Eröffnungsveranstaltung

1. Tag: Dienstag, 3. Mai 2005

Dr. Hermann Schulte-Sasse, Staatssekretär für Gesundheit und Verbraucherschutz, Berlin:
Sehr geehrte Frau Ministerin! Sehr geehrter Herr Professor Hoppe! Sehr geehrter Herr Dr. Jonitz, lieber Günther! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Namen des Senats von Berlin heiße ich Sie zum 108. Deutschen Ärztetag herzlich willkommen und übermittle Ihnen zugleich die besten Grüße des Regierenden Bürgermeisters von Berlin und der Gesundheitssenatorin. Lieber Günther, du hast zu Beginn deiner Rede ein überzeugendes Potpourri von wunderbaren, ab und zu auch wunderlichen Beschreibungen unserer Stadt vorgetragen. Ich habe das gar nicht vorgesehen, aber das fand ich so gelungen, dass ich deine Rede, von der ich ja weiß, dass sie verteilt ist, zukünftig als Steinbruch für noch kommende Grußworte nutzen werde.

Meine Damen und Herren, als parlamentarische Vertretung von über 350 000 Mitgliedern stellt sich der Deutsche Ärztetag in guter Tradition nun schon seit 132 Jahren den jeweils aktuellen Fragen und Problemen der ärztlichen Profession. Immer wieder gehörten dazu auch gesundheitspolitische Themen, das Verhältnis der Ärzte zu den Krankenkassen, Fragen der Weiterbildung oder berufsrechtliche Fragen.

So auch in diesem Jahr: Mit Themenbereichen und Fragestellungen zur Arbeitssituation der niedergelassenen Ärzte, zur Versorgungsforschung, zu Krankheit und Armut, zum ärztlichen Fehlermanagement und zur Patientensicherheit sowie zur Gebührenordnung für Ärzte und zur (Muster-)Weiter­bildungsordnung haben Sie die Probleme auf Ihre Tagesordnung gesetzt, die Ihnen und auch uns, den Gesundheitspolitikern, derzeit besonders am Herzen liegen.

Dabei stimme ich mit Ihnen darin überein, dass auf all diesen Gebieten Veränderungen erforderlich sind. Dass hierbei die enge Zusammenarbeit der Politik mit Ihnen, den ärztlichen Fachleuten, unerlässlich ist, brauche ich wohl nicht besonders zu betonen. Insofern ist es erfreulich, wenn – beispielsweise im Hinblick auf die Arbeitssituation der niedergelassenen Ärzte – die Bundesärztekammer zunächst einmal eigene Strukturvorstellungen zur Freiberuflichkeit des ärztlichen Berufsstandes berät, da die schlechter werdenden Arbeitsbedingungen – niemand wird das bestreiten können – schon jetzt in den neuen Bundesländern zu einem Mangel an ärztlichem Nachwuchs führen.

Auch wenn in Berlin aufgrund der noch vorhandenen Überversorgung ein solcher Mangel in absehbarer Zeit nicht anzunehmen ist, kann auf einigen speziellen Gebieten auch hier durchaus ein besonderer, nicht zu deckender Bedarf auftreten.

Begrüßenswert finde ich auch, dass der Deutsche Ärztetag mehrfach bekräftigt hat, sich am Aufbau einer wissenschaftlichen Versorgungsforschung zu beteiligen. Hierbei sollte es das oberste Ziel sein, konkrete Lösungen aufzuzeigen, um die Patientenversorgung wirklich zu verbessern.

Der von der Bundesärztekammer gegründete Arbeitskreis „Versorgungsforschung“ ist dabei sicher ebenso hilfreich wie das im Auftrag der Bundesärztekammer vom Ärztlichen Zentrum für Qualität initiierte Projekt „Forum Versorgungsauftrag“.

In Berlin ist in diesem Zusammenhang – unter dem Dach des Berliner Zentrums Public Health – der interdisziplinäre Forschungsverbund „Epidemiologie Berlin“ gebildet worden.

Meine Damen und Herren, zu begrüßen ist auch, dass der Ärztetag die Auswirkungen der zunehmenden Ökonomisierung im Gesundheitswesen auf sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen thematisieren und die Ergebnisse des im Jahre 2003 abgeschlossenen Forschungsprojektes der European Science Foundation zum Thema „Soziale Ungerechtigkeit und Krankheit“ diskutieren will. Denn mit der generellen Anhebung der Zuzahlungen, mit der Einführung der Praxisgebühr, mit der Änderung der Härtefallregelungen, mit den höheren Eigenbeteiligungen sowie mit den Leistungsausgrenzungen und -kürzungen belasten neue Vorgaben in erster Linie die Versicherten, insbesondere die Kranken und sozial Schwachen.

Der vom Zentralinstitut für die Kassenärztliche Versorgung berichtete Rückgang der Fallzahlen – im Jahre 2004 bundesweit immerhin um 8,7 Prozent – sowie der Arztkontakte – um 2,9 Prozent – ist vor diesem Hintergrund genauer zu untersuchen. Der Vergleich dieser Zahlen für die zwölf Berliner Bezirke lässt jedenfalls den Schluss zu, dass es in den Sozialräumen mit der ungünstigsten Bevölkerungsstruktur und den größten gesundheitlichen Problemen zu den stärksten Rückgängen gekommen ist.

(Vereinzelt Beifall)

Meine Damen und Herren, zu den wichtigsten Aufgaben des ärztlichen Qualitätsmanagements gehört es, Strategien zu entwickeln, die Fehler vermeiden helfen. Wir alle wissen: Das komplexe System der modernen medizinischen Versorgung ist ohne Risiken für die Patienten überhaupt nicht denkbar. Fehlervorbeugung ist deshalb für die Patientinnen und Patienten von großer Bedeutung. Die Leistungserbringer im Gesundheitswesen, die Krankenhäuser und auch die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte, müssen alles Mögliche tun, um vermeidbare Fehler – ich wiederhole: vermeidbare Fehler – zu verhindern und Schäden von ihren Patientinnen und Patienten abzuwenden. Dafür ist es unumgänglich, auch in Deutschland verlässliche Daten über die Häufigkeit und die Ursachen von Fehlern zu erarbeiten, da Fehler nur so verhindert werden können. Voraussetzung dafür ist aber vor allem, offen über Fehler sprechen zu können und diese vorurteilsfrei zu analysieren. Wir wissen, dass wir heute noch in einer Kultur leben, in der man ungern scheinbar selber zu verantwortende Fehler thematisieren möchte, da dies immer auf der persönlichen Schuldzuweisungsebene verbleibt und die dahinterstehenden organisatorische und systembedingte Fehler begünstigenden Probleme dabei aus den Augen verloren werden.

Ich weiß, dass die Ärzteschaft kontinuierlich daran arbeitet, und ich begrüße es sehr, dass auf dem Ärztetag Aktivitäten auf diesem Gebiet vorgestellt werden. Ich kann gerade an dieser Stelle sagen, dass dies ein gutes Beispiel für eine zielorientierte, vernünftige Kooperation zwischen allen Ebenen – damit meine ich die Politik wie die Vertretungsorgane der Ärzteschaft und die der Kostenträger – ist. Wir in Berlin sind gemeinsam auf einem in der Fehlervermeidungsstrategie sehr vernünftigen Weg. Damit haben wir auch die Chance, dass wir dieses Thema in der Öffentlichkeit nicht auf der Schuldzuweisungsebene diskutieren, sondern der Öffentlichkeit deutlich bewusst machen, was möglich ist und wie es möglich ist. Dies wollen wir in Kooperation und in gegenseitigem Respekt gemeinsam schaffen.

Gestatten Sie mir, meine Damen und Herren, noch eine Bemerkung zur Gebührenordnung für Ärzte. Die Notwendigkeit, die Gebührenordnung für Ärzte – aber natürlich auch diejenige für die Zahnärzte – zu novellieren, ist längst erkannt. Ich erinnere mich, dass ich in der Zeit, als ich selber im Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung gearbeitet habe – das ist ja auch schon einige Jahre her –, mit diesem Thema schon intensiv befasst war. In den letzten Jahren hat sich dort wenig bewegt. Das vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung für die Reform des privatärztlichen Gebührenrechts favorisierte Vorschlagsmodell sieht im Kern vor, dass ein paritätisch mit Vertretern der Ärzteschaft auf der einen und Vertretern der Kostenträger auf der anderen Seite besetztes Gremium den gesetzlichen Auftrag erhält, einen gemeinsamen Vorschlag für die Weiterentwicklung der GOÄ zu erarbeiten, der dann die Grundlage für das anschließende Rechtsverordnungsverfahren bilden soll.

Ich glaube, uns ist allen klar, dass für die erfolgreiche Umsetzung des Vorschlagsmodells dessen Akzeptanz bei allen Beteiligten sowie deren Bereitschaft zur konstruktiven Mitwirkung von unverzichtbarer Bedeutung ist.

Leider ist bisher noch keine Einigung mit den für das Beihilferecht zuständigen Ministern des Bundes und der Länder über Status und Zusammensetzung der Verhandlungskommission des Vorschlagsmodells erzielt worden. Ich hoffe, dass dies ohne weitere Zeitverzögerung geschehen wird.

Meine Damen und Herren, ich wünsche Ihnen für Ihre viertägige Tagung viel Erfolg bei der Abarbeitung Ihrer anspruchsvollen Themenliste. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie anstrengend es auf Deutschen Ärztetagen für einen Delegierten zugehen kann. Ich wünsche Ihnen deshalb, ganz besonders natürlich unseren auswärtigen Gästen, aus ganzem Herzen einen angenehmen Aufenthalt in unserer Stadt, natürlich gekoppelt mit einem ausgesprochen produktiven Deutschen Ärztetag.

Ich wünsche uns allen, dass wir nie aus dem Auge verlieren, dass wir, die Politik, die Fachebene – Sie – brauchen, aber auch Sie die Politik brauchen. Wir werden natürlich eine vernünftige politische Gestaltung im Gesundheitswesen in Deutschland nur ins Auge fassen können, wenn es nicht zu unnötigen und vermeidbaren Schärfen kommt, wenn keine Seite der anderen Ignoranz und Bösartigkeit oder Böswilligkeit unterstellt und wenn jede Seite die Bereitschaft hat, zu erkennen, dass die jeweils andere Perspektive möglicherweise Aspekte beinhaltet und beinhalten muss, die, von der eigenen Seite her betrachtet, nicht unmittelbar zu erkennen sind.

Wenn es uns gelingt, auf diesem Fundament eine vernünftige Diskussions- und Streitkultur zu entwickeln, sollte es uns gemeinsam gelingen, das spezifisch deutsche Modell der geteilten Verantwortung zwischen Politik und Selbstverwaltung nicht in eine zerstörerische Politik zu rücken, sondern anderen Ländern in Europa zu sagen: So wie die Deutschen es bei der Steuerungsverantwortung machen, ist es vorteilhaft; andere europäische Länder sollten dem deutschen Modell folgen. Wir alle müssen gemeinsam an dieser Perspektive arbeiten.

(Beifall)

(Musikalische Umrahmung:
Gabriel Pierné - Chanson d’Autrefois)


© 2005, Bundesärztekammer.