Präsident Prof. Dr. Dr. h. c. Hoppe:
Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich darf mich
bei Ihnen, Frau Ministerin, bei Ihnen, Herr Staatssekretär, und bei dir, lieber
Günther Jonitz, für die Ausführungen bedanken. Ich werde hierauf in meiner Rede
eingehen. Die Schnittmengen sind so groß, was die Themen und die Behandlung der
Themen angeht, dass ich das jeweils an der Stelle tun werde, wo es angebracht
ist.
Sehr verehrte Frau
Ministerin! Meine Damen und Herren Abgeordneten! Herr Staatssekretär! Meine
sehr verehrten Damen! Meine Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir waren
schon in einer Kirche, in einer Werft, in Konzertsälen und Opernhäusern, in
einem historischen Rathaus und in Berlin zuletzt 1989 im damals noch die
Teilung Deutschlands symbolisierenden Reichstag. Heute sind wir hier.
(Heiterkeit)
Wir sind wieder in Berlin, dem neuen Sitz der
Bundesärztekammer. So außergewöhnlich diese Stadt ist, so ungewöhnlich ist auch
der Ort der Eröffnungsveranstaltung. Sind gestern Abend an dieser Stelle noch
Imitatoren aufgetreten, so erleben Sie heute nur Originale
(Heiterkeit – Beifall)
– auch wenn wir im Gesundheitswesen sicher mehr als genug
Imitatoren finden würden. Bei manch einer gesundheitspolitischen Veranstaltung
fühle ich mich ohnehin eher an den Titel der hiesigen Show erinnert: Stars in
Concert.
Gute Unterhaltung kann ich Ihnen aber leider nicht
versprechen. Dazu sind wir ja auch nicht wirklich zusammengekommen. Unser Thema
sind Patientinnen und Patienten, ihre Bedürfnisse, ihre Erwartungen und die
Behandlungsmöglichkeiten. Deshalb beschäftigen wir uns als Vertreter der
Ärztinnen und Ärzte in Deutschland auch auf diesem Ärztetag mit der Ethik
unseres Berufes, mit der Qualität der medizinischen Versorgung und vor allem
mit der Zukunft in unserem Gesundheitswesen.
Die Herausforderungen, vor denen wir in einer Gesellschaft des
langen Lebens – Frau Ministerin, Sie haben diesen Terminus übernommen; darüber
freue ich mich – stehen, sind in der Tat gigantisch. Wie wollen wir in einer
sozial entwurzelten Gesellschaft, bei der zunehmenden Vereinzelung – hier in
Berlin leben 60 Prozent der Bevölkerung in Einzelhaushalten – und mit der
Entsolidarisierung der Menschen, in Zukunft noch eine ausreichende Betreuung
und Behandlung sicherstellen? Was wird diese Gesellschaft, was werden die
vielen allein stehenden älteren Menschen von uns Ärztinnen und Ärzten erwarten
und was werden wir tatsächlich leisten können? Die Medizin allein, meine Damen
und Herren, wird die gesellschaftlichen Probleme nicht lösen können.
Einige Beispiele mögen das erhellen. In Deutschland sind etwa
4 Millionen Menschen wegen akuter Depression in Behandlung. Die
Weltgesundheitsorganisation spricht sogar davon, dass Depressionen sich
weltweit zur häufigsten Krankheit entwickeln. Wohl schon der nächste Ärztetag
wird sich intensiv mit der Dimension psychiatrischer Erkrankungen insgesamt und
deren Entstigmatisierung in der Gesellschaft befassen.
Oder werfen wir einen Blick auf die Entwicklung von
Demenzerkrankungen: Bis zum Jahre 2040 rechnen Experten allein in Deutschland
mit einer Gesamtzahl von 2,2 Millionen Menschen, die an Demenz leiden. Vieles
kann heute früh erkannt werden, aber nicht alles ist heilbar.
Meine Damen und Herren, es wird erkennbar, dass wir angesichts
dieser Dimensionen wohl mit den herkömmlichen gesundheitspolitischen Ansätzen
nicht weiterkommen werden. Gleichwohl bleibt die gesundheitliche Versorgung unserer
Bevölkerung eine öffentliche Aufgabe; so will es unser Grundgesetz. Der Staat
darf deshalb aus seiner Pflicht zur Daseinsvorsorge nicht entlassen werden.
(Beifall)
Darüber hinaus wird es unausweichlich sein, auch die
Gesellschaft als solche stärker in die Verantwortung zu nehmen. Wir sollten
Barmherzigkeit nicht nur im Gesundheitswesen fordern, wir sollten unsere
Mitmenschen davon überzeugen, dass wir wieder mehr füreinander einstehen
müssen, auch bei den neuen gesellschaftlichen Strukturen.
Ich weiß, das sind hehre Worte. Aber als Ärztinnen und Ärzte –
und gerade als Ärztinnen und Ärzte in Deutschland – sind wir der Menschlichkeit
im Gesundheitswesen wie auch in der Gesellschaft besonders verpflichtet. Das
war nicht immer so.
Meine Damen und Herren, in wenigen Tagen gedenken wir des
Kriegsendes vor 60 Jahren. Das dunkelste Kapitel auch in der Geschichte der
deutschen Ärzteschaft hat damals sein Ende gefunden. Denn Ärzte haben in der
Zeit des Nationalsozialismus Tod und unvorstellbares Leid herbeigeführt,
angeordnet oder gnadenlos verwaltet. Warum gerade Ärzte, die doch in besonderer
Weise dem menschlichen Leben verpflichtet sind, zu solchen Taten fähig waren,
habe ich bis heute nicht begreifen können. Aber ich empfinde Scham, tiefe Scham
über das, was Ärzte Menschen im Nationalsozialismus angetan haben. Ich habe
deshalb bei der Gedenkveranstaltung für die ermordeten und vertriebenen
jüdischen Ärzte in Berlin im November des Jahres 2004 im Namen der gesamten
deutschen Ärzteschaft um Verzeihung gebeten.
Und wir haben auch die Initiative der Kassenärztlichen
Vereinigung Berlin für ein Projekt zur Erforschung des Schicksals jüdischer
Ärzte in der Zeit des Nationalsozialismus nachhaltig unterstützt.
(Beifall)
Vor dem Saal können Sie übrigens Auslagen finden, in denen
diese Initiative dargestellt wird. Man kann sie auch weiterhin finanziell
unterstützen.
Wir haben angefangen, meine Damen und Herren, diesen Teil der
Geschichte für uns aufzuarbeiten – nicht direkt nach Kriegsende und sicher auch
noch nicht abschließend. Aber wir haben uns auf den Weg gemacht und halten uns
an die mahnenden Worte von Altbundespräsident Richard von Weizsäcker: „Wer vor
der Vergangenheit die Augen verschließt, der wird blind für die Gegenwart.“
Meine Damen und Herren, in den vergangenen Jahrzehnten hat die
Medizin Quantensprünge gemacht. Das ist schon erwähnt worden. Sie alle kennen
den auch schon genannten Begriff der Fortschrittsfalle, der bedeutet, dass der
medizinische Fortschritt durch seine Erfolge eine immer größere Behandlungsnachfrage
hervorruft. Wenn die finanziellen Mittel der Krankenkassen allerdings wegen der
wirtschaftlichen Lage nicht mehr ausreichen, den Fortschritt für alle zu
bezahlen, dann haben wir das Problem der Rationierung. Aber diskutieren wir
dieses Problem wirklich offen und ehrlich? Ich glaube, nur in Bezug auf individuelle
Rationierung. Da diskutieren wir es offen und ehrlich, wie Sie es gerade gesagt
haben, Frau Ministerin. Die individuelle Rationierung ist in Deutschland kein
Thema. Aber es gibt ja noch mehr.
Ärztinnen und Ärzte, die
tagtäglich kranke Menschen behandeln, erleben das ganz anders. Sie müssen an
der Seite von Patientinnen und Patienten um einzelne Leistungen kämpfen, denn
schon lange kann nicht mehr jeder so behandelt werden, wie es nach den Regeln
der ärztlichen Kunst eigentlich geboten wäre.
(Beifall)
Und wie würde es erst aussehen, wenn Ärzte und Pflegekräfte
nicht durch persönliches Engagement und Millionen Überstunden nach wie vor das
System subventionieren würden?
(Beifall)
Rationierung ist ein häufiges Problem im ärztlichen und
pflegerischen Alltag und dieses Problem wird sich angesichts einer
durchschnittlichen Lebenserwartung von 87 bis 93 Jahren im Jahre 2050 noch
erheblich verschärfen.
Ich glaube auch nicht, dass die bisherigen Prinzipien der
Gesundheitspolitik hier wirklich hilfreich sind, und ich glaube auch nicht,
sehr verehrte Frau Ministerin, dass mit der jüngsten Gesundheitsreform ein –
wie Sie es bezeichnen; nicht heute, aber an anderen Stellen – „Kulturwandel im
Gesundheitswesen“ eingeleitet worden ist. Wohl aber erleben wir einen
Paradigmenwechsel der Steuerung unseres Gesundheitswesens.
(Beifall)
Die Behandlungsprozesse werden veradministriert, währenddessen
die flächendeckenden Versorgungsstrukturen marktwirtschaftlich – wie die
Ökonomen es zu sagen pflegen – „bereinigt“ werden; in Wahrheit aber verlieren
wir schlicht das Soziale in unserem Gesundheitswesen. Ich habe die Sorge, dass
das Gesundheitswesen eines Tages aus dem Sozialministerium in das Wirtschaftsministerium
wandert.
(Beifall)
Wir erleben eine weitere Bürokratisierung des ärztlichen
Alltags und eine Konzentration der Versorgungslandschaft. Gleichzeitig sollen
Patientinnen und Patienten zu Verbrauchern und wir Ärztinnen und Ärzte zu
Dienstleistungserbringern umdefiniert werden. Es ist psychologisch wichtig, das
zu erkennen.
Das, meine Damen und Herren, ist nicht der Kulturwandel, auf
den wir gehofft hatten!
(Beifall)
Dabei waren durchaus einige
der Ideen, die dem GKV-Modernisierungsgesetz zugrunde lagen, vielversprechend –
so die Stärkung der Prävention, die Förderung der Integrierten Versorgung und
auch die Erprobung neuer Hausarztmodelle. Auch sind wir sicher einig in der
außerordentlichen Bedeutung der Qualitätssicherung, wie man es heute nennt. Das
hat es auch früher schon gegeben; es hieß nur nicht so.
(Beifall)
Aber ich habe manchmal das
Gefühl, dass wir Ärzte da gar nicht mehr wirklich gefragt sind, dass es nicht
mehr um die erfolgreiche Behandlung des einzelnen Patienten geht, sondern nur
noch um die effizienzsteigernde gesundheitsökonomische Steuerung – natürlich in
abstrakter Verantwortung, meine Damen und Herren.
(Beifall)
Wir Ärztinnen und Ärzte stehen in der täglichen Praxis dann
vor den ganz konkreten Folgen dieser Entwicklung, nämlich der Rationierung in
ihren vielfältigen Erscheinungsformen. Und nun sagen Sie mal einem kranken
Menschen, dass er nicht alles das bekommen kann, was medizinisch sinnvoll ist.
Da kann man sich dann nicht hinstellen und sagen: Ihre Behandlung ist Teil der
Effizienzreserven, die wir jetzt heben müssen. Das geht so nicht.
Meine Damen und Herren, was ich verdeutlichen möchte: Die
statistische Rationierung ist gleichsam das verborgene Prinzip, mit dem die
Beitragssatzstabilität erkauft worden ist.
(Beifall)
Im ärztlichen Alltag aber lässt sich Rationierung nicht mehr
verbergen. Da stehen die Ärztin und der Arzt ganz allein in ihrer
Erklärungsnot; andere Verantwortliche sind dann weit und breit nicht mehr zu
finden. So kann das nicht bleiben!
(Beifall)
Was die Medizin in einer Gesellschaft des langen Lebens
leisten kann und soll, müssen wir – da nehme ich den Ball auf – offen
diskutieren und dann auch in gemeinsamer Verantwortung tragen und nicht am
Krankenbett austragen.
(Beifall)
Eine solche offene und transparente Diskussion führen wir
derzeit zu den Fragen der Selbstbestimmung am Ende des menschlichen Lebens. Das
Schicksal der amerikanischen Wachkomapatientin Terri Schiavo hat die Debatte um
die rechtliche Anerkennung von Patientenverfügungen auch hier in Deutschland
neu angestoßen.
Zwar sind bei uns Patientenverfügungen prinzipiell bindend.
Was aber geschieht, wenn sie der konkreten Behandlungssituation nicht
entsprechen oder aber wenn sie schon viele Jahre alt sind? Wenn der Arzt in
einer solchen Situation den mutmaßlichen Willen des Patienten ermitteln muss,
dann kann er dies nur anhand der Gesamtumstände tun, wie religiöser Überzeugung
und allgemeiner Lebenseinstellung, und vor allen Dingen muss das Gespräch mit
den Angehörigen geführt werden.
Das alles ist höchst individuell und nicht normierbar und
deshalb wird es eine abschließende, in jedem Einzelfall gültige gesetzliche
Regelung zu diesem Thema wohl kaum geben können.
(Beifall)
Meine Damen und Herren, ich zitiere:
Aufgabe des Arztes ist es, unter Beachtung des Selbstbestimmungsrechtes
des Patienten Leben zu erhalten, Gesundheit zu schützen und wieder herzustellen
sowie Leiden zu lindern und Sterbenden bis zum Tod beizustehen.
Das ist unser ethisches Bekenntnis in den Grundsätzen der
Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung. Die ärztliche Verpflichtung
zur Erhaltung des Lebens besteht zwar nicht unter allen Umständen, insbesondere
dann, wenn sonst angemessene Diagnostik und Therapie nicht mehr angezeigt und
Begrenzungen geboten sind. Dann muss die palliativmedizinische Versorgung in
den Vordergrund treten.
Niemals aber gehört es zum Arztberuf, den Tod herbeizuführen.
Wir wollen den Tod zulassen, wenn die Zeit da ist, wir wollen ihn aber nicht
zuteilen.
(Beifall)
Die Diskussion über den ärztlich assistierten Suizid flammt
auch in Deutschland immer wieder auf. Es sind die Angst vor der
Lebensverlängerung um jeden Preis, vor allem aber die Unwissenheit über die
palliativmedizinischen Behandlungsmöglichkeiten, die diese Diskussionen immer
wieder anheizen. Aber wohin führen denn die vermeintlich liberalen Regelungen
bei unseren europäischen Nachbarn? Ich denke daran, wie Dr. Wynen vor wenigen
Ärztetagen aufgestanden ist und geschildert hat, was in seinem Land geschehen
ist. Er hat uns gesagt, dass er sich für das schämt, was in Belgien passiert.
Aus Belgien hören wir jetzt, dass Ärzte seit Mitte April dieses Jahres so
genannte „Medikamentensets zur aktiven Sterbehilfe“ in Apotheken erwerben
können. Das macht mir Angst. Denn dort droht etwas zur Selbstverständlichkeit
zu werden, das zunächst nur als absolute Ausnahme gedacht war – wie auch im
Nachbarland Holland –, die Euthanasie.
Ich bin deswegen sehr froh, dass in Deutschland bis auf einige
wenige niemand am Strafrechtsparagraphen 216 rütteln will, der die Tötung auf
Verlangen verbietet. Für uns Ärztinnen und Ärzte wird auch in Zukunft die
Maxime gelten: Die Patientin und der Patient haben das Recht auf einen würdigen
Tod, aber niemand hat das Recht, getötet zu werden.
(Beifall)
Meine Damen und Herren, der Glaube an die unbegrenzten
Möglichkeiten der Medizin wird erschüttert, wenn man die tatsächliche Bedeutung
der Lebenssituation eines Menschen für dessen Gesundheitszustand erkennt.
Soziale Schichtzugehörigkeit, Wohn- und Umweltbedingungen stehen in sehr engem
Zusammenhang mit Gesundheit und Gesundheitsverhalten. Unser Vorstandsmitglied
Rudolf Henke wird uns in diese Thematik einführen.
Untersuchungen, die der renommierte Medizinsoziologe Professor
Siegrist dem Deutschen Ärztetag erläutern wird, zeigen, dass Gesundheitsrisiken
und Krankheiten in einkommensschwachen Bevölkerungsgruppen stärker verbreitet
sind, als manch einer das bisher vermutet hat. Betroffen sind vor allem Arbeitslose,
Menschen ohne Schulabschluss, allein erziehende Mütter und die Gruppe der bis
15-Jährigen. Vor allem so genannte „chronisch materielle und sozial ungleiche
Belastungen“ scheinen die wesentlichen Risiken zu sein.
Was besonders betroffen macht, ist das Gesundheitsverhalten
sozial benachteiligter Jugendlicher, bei denen schon sehr früh der Grundstein
für riskante Verhaltensweisen wie Rauchen, Alkoholkonsum und Fehlernährung
gelegt wird. Mit einem weiteren Ausbau der medizinischen Versorgung allein
lösen wir dieses Problem nicht. Vielmehr müssen wir Präventionsprogramme entwickeln,
die auf die jeweilige Lebenswirklichkeit der Menschen zugeschnitten sind.
Beispielhaft – ich bedanke mich dafür, Frau Ministerin, dass
Sie das hier genannt haben – darf ich hier das Projekt zur Gesundheitsförderung
in der Grundschule nennen und etwas ausführlicher beschreiben. Bereits seit
vielen Jahren engagiert sich die Ärztekammer Nordrhein, namentlich Frau Sabine
Schindler und mein Vizepräsident Arnold Schüller, systematisch dafür, jungen
Schülern und ihren Eltern das Thema Gesundheit und Gesundheitsvorsorge näher zu
bringen. Dieses Projekt unter dem Namen „Gesund macht Schule“ läuft inzwischen
in einer sehr guten Kooperation mit der AOK Rheinland. Das Themenspektrum
reicht von „Bewegung und Entspannung“, „Essen und Ernährung“ über „Sexualerziehung“
bis hin zu „Suchtprävention“. Gemeinsam konnten wir erreichen, dass heute
bereits nahezu 200 Grundschulen im Rheinland an dem Projekt teilnehmen. Diese
große Resonanz zeigt: Die Schule ist der richtige Ort, um neben dem Elternhaus
die Grundlagen für gesundheitsbewusstes Verhalten zu legen. Sicher ist es
sinnvoll, auch für Schüler aus höheren Jahrgangsstufen ein vergleichbares
Angebot zu schaffen. Das ist die Richtung, in die weiter gearbeitet werden
muss. Insofern begrüßen wir grundsätzlich auch das Ziel des
Präventionsgesetzes, Gesundheitsförderung und Prävention zu stärken. Wir finden
es allerdings bedauerlich, verehrte Frau Ministerin, dass wir Ärzte entgegen
Ihrer Meinung sowohl bei der Gestaltung als auch bei der praktischen
Durchführung aus unserer Sicht ungenügend einbezogen worden sind.
(Beifall)
Wir wissen, dass weitere Stufen folgen werden. Wir hoffen,
dass dabei ein bisschen mehr auf diese Fragestellung Rücksicht genommen werden
wird.
Wir bieten Ihnen an, die in den Ärztekammern gesammelten
Erfahrungen mit Modellprojekten einzubringen und konzeptionell an der
Definition der Präventionsziele mitzuarbeiten. Lassen Sie uns gemeinsam dafür
Sorge tragen, dass wir in der Prävention zwar um den richtigen Weg, nicht aber
um die Umverteilung der Mittel streiten!
(Vereinzelt Beifall)
Wie schön wäre es gewesen, wenn wir auch bei den Disease-Management-Programmen
ausschließlich die Behandlungsziele diskutieren müssten und nicht vor allem die
Umverteilung über den Risikostrukturausgleich der Krankenkassen!
(Beifall)
Meine Damen und Herren, hier komme ich zu einem Thema, das
wirklich die Tiefe des Frustes beinhaltet, den es in der Ärzteschaft gibt. Hier
geht es nicht um Geld, Hierarchien und Arbeitszeit, sondern hier geht es um die
Patientenbetreuung im eigentlichen Sinne. Am Beispiel der Disease-Management-Programme
lässt sich sehr gut zeigen, warum wir von einem Paradigmenwechsel zu einer
semi-staatlichen Administrierung von Behandlungsprozessen sprechen. Denn diese
gesundheitspolitisch verordneten Programme sind etwas gänzlich anderes als die
ursprünglich von Ärztinnen und Ärzten entwickelten evidenzbasierten Leitlinien,
die ja nur als Behandlungskorridor, nicht aber als Behandlungsvorschrift dienen
sollten. Die neuen Disease-Management-Programme gewinnen aber mehr und mehr den
Charakter von Checklisten zur Versorgung großer Bevölkerungsgruppen. Patienten
werden so eben zu statistischen Größen.
Und so wird dann auch im Gesundheitswesen – besser gesagt: im
Krankenversicherungswesen – munter mit der Geldquelle DMP-Patient gerechnet. Da
wird zwischen den Krankenkassen gefeilscht, verschoben und auch verfälscht. Da
werden Patienten in Programme gedrängt, die dieser Versorgung überhaupt nicht
bedürfen.
(Beifall)
Das Motto im Verwaltungspoker der Krankenkassen heißt „Masse
statt Klasse“ – mit Wettbewerb um Qualität hat das dann nichts mehr zu
tun.
(Beifall)
Überdies, verehrte Frau Ministerin, sollten wir alle immer
wieder darüber nachdenken, ob wir nicht mit der Koppelung Disease-Management-Programme/Risikostrukturausgleich
und auch mit dem Projekt Morbiditäts-Risikostrukturausgleich eine staatlich
induzierte und durch die Selbstverwaltung administrierte Morbiditätsproduktion
betreiben, das heißt, ob wir nicht letztlich erst durch diese unselige
Koppelung unsere Bevölkerung weitgehend zu Kranken machen.
(Beifall)
Auf wen das dann zurückfällt, ist schon jetzt klar: auf uns
Ärztinnen und Ärzte, wobei ich, liebe Kolleginnen und Kollegen, schon jetzt den
Gutachtentext vor Augen sehe, der dann abgeliefert werden wird: Deutschland hat
die kränkeste Bevölkerung der Welt, weil die medizinischen Leistungen aus
Über-, Unter- und Fehlversorgung bestehen!
(Beifall)
Unsere Kritik an den Disease-Management-Programmen hierzulande
kann auch keineswegs nur als eine Nörgelei aus der Ärzteschaft abgetan werden;
führende Vertreter der Krankenkassen selbst üben an dieser Fehlsteuerung
heftigste Kritik, auch und gerade weil diese Programme und ihre Verwaltung
jegliche Evaluation der Versorgungsergebnisse schlichtweg unmöglich machen. Das
ist eigentlich gesetzlich vorgeschrieben. Das geht aber überhaupt nicht. Man
wird nie sagen können, ob ein Programm erfolgreich war, ob es den Leuten besser
geht oder ob es ihnen besser ginge, wenn es dieses Programm nicht gäbe. Das ist
nicht evaluierbar. Das ist ein unerträglicher Zustand.
(Beifall)
Gleichzeitig explodiert die Bürokratie. Der GKV-Schätzerkreis
geht für das Jahr 2005 von sage und schreibe 340 Millionen Euro
Verwaltungskosten allein für die Verwaltung des Disease-Management-Programms
Diabetes aus – Geld wohlgemerkt, das für Verwaltung und Datenerfassung
verbraucht wird und nicht für die Patientinnen und Patienten zur Verfügung
steht.
(Beifall)
Die Krankenkassen sollten ursprünglich in einen Wettbewerb um
die beste Behandlung chronisch Kranker treten. Als Anreiz waren die Prämien aus
dem Risikostrukturausgleich gedacht. Aber die bloße Implementierung des Wettbewerbsgedankens,
meine Damen und Herren, kann offensichtlich weder Qualität sichern noch
generell die Kosten senken, wie man hieran sieht.
Wir sollten uns besser wieder daran erinnern, was eine
erfolgreiche ärztliche, medizinische und pflegerische Behandlung ausmacht:
Vertrauen, Individualität und Professionalität.
(Beifall)
Hier, meine Damen und Herren, liegt die Zukunft unseres
Gesundheitswesens und nicht in einer weiter ausufernden Verbürokratisierung der
Medizin!
Während die Behandlungsabläufe also veradministriert werden,
sind die Versorgungsstrukturen mittlerweile sukzessiv immer mehr dem freien
Wettbewerb unterworfen. Das neue System der Krankenhausfinanzierung – auch eine
Ursache der völligen mentalen Umstellung von Ärztinnen und Ärzten im Krankenhaus
– über diagnosebezogene Fallpauschalen hat einen radikalen Umbruch im
Kliniksektor eingeleitet und unsere bisherige Philosophie in der Krankenhausversorgung
in ihr Gegenteil verkehrt. Bisher war jeder in ein Krankenhaus aufgenommene
Patient willkommen und umfassend medizinisch betreut – so lange, bis er sich im
Alltag wieder selbst helfen konnte. So viel Mildtätigkeit kann sich heute kein
Krankenhaus mehr leisten. Die Patienten werden nunmehr einer Fallpauschale
zugeordnet und dann entsprechend dieser Diagnose schnellstmöglich behandelt.
Das aber birgt unzweifelhaft die Gefahr einer Risikoselektion nach
Marktgesetzen.
Nicht mehr der Patient, sondern der Erlös aus der Behandlung
des Patienten steht im Mittelpunkt. Krankenhäuser, die sich nicht schnell genug
den neuen Wettbewerbsstrukturen anpassen, werden untergehen oder übernommen.
Wie sehr der Profitgedanke im Krankenhaussektor bereits Platz
gegriffen hat, zeigen die gerade in jüngster Zeit rasch fortschreitenden
Übernahmen durch private profitorientierte Konzerne. Ist das nicht, meine Damen
und Herren, der wirkliche Stoff für eine Kapitalismusdebatte?
(Beifall)
Wenn selbst das Kartellamt bei diesen Konzentrationsprozessen
schon Bedenken anmeldet, ist es nicht nur für uns, sondern vor allem für die
Politik allerhöchste Zeit, darüber nachzudenken, wie wir den medizinischen
Fortschritt einer alternden Gesellschaft noch flächendeckend sicherstellen
wollen.
„Krankenhaus-Monopoly“ hat zu Recht die „Süddeutsche Zeitung“
diesen Konzentrationsprozess beschrieben. Zahlreiche Kliniken befinden sich
mittlerweile in einer existenzbedrohenden finanziellen Lage. Über die Hälfte
ist bereits verschuldet; 21 Prozent der Krankenhäuser sind sogar schon im so
genannten roten Bereich, das heißt, sie haben Schwierigkeiten bei der
Kreditaufnahme. Experten schätzen, dass sich die Zahl der Krankenhäuser allein
bis 2010 um 300 verringert haben wird. Von flächendeckender Versorgung nach dem
Feuerwehrprinzip kann dann sicher keine Rede mehr sein.
Und was bedeutet dieser Kampf um Marktanteile für die Qualität
der Versorgung? Risikoselektion, meine Damen und Herren, schlicht Ausgrenzung
nicht profitabler Krankheiten und damit auch der dazugehörigen Kranken!
Denn schon jetzt drängen Krankenhausverwaltungen darauf,
Kranke, für die lediglich defizitäre Fallpauschalen zur Verfügung stehen,
woandershin – meistens in Schwerpunktkrankenhäuser – zu verlegen.
Die Verantwortung für die Menschen, die als Verlierer dieses
neuen Systems dastehen, möchte keiner der großen Strategen übernehmen. Der
Staat hat zwar den Sicherstellungsauftrag für den stationären Sektor, aber
wieder sind es wir Ärztinnen und Ärzte, die diese strukturelle Rationierung
gegenüber dem einzelnen Patienten verantworten sollen.
Mit der Diskussion um den Basisfallwert, also die Messgröße
für durchschnittliche Behandlungskosten für Krankenhauspatienten, ist nun die
nächste Runde eingeläutet. Einzelne Landes-Basisfallwerte sind, wie
beispielsweise in Nordrhein-Westfalen, so niedrig angesetzt, dass die
Krankenhäuser unter Wert abrechnen müssten.
(Vereinzelt Beifall)
Und dann wird auch noch jede Verkürzung der Verweildauer in
den Kliniken als Ausdruck von gestiegener Wirtschaftlichkeit gepriesen; dabei
wird völlig ausgeblendet, dass – abgesehen von den Patienten – diese
Reduktionen zu weiterer erheblicher Arbeitsverdichtung führen.
Wie solche Krankenhäuser dann auch noch Ressourcen freisetzen
sollen für die Weiterbildung der Ärztinnen und Ärzte, also die Spezialisierung,
ist mehr als fraglich. Dabei ist doch jede Investition in die Weiterbildung
eine Investition in die Qualität der künftigen Versorgung.
(Beifall)
Wer also an dieser Stelle spart, der spart an der Zukunft!
Schon jetzt haben wir erhebliche Probleme, die ärztliche
Versorgung in Teilen des Landes sicherzustellen. Das ist in allen Reden, die
heute hier gehalten wurden, angesprochen worden. Ein Gutachten im Auftrag des
Bundesgesundheitsministeriums hat die Gründe für den Studienabbruch und auch
die Bedenken junger Ärztinnen und Ärzte gegen die Berufsausübung an Patienten
untersucht. Ich glaube, das Ergebnis hat die meisten nicht überrascht. Es
bestätigt die von der Bundesärztekammer und auch von anderen seit geraumer Zeit
vorgetragenen Gründe zum Ärztemangel, eben die enorme Arbeitsüberlastung,
geringe Aufstiegschancen, mangelnde Anerkennung, Unvereinbarkeit von Familie
und Beruf, eine überbordende Bürokratie und nicht zuletzt eine völlig unzureichende
Bezahlung.
(Beifall)
Wen wundert es da, dass nur noch 16,4 Prozent der Ärztinnen
und Ärzte jünger sind als 35 Jahre – ein dramatischer Einbruch im Vergleich zum
Anfang der 90er-Jahre, als noch fast ein Drittel zu dieser Altersklasse
gehörte.
Es gibt eben für gut ausgebildete junge Medizinerinnen und
Mediziner eine Vielzahl von Alternativen zur kurativen Medizin. Unter der
Überschrift „Die Vertreibung aus dem Paradies“ berichtete das „Handelsblatt“
vom Fall eines Kölner Krankenhausarztes, der seinen Arztkittel an den Nagel hängte,
auf einen Schlag sein Gehalt verdoppelte und obendrein die Arbeitszeit
halbierte, weil er in das Controlling derselben Klinik gewechselt war. Die
Autorin des Beitrags hat es richtig erkannt:
Der Schritt lohnt finanziell und in puncto Lebensqualität
– Verwaltungsarbeit wird eben besser bezahlt als das Heilen von Menschen.
Das, meine Damen und Herren, ist die Realität in unserem
Gesundheitswesen, über die wir, Frau Ministerin, diskutieren müssen!
(Lebhafter Beifall)
Verehrte Frau Ministerin, wir alle haben heute Morgen vor
Beginn der Veranstaltung unsere Kolleginnen und Kollegen vor der Tür gesehen,
die gegen eine weitere Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen protestiert
haben. Ich hoffe, wir sind einer Meinung, dass der knallharte Sparkurs der Länder
die Medizinstudenten und die jungen Ärztinnen und Ärzte nicht noch weiter
abschrecken darf!
(Beifall)
Denn ich weiß wirklich nicht, wie wir den Nachwuchs für die
Patientinnen und Patienten zurückgewinnen wollen, wenn nun zahlreiche
Kolleginnen und Kollegen an unseren Unikliniken auch noch die Streichung des
Urlaubsgeldes, die Kürzung des Weihnachtsgeldes und Arbeitszeitverlängerungen
gleichzeitig zu gewärtigen haben.
(Beifall)
Auch unsere niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte hätten allen
Grund, eine vergleichbare Protestaktion auf die Beine zu stellen.
(Beifall)
Ihre Unzufriedenheit mit der beruflichen Situation ist sicher
nicht geringer als unter den Klinikern. Auch hier leiden die Ärztinnen und
Ärzte unter zum Teil unzumutbaren Arbeitszeiten und sind stark verunsichert
hinsichtlich ihrer beruflichen Zukunft. Gerade die niedergelassenen
Fachärztinnen und Fachärzte sind mehr als nur irritiert, wenn die Politik nun
die so genannte doppelte Facharztschiene kassieren will. Die Akzeptanz unseres
Gesundheitswesen hat bisher vor allem auch darin bestanden, dass jede und jeder
jederzeit wohnortnah fachärztlich versorgt werden konnte. Wartelisten wie in
England und Holland hat es bei uns bisher noch nicht gegeben – ein Gütezeichen
des ehemaligen deutschen Gesundheitswesens!
(Beifall)
Dieses Niveau zu halten war über lange Zeit politischer
Konsens und damit natürlich auch die berufliche Perspektive für die
Niederlassung. Das alles ist jetzt nachhaltig infrage gestellt und verunsichert
natürlich auch die jungen Kolleginnen und Kollegen. Sie werden es sich doch
zweimal überlegen, ob sie sich jetzt noch niederlassen. Die unkalkulierbaren
Berufsaussichten werden also nicht nur bei den Hausärztinnen und Hausärzten,
sondern auch bei den Fachärztinnen und Fachärzten in absehbarer Zeit zu
gravierenden Engpässen in der Versorgung führen.
Wer wird dann aufstehen, meine Damen und Herren, und dafür die
Verantwortung tragen? So still, wie es jetzt in diesem Raum ist, wird es auch
dann sein.
(Beifall)
Ich bin Franz Gadomski
außerordentlich dankbar, dass er das Thema „Arbeitssituation der
niedergelassenen Ärzte“ für den Ärztetag so gründlich vorbereitet hat.
Was steht den niederlassungswilligen Kolleginnen und Kollegen
noch alles bevor? Die Krankenhäuser werden wohl noch weiter als bisher für die
ambulante Versorgung geöffnet, die Bürokratieschraube wird weiter angezogen und
die Therapiefreiheit wird weiter zurückgedreht. Wer glaubt denn allen Ernstes,
dass man damit Ärztinnen und Ärzte motivieren könnte? Das Ganze, meine Damen
und Herren, nimmt sich eher aus wie eine Berufseinstiegs-Verhinderungsprogrammatik.
(Beifall)
Da nützt es nichts, wenn wir aufgefordert werden, nachdem wir
jahrelang durch Skandalisierungen an den Rand der Glaubwürdigkeit gebracht
worden sind, in Sachen Ärztemangel mal selbst etwas zu tun und den Arztberuf
wieder schönzureden. Das geht nicht, schönreden geht nicht, der Arztberuf muss
schön sein!
(Beifall)
Man kann aber nicht mal so eben den Ärztemangel abstellen. Wir
können auch nicht unentwegt Ärztinnen und Ärzte aus den östlichen
Nachbarländern abziehen. Das ist ethisch gegenüber den Menschen dort nicht
vertretbar.
(Beifall)
Das alles ist eine langjährige Entwicklung, die auch stark vom
Grad der Anerkennung für den Arztberuf abhängt.
Wenn wir von einem Kulturwandel im Gesundheitswesen reden
wollen, meine Damen und Herren, dann ist er hier, genau hier, angebracht.
Stärken Sie gerade den jungen Kolleginnen und Kollegen den Rücken und geben Sie
ihnen endlich die Anerkennung, die sie verdienen und die ihnen gebührt!
(Beifall)
Hinzu kommt eine völlig unbefriedigende Rechtssituation
ärztlicher Tätigkeit. Von den Ärztinnen und Ärzten erwartet man, dass sie
Patienten nach dem neuesten Stand der modernen Medizin behandeln. Das wirft
angesichts begrenzter Ressourcen die sattsam bekannten Probleme im Bereich der
gesetzlichen Krankenversicherung auf. Sozialrecht und Haftungsrecht driften
immer weiter auseinander, wir Ärztinnen und Ärzte bleiben auf dem Risiko
sitzen.
(Vereinzelt Beifall)
Veranlasst der Arzt eine aufwendige Diagnostik, wird
hinterfragt, ob das auch wirklich notwendig und zweckmäßig im Sinne des
Sozialgesetzbuchs war. Kommt es zu einer Arzthaftpflichtauseinandersetzung,
interessiert das plötzlich überhaupt nicht mehr. Dann geht es nur noch darum,
ob die Behandlung nach dem neuesten Stand der medizinischen Erkenntnisse
durchgeführt wurde.
(Beifall)
Geradezu katastrophal sieht es mit der Rechtssicherheit für
Ärztinnen und Ärzte und Patientinnen und Patienten bei der privatärztlichen
Abrechnung aus. Die Gebührenordnung für Ärzte, immerhin eine Rechtsverordnung
des Staates, müsste doch allein schon aus Verbraucherschutzgründen eindeutige
und klare Regelungen umfassen. Wir brauchen deshalb ein für alle
Versorgungsbereiche durchgängiges und auch dynamisches Vergütungssystem mit
einem offenen Leistungsverzeichnis, das zum aktuellen Zeitpunkt immer den Stand
der modernen Medizin abbilden kann.
Wir begrüßen natürlich alle die enormen Fortschritte der
Medizin. Aber die gleichen Politiker und andere, die die Innovations- und Leistungsfähigkeit
des deutschen Gesundheitswesens beschwören, verharren in Untätigkeit, wenn es
darum geht, eine desolate, zum Teil 27 Jahre alte Gebührenordnung den heutigen
Erfordernissen anzupassen.
(Beifall)
Da, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,
liegen doch die Ursachen für die Anwendungsschwierigkeiten,
Fehlinterpretationen und Rechtsstreitigkeiten. Hier nicht tätig zu werden,
heißt, eine Kriminalisierung von Ärztinnen und Ärzten billigend in Kauf zu
nehmen. Das muss aufhören – und zwar sofort.
(Beifall)
Wie viele so genannte Abrechnungsskandale und zum Teil auch
gezielte Diffamierungen hätten wir den Ärztinnen und Ärzten ersparen können,
wenn die permanente Reformblockade auch der Länder nicht zu so viel
Rechtsunsicherheit geführt hätte.
Mittlerweile kann man aber auch den Eindruck gewinnen, dass
selbst die Bundesregierung, verehrte Frau Ministerin, die notwendige GOÄ-Reform
aussitzen möchte – bis eine nächste Gesundheitsreform diese vielleicht
überflüssig macht? Ich hoffe, mein Eindruck täuscht.
Erlauben Sie mir in diesem Zusammenhang noch ein Wort zum GOÄ-Ostabschlag.
Dieser Abschlag von 10 Prozent in den neuen Bundesländern und – ich sage es
ganz bewusst so – Ostberlin ist durch nichts mehr zu rechtfertigen.
(Beifall)
15 Jahre nach der Wiedervereinigung sollte endlich auch für
Ärztinnen und Ärzte – ganz so wie bei den Rechtsanwälten, Architekten und
anderen Freiberuflern – eine Angleichung der Vergütung an das Westniveau
erfolgen.
(Beifall)
Wir können doch nicht den Ärztemangel im Osten beklagen, meine
Damen und Herren, und gleichzeitig den diskriminierenden Ostabschlag
konservieren!
(Beifall)
Kollege Möhrle hat dieses Thema stets mit großem Engagement
bearbeitet und zeichnet auch für die vortreffliche Vorbereitung auf diesem Ärztetag
verantwortlich. Dafür herzlichen Dank, Alfred Möhrle.
Meine Damen und Herren, nicht nur zur GOÄ haben wir konkrete
Vorschläge unterbreitet. Wir werden auf dem Ärztetag auch diskutieren, welchen
Beitrag, und zwar wissenschaftlich fundierten Beitrag, die Ärzteschaft zur
Weiterentwicklung einer guten medizinischen Versorgung insgesamt leisten kann.
Zu lange haben wir es hinnehmen müssen, dass mit wissenschaftlich nicht
haltbaren Aussagen die Qualität unseres Gesundheitswesens a priori in Zweifel
gezogen worden ist. Das ging sogar so weit, dass die WHO in einem Ranking
Deutschlands Gesundheitswesen auf Platz 25 hinter Portugal, Griechenland, Oman
und Kolumbien eingestuft hat. Selbst die WHO hat mittlerweile von ihrer eigenen
Studie Abstand genommen. Ohne gesicherte Grundlage und belastbare Daten wurde
dann dieses Spielchen aber auf nationaler Ebene fortgeführt. Es ist heute noch
nicht vorbei.
(Beifall)
Da wurden vorausschauend Versorgungsdefizite behauptet, die
aber erst später durch Reformen entstanden sind, und da wurden Einsparreserven
in Milliardenhöhe benannt, gerade so als gelte es, einen Ramschladen wieder auf
Vordermann zu bringen.
Seriös ist das alles nicht gewesen, meine Damen und Herren.
Fundierte Aussagen über die Qualität des deutschen Gesundheitswesens lassen
sich nur auf der Basis wissenschaftlicher Untersuchungen des
Versorgungsgeschehens treffen.
Mit unserer Initiative zur Förderung der Versorgungsforschung
wollen wir zu einer ehrlichen Bestandsaufnahme der Medizin unter
Alltagsbedingungen beitragen. Außerdem soll die Bündelung unabhängigen
wissenschaftlichen Sachverstandes in einem Netzwerk dabei helfen, die Kompetenz
und das Wissen der in Praxis und Wissenschaft tätigen Ärztinnen und Ärzte
stärker als bisher in konkrete Lösungen für eine verbesserte
Patientenversorgung einzubringen.
Wir wollen auf solider
Datenbasis offen legen, wie die Versorgung unter den gegebenen
Rahmenbedingungen tatsächlich aussieht, und dann, meine Damen und Herren, das
Unsrige beisteuern zu einem System der „lernenden Versorgung“.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, aus Fehlern wird man klug; das
ist eine altbekannte Binsenweisheit. Wenn es nun aber darum geht, dieses System
auf eine ganze Gruppe zu übertragen, wird es ungleich schwerer. Doch wie in der
Luftfahrt, bei den Piloten besonders, brauchen auch wir Ärztinnen und Ärzte in
einer komplexer werdenden Welt mit zahlreichen interdisziplinären und interprofessionellen
Schnittstellen ein professionelles Fehlermanagement – besser gesagt: ein
Management zur Patientensicherheit.
Natürlich ist das ein heikles Thema, denn ärztliche Fehler
werden bis heute immer noch zuerst als persönliches Versagen verstanden, auch
wenn aus der Arbeits- und Kommunikationspsychologie längst bekannt ist, dass
die Fehlerursache Nummer eins Organisations- und Kommunikationsmängel sind.
Auch die Angst vor Haftungsprozessen und höheren
Versicherungssummen mag mancherorts dazu führen, dass ein offener Umgang mit
Fehlern immer noch schwierig ist. Doch Fehlerberichtssysteme sind keine
persönlichen Strafregister, sondern Präventionsinstrumente zur Verfestigung
einer kollegialen Vertrauenskultur. Das ist der entscheidende Punkt.
Vieles ist hier schon auf den Weg gebracht, um eine Kultur des
Lernens aus Fehlern zu schaffen. Es gibt Schulungsprogramme zum besseren Umgang
mit Risikomanagement, es gibt Fehlerlernsysteme wie das Frankfurter Verfahren
oder das der KBV oder das Schweizer Critical Incidents Reporting System (CIRS).
Und jüngst erst haben wir das Aktionsbündnis Patientensicherheit mit aus der
Taufe gehoben, um auf breiter Basis bestehende Initiativen zu koordinieren und
als Informationsplattform im Sinne eines Netzwerks zu agieren.
Nutzen wir den Ärztetag, diese, wenn ich das so sagen darf,
Fehlervermeidungskultur weiter zu entwickeln, also die Patientensicherheit zu
fördern, und mahnen wir zugleich Politiker wie auch eigene Kolleginnen und
Kollegen, diesen sensibelsten Bereich des Vertrauensverhältnisses zwischen
Patient und Arzt nicht zur Effekthascherei zu missbrauchen!
(Beifall)
Bisher haben alle dieser Versuchung widerstanden. Dafür bin
ich sehr dankbar.
Ich danke an dieser Stelle Günther Jonitz, der dieses Thema so
engagiert bearbeitet hat und auch für die Vorbereitung auf diesem Ärztetag
verantwortlich zeichnet.
Vertrauen, meine Damen und Herren, fordert Verantwortung. Als
Ärzte haben wir eine ganz besondere Verantwortung, denn die Patienten
offenbaren sich uns in ihrer Not und in ihrem Leid. Ethisch fragwürdig kann es
allerdings werden, wenn nicht das medizinisch Sinnvolle, sondern – wie bei den
so genannten Schönheitsoperationen – das ästhetisch Wünschenswerte in den
Vordergrund rückt, wenn also wir Ärztinnen und Ärzte und die entsprechenden
Spezialisten als Body-Designer beansprucht werden. Ich bin sehr beunruhigt,
dass die Zahl der ästhetisch-plastischen Operationen in den letzten Jahren
derart zugenommen hat und dass bereits 10 Prozent der Eingriffe an unter
20-Jährigen vorgenommen werden – ob indiziert oder nicht indiziert, lasse ich
jetzt einmal offen; da gibt es einen Streit. Geradezu erschreckend finde ich
es, wenn sich sogar schon 9- bis 14-Jährige – Jungen und Mädchen; die Mädchen
etwas zahlreicher als die Jungen, wie ich bei meinen Enkelkindern festgestellt
habe – für diese so genannten Schönheitsoperationen interessieren. Was für ein
Weltbild steht dahinter und wer zeichnet dafür verantwortlich?
Sie alle haben wohl die Sendungen gerade des vergangenen
Jahres gesehen, in denen Schönheitsoperationen als etwas ganz Normales
dargestellt worden sind. Als Dokumentationen getarnte Reality-Shows zeigten,
wie einfach doch Fett absaugen, Falten glätten und Nasenkorrekturen sind; die
Operations- und Folgerisiken sind dabei weitgehend ausgeblendet worden. In
Scheinrealitäten konstruiert wurden Schönheitsoperationen als erstrebenswertes
Konsumgut dargestellt – und gerade Kinder und Jugendliche sind Opfer dieser
Verführung zum Schönheitswahn, wie wir das genannt haben.
(Beifall)
Im Rahmen unserer ordnungspolitischen Funktion werden wir
zumindest die Irritationen um den Begriff der so genannten Schönheitschirurgie
begrenzen können, wenn wir nunmehr – Sie haben es schon erwähnt, Frau
Ministerin – auf diesem Ärztetag beschließen, die Facharztbezeichnung
„Plastische Chirurgie“ um den Zusatz „ästhetische“ zu ergänzen, damit dieser
schon nicht mehr so stark missbraucht werden kann.
(Vereinzelt Beifall)
Aber, meine Damen und Herren, Persönlichkeit ist keine Frage
der Chirurgie, zumindest nicht für die große Mehrheit der Bevölkerung. Deshalb
hat die Bundesärztekammer aus Sorge um die langfristigen Folgen eines völlig
überzogenen Schönheitsideals eine Koalition gegen den Schönheitswahn gegründet.
Gemeinsam mit Vertretern von Politik, Kirchen, Gesellschaft und vor allem mit
Unterstützung des Deutschen Lehrerverbands wollen wir über die Risiken informieren
und helfen, unsere Kinder stark zu machen. Wir müssen den Jugendlichen klar
machen, dass es wesentlich erfüllender ist, sich nach seinen eigenen
Fähigkeiten und Möglichkeiten zu entwickeln, statt ein Ideal zu kopieren.
Verehrte Frau Ministerin, ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihr
persönliches Engagement in dieser Koalition und ich glaube, wir haben da, wenn
ich mir das Fernsehprogramm heute anschaue, auch schon eine Menge erreicht.
(Beifall)
Die ethische Selbstverpflichtung von Ärztinnen und Ärzten gilt
auch und gerade bei den so genannten Individuellen Gesundheitsleistungen. Die
Zunahme dieser Leistungen liegt sicherlich auch darin begründet, dass durch die
Finanzprobleme der Begriff des Notwendigen in der Medizin von der
Krankenversicherung wesentlich enger gefasst wird als in der Vergangenheit, der
Stellenwert der Gesundheit für die einzelnen Menschen aber erheblich zugenommen
hat. Hier klafft eine Schere.
Nun ist es nicht immer ganz einfach, eine genaue Grenze zu
ziehen zwischen dem, was medizinisch notwendig ist, und dem, was von den
Patienten und Patientinnen als Wunschleistung gefordert und auch noch ärztlich
empfehlenswert oder ärztlich vertretbar ist. Zu dieser Problematik hat deshalb
eine Arbeitsgruppe der Bundesärztekammer einen „Entwurf zum Umgang mit IGeL–Leistungen“
erarbeitet, den wir diesem Ärztetag zu einer ersten, und zwar wirklich offenen
Diskussion vorlegen möchten. Wir gehen nicht davon aus, dass er beschlossen
werden soll; er muss diskutiert werden.
Der Leitgedanke dabei ist, dass die Patientinnen und Patienten
auch bei Individuellen Gesundheitsleistungen darauf vertrauen können, dass
medizinische Gründe für ihre Behandlung entscheidend sind. Patienten sind keine
Kunden und der Arztberuf ist kein Gewerbe. Und dabei muss es bleiben!
(Beifall)
Unsere Aufgabe ist es, den Kolleginnen und Kollegen eine klare
Orientierung im Umgang mit Individuellen Gesundheitsleistungen zu geben. Aber
wir machen das nicht ex cathedra, sondern werden dazu eine gründliche und
praxisnahe Diskussion führen, wahrscheinlich über diesen Ärztetag hinaus.
„Sorgfalt vor Schnelligkeit“ gilt auch und gerade für die
elektronische Vernetzung unseres Gesundheitswesens. Als Ärztinnen und Ärzte
sind wir dem Arztgeheimnis und dem Datenschutz in ganz besonderer Weise
verpflichtet. Denn Patienten müssen auch in Zukunft noch darauf vertrauen
können, dass die ärztliche Schweigepflicht trotz Digitalisierung hochsensibler
Patientendaten unverbrüchliches Prinzip ihrer Behandlung bleibt.
In Teilen der Ärzteschaft stößt das weltweit größte Telematikprojekt
allerdings auf große Skepsis. Sie fürchten den gläsernen Patienten, den
gläsernen Arzt, die zusätzliche Arbeitsbelastung und nicht zuletzt die
Investitionskosten. Aber die elektronische Gesundheitskarte kann auch helfen,
den Informationsfluss im Gesundheitswesen zu intensivieren, Arbeitsabläufe zu
verbessern und die Dokumentation zu vereinfachen. Ich möchte hier nur den
elektronischen Notfallausweis nennen oder bei Arzneimitteln auf das Erkennen
von potenziellen Wechselwirkungen hinweisen.
Die Einführung der Telematik ist sicher die größte Veränderung
der Kommunikationsbeziehungen, die das Gesundheitswesen jemals erlebt hat. Da
reicht es nicht aus, einfach auf die Gesetzeslage zu verweisen und politisch
motivierte Zeitpläne zu entwerfen. Wir müssen die Risiken eines solchen
Projekts sehr genau prüfen und dürfen es nicht zulassen, dass die
Gesundheitskarte mit einem Misstrauenschip in die tägliche Versorgung startet!
(Beifall)
Bei unseren Ärztekammern laufen die Vorbereitungen für die
Herausgabe des elektronischen Arztausweises planmäßig. Ein entsprechendes
Projektbüro bei der Bundesärztekammer unterstützt deren Bemühungen. Gleichwohl
werden wir hier nicht einfach administrieren, sondern die Sorgen der
Kolleginnen und Kollegen ernst nehmen und für größtmögliche Transparenz des
Verfahrens sorgen.
Ehrlichkeit in der Diskussion, meine Damen und Herren, ist
grundlegende Voraussetzung für eine verantwortliche Gestaltung unseres
Gesundheitswesens. Dazu gehört, dass die Folgen gesundheitspolitischer
Entscheidungen nicht als ärztliche Defizite deklariert werden. Und dazu gehört
auch der ehrliche Umgang mit struktureller, statistischer Rationierung. Ein
unbegrenztes Leistungsversprechen und die fortwährende Behauptung milliardenschwerer
Effizienzreserven können das auf die Dauer nicht kaschieren.
Vor ein paar Tagen auf einer Diskussionsveranstaltung hat mich
ein junger Arzt aus dem Plenum heraus gefragt, wo er denn mit seinen 37 Jahren
in diesem Beruf noch eine Zukunft habe. Die Arbeit im Krankenhaus würde ihn
schlichtweg kaputtmachen; er halte diese, wenn es gut geht, höchstens noch fünf
Jahre aus. In die Niederlassung könne er auch nicht wechseln, weil da das
Investitionsrisiko bei der derzeitigen Perspektive für ihn und seine Familie
einfach zu hoch sei. Sein Freund und Kollege sei bereits zur Pharmaindustrie
gewechselt. Ich hatte ein paar tröstende Worte für ihn.
Frau Ministerin Schmidt, Sie haben von einem Kulturwandel im
Gesundheitswesen gesprochen. Wenn damit gemeint ist, wie Sie heute auch gesagt
haben, dass wir zu ehrlicher, sachlicher Analyse zurückkehren, den Menschen
draußen sagen, was die wirklichen Probleme im Gesundheitswesen sind, und all
die Menschen, die sich so engagiert um die Patientinnen und Patienten kümmern,
wieder mit Respekt behandeln, dann, verehrte Frau Ministerin, haben Sie die
gesamte Ärzteschaft hinter sich!
Ich bedanke mich sehr für Ihre Aufmerksamkeit.
(Anhaltender lebhafter Beifall)
Ich möchte noch auf den im Anschluss an diese
Eröffnungsveranstaltung stattfindenden Empfang der Ärztekammer Berlin im Foyer
hinweisen.
Der 108. Deutsche Ärztetag in Berlin ist eröffnet.
Ich bitte Sie, sich zum Singen der Nationalhymne von Ihren
Plätzen zu erheben.
(Die Anwesenden erheben sich und singen die
Nationalhymne)
|