deshalb, weil Funktionäre mit gutem Beispiel vorangehen
müssen und deswegen zu Funktionären gewählt worden sind, damit sie funktionieren
und Interessen vertreten; das sind keine Berufsdemonstranten –
protestieren nicht einfach für ihre eigene Zukunft. Sie kämpfen für bessere Arbeitsbedingungen,
die vor allem ihren Patienten zugute kommen. Fragen Sie doch einmal Ihren
Nachbarn, wie ausgeruht und erfahren der Arzt sein soll, der ihn morgens früh
um vier Uhr mit Verdacht auf Herzinfarkt in der Rettungsstelle aufnimmt. So
einfach kann Patientenorientierung im Gesundheitswesen sein!
(Beifall)
Diese Kolleginnen und Kollegen erwarten unsere Solidarität.
Sie haben einen Anspruch darauf. Überstunden müssen gegengezeichnet werden,
auch in staatlich geführten Einrichtungen wie Universitätskliniken.
(Beifall)
Eine humane Patientenversorgung ist durch inhumane
Arbeitsbedingungen nicht zu gewährleisten.
(Beifall)
Ein Gesundheitswesen mit Dumpinglöhnen für seine
Leistungsträger ist weder konkurrenzfähig noch leistungsfähig.
(Beifall)
Wir sind in einem Teilbereich unserer Gesellschaft, in dem es
Insiderwissen gibt: Das ist der Bereich des Gesundheitswesens. Wenn das
Insiderwissen irgendwo ganz besonders groß ist, dann bei den Leistungsträgern
in diesem System, nämlich bei den Ärzten.
Der Prozess, den wir momentan in unserem Gesundheitswesen
erleben, ist übrigens ähnlich dem der Endzeit der Deutschen Demokratischen
Republik. Auch damals wurden Beharrung und Alles-ist-gut-Parolen postuliert –
und das Volk hat mit den Füßen abgestimmt. Es gab Montagsdemonstrationen und
wer gehen konnte, konnte gehen. In diesem Sinne wiederholt sich die Geschichte
der DDR derzeit im ärztlichen Bereich unseres Landes, der Bundesrepublik
Deutschland.
(Beifall)
Lieber Jörg Hoppe, meine Damen und Herren, unser
Gesundheitswesen regelt sich derzeit auf dem Weg des Marktes – das ist
politisch so gewollt; das haben Sie bestellt, das bekommen Sie jetzt auch
geliefert –,
(Beifall)
auf dem Weg von Angebot und Nachfrage, auf dem Weg der
Ökonomisierung. Das ist auf der einen Seite erfreulich, sage ich ganz
eigennützig: Patienten wird es immer geben, sogar verstärkt durch Alter und
Multimorbidität, und Ärztinnen und Ärzte werden zunehmend gebraucht. Das darf
aus eigennützigen Motiven durchaus optimistisch stimmen. Für mich ist am Ende
des Tunnels ein bisschen Licht zu sehen.
Das Problem ist: Dieser Weg ist für das Gesamtsystem teuer und
aufwendig, weil die Grundorientierung falsch ist:
Ökonomie zielt – bestenfalls – indirekt auf das Sozialwesen
Mensch; sie kalkuliert die Menschen zwar ein, aber nur in Funktionen: als Größe
in der Produktion, als Verbraucher, als Ware im Arbeitsmarkt. Unsere Kritik
gilt der … totalen Ökonomisierung eines kurzatmigen Profit-Denkens. Denn
dadurch geraten einzelne Menschen … aus dem Blick.
Dies könnte einer Rede des Präsidenten der Bundesärztekammer
Jörg-Dietrich Hoppe entstammen oder einem Beschluss eines vergangenen Ärztetages.
Stammt es aber nicht. Es stammt aus der Rede von Franz Müntefering, dem
Vorsitzenden der SPD, im letzten Monat zur Kritik am Kapitalismus.
(Beifall)
Auch hier gilt: Wie sich die Erkenntnisse gleichen! Hätte man
sich vielleicht zu einem früheren Zeitpunkt über Probleme unterhalten, hätte
man vielleicht gemeinsame Lösungsansätze erhalten. Lernen wir doch bitte alle
daraus. So erleben wir weiterhin das klassische, autoritär-administrative
Verhalten, das Vorgaben macht und die Letztverantwortung gerne beim
behandelnden Arzt belässt. Das „Schwarzer-Peter-Spiel“ in der
Gesundheitspolitik wird zum „Schwarzer-Peter-Prinzip“ in der Versorgung. Den
Letzten beißen die Hunde. Das wollen wir eigentlich nicht.
(Beifall)
Herr Präsident! Frau Ministerin! Sehr verehrte Damen und
Herren! Wir haben auf dem anstehenden Ärztetag umfangreich Gelegenheit, zu
vielen sehr wichtigen Themen zu diskutieren, zu beraten und zu beschließen. An
einer Grundtatsache kommt niemand vorbei: Die wichtigste Person im Leben eines
kranken Menschen ist der Arzt. Die Krankheit hat er, wie er sie hat, wenn er
zum Arzt kommt, sein bio-psycho-soziales Umfeld ebenfalls, nur den Arzt kann er
sich – noch – heraussuchen. Dieser ist die einzige Variable im
Krankheitsgeschehen. Der Arzt ist die wichtigste Person im Gesundheitssystem;
denn durch seine Entscheidungen werden knapp 80 Prozent aller finanziellen
Mittel im Gesundheitswesen gesteuert. Wäre es nicht besser, darüber
nachzudenken, was die Leistung des Arztes fördert, was ihn besser macht, anstatt
ihm das Leben schwer zu machen?
(Beifall)
Wer kluge Schüler will,
braucht gute Lehrer; wer gesunde und zufriedene Patienten haben will, braucht
gute Ärzte. Prosaisch brachte es Eugen Roth auf den Punkt:
Behandle drum den Doktor gut, damit er euch desgleichen
tut.
(Beifall)
Liebe Frau Ministerin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Auch wenn es nicht immer leicht ist: Seien Sie nett zu Ihren Ärztinnen und
Ärzten, sonst werden Sie sie eines Tages sehr vermissen.
Herzlichen Dank.
(Lebhafter Beifall)
Ich darf nun Herrn Staatssekretär Dr. Schulte-Sasse von der
Senatsverwaltung für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz bitten, uns im
Namen des Landes Berlin und des Senats zu begrüßen.
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