Eröffnungsveranstaltung

1. Tag: Dienstag, 3. Mai 2005

Präsident Prof. Dr. Dr. h. c. Hoppe:
Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich darf mich bei Ihnen, Frau Ministerin, bei Ihnen, Herr Staatssekretär, und bei dir, lieber Günther Jonitz, für die Ausführungen bedanken. Ich werde hierauf in meiner Rede eingehen. Die Schnittmengen sind so groß, was die Themen und die Behandlung der Themen angeht, dass ich das jeweils an der Stelle tun werde, wo es angebracht ist.

Sehr verehrte Frau Ministerin! Meine Damen und Herren Abgeordneten! Herr Staatssekretär! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir waren schon in einer Kirche, in einer Werft, in Konzertsälen und Opernhäusern, in einem historischen Rathaus und in Berlin zuletzt 1989 im damals noch die Teilung Deutschlands symbolisierenden Reichstag. Heute sind wir hier.

(Heiterkeit)

Wir sind wieder in Berlin, dem neuen Sitz der Bundesärztekammer. So außergewöhnlich diese Stadt ist, so ungewöhnlich ist auch der Ort der Eröffnungsveranstaltung. Sind gestern Abend an dieser Stelle noch Imitatoren aufgetreten, so erleben Sie heute nur Originale

(Heiterkeit – Beifall)

– auch wenn wir im Gesundheitswesen sicher mehr als genug Imitatoren finden würden. Bei manch einer gesundheitspolitischen Veranstaltung fühle ich mich ohnehin eher an den Titel der hiesigen Show erinnert: Stars in Concert.

Gute Unterhaltung kann ich Ihnen aber leider nicht versprechen. Dazu sind wir ja auch nicht wirklich zusammengekommen. Unser Thema sind Patientinnen und Patienten, ihre Bedürfnisse, ihre Erwartungen und die Behandlungsmöglichkeiten. Deshalb beschäftigen wir uns als Vertreter der Ärztinnen und Ärzte in Deutschland auch auf diesem Ärztetag mit der Ethik unseres Berufes, mit der Qualität der medizinischen Versorgung und vor allem mit der Zukunft in unserem Gesundheitswesen.

Die Herausforderungen, vor denen wir in einer Gesellschaft des langen Lebens – Frau Ministerin, Sie haben diesen Terminus übernommen; darüber freue ich mich – stehen, sind in der Tat gigantisch. Wie wollen wir in einer sozial entwurzelten Gesellschaft, bei der zunehmenden Vereinzelung – hier in Berlin leben 60 Prozent der Bevölkerung in Einzelhaushalten – und mit der Entsolidarisierung der Menschen, in Zukunft noch eine ausreichende Betreuung und Behandlung sicherstellen? Was wird diese Gesellschaft, was werden die vielen allein stehenden älteren Menschen von uns Ärztinnen und Ärzten erwarten und was werden wir tatsächlich leisten können? Die Medizin allein, meine Damen und Herren, wird die gesellschaftlichen Probleme nicht lösen können.

Einige Beispiele mögen das erhellen. In Deutschland sind etwa 4 Millionen Menschen wegen akuter Depression in Behandlung. Die Weltgesundheitsorganisation spricht sogar davon, dass Depressionen sich weltweit zur häufigsten Krankheit entwickeln. Wohl schon der nächste Ärztetag wird sich intensiv mit der Dimension psychiatrischer Erkrankungen insgesamt und deren Entstigmatisierung in der Gesellschaft befassen.

Oder werfen wir einen Blick auf die Entwicklung von Demenzerkrankungen: Bis zum Jahre 2040 rechnen Experten allein in Deutschland mit einer Gesamtzahl von 2,2 Millionen Menschen, die an Demenz leiden. Vieles kann heute früh erkannt werden, aber nicht alles ist heilbar.

Meine Damen und Herren, es wird erkennbar, dass wir angesichts dieser Dimensionen wohl mit den herkömmlichen gesundheitspolitischen Ansätzen nicht weiterkommen werden. Gleichwohl bleibt die gesundheitliche Versorgung unserer Bevölkerung eine öffentliche Aufgabe; so will es unser Grundgesetz. Der Staat darf deshalb aus seiner Pflicht zur Daseinsvorsorge nicht entlassen werden.

(Beifall)

Darüber hinaus wird es unausweichlich sein, auch die Gesellschaft als solche stärker in die Verantwortung zu nehmen. Wir sollten Barmherzigkeit nicht nur im Gesundheitswesen fordern, wir sollten unsere Mitmenschen davon überzeugen, dass wir wieder mehr füreinander einstehen müssen, auch bei den neuen gesellschaftlichen Strukturen.

Ich weiß, das sind hehre Worte. Aber als Ärztinnen und Ärzte – und gerade als Ärztinnen und Ärzte in Deutschland – sind wir der Menschlichkeit im Gesundheitswesen wie auch in der Gesellschaft besonders verpflichtet. Das war nicht immer so.

Meine Damen und Herren, in wenigen Tagen gedenken wir des Kriegsendes vor 60 Jahren. Das dunkelste Kapitel auch in der Geschichte der deutschen Ärzteschaft hat damals sein Ende gefunden. Denn Ärzte haben in der Zeit des Nationalsozialismus Tod und unvorstellbares Leid herbeigeführt, angeordnet oder gnadenlos verwaltet. Warum gerade Ärzte, die doch in besonderer Weise dem menschlichen Leben verpflichtet sind, zu solchen Taten fähig waren, habe ich bis heute nicht begreifen können. Aber ich empfinde Scham, tiefe Scham über das, was Ärzte Menschen im Nationalsozialismus angetan haben. Ich habe deshalb bei der Gedenkveranstaltung für die ermordeten und vertriebenen jüdischen Ärzte in Berlin im November des Jahres 2004 im Namen der gesamten deutschen Ärzteschaft um Verzeihung gebeten.

Und wir haben auch die Initiative der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin für ein Projekt zur Erforschung des Schicksals jüdischer Ärzte in der Zeit des Nationalsozialismus nachhaltig unterstützt.

(Beifall)

Vor dem Saal können Sie übrigens Auslagen finden, in denen diese Initiative dargestellt wird. Man kann sie auch weiterhin finanziell unterstützen.

Wir haben angefangen, meine Damen und Herren, diesen Teil der Geschichte für uns aufzuarbeiten – nicht direkt nach Kriegsende und sicher auch noch nicht abschließend. Aber wir haben uns auf den Weg gemacht und halten uns an die mahnenden Worte von Altbundespräsident Richard von Weizsäcker: „Wer vor der Vergangenheit die Augen verschließt, der wird blind für die Gegenwart.“

Meine Damen und Herren, in den vergangenen Jahrzehnten hat die Medizin Quantensprünge gemacht. Das ist schon erwähnt worden. Sie alle kennen den auch schon genannten Begriff der Fortschrittsfalle, der bedeutet, dass der medizinische Fortschritt durch seine Erfolge eine immer größere Behandlungsnachfrage hervorruft. Wenn die finanziellen Mittel der Krankenkassen allerdings wegen der wirtschaftlichen Lage nicht mehr ausreichen, den Fortschritt für alle zu bezahlen, dann haben wir das Problem der Rationierung. Aber diskutieren wir dieses Problem wirklich offen und ehrlich? Ich glaube, nur in Bezug auf individuelle Rationierung. Da diskutieren wir es offen und ehrlich, wie Sie es gerade gesagt haben, Frau Ministerin. Die individuelle Rationierung ist in Deutschland kein Thema. Aber es gibt ja noch mehr.

Ärztinnen und Ärzte, die tagtäglich kranke Menschen behandeln, erleben das ganz anders. Sie müssen an der Seite von Patientinnen und Patienten um einzelne Leistungen kämpfen, denn schon lange kann nicht mehr jeder so behandelt werden, wie es nach den Regeln der ärztlichen Kunst eigentlich geboten wäre.

(Beifall)

Und wie würde es erst aussehen, wenn Ärzte und Pflegekräfte nicht durch persönliches Engagement und Millionen Überstunden nach wie vor das System subventionieren würden?

(Beifall)

Rationierung ist ein häufiges Problem im ärztlichen und pflegerischen Alltag und dieses Problem wird sich angesichts einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 87 bis 93 Jahren im Jahre 2050 noch erheblich verschärfen.

Ich glaube auch nicht, dass die bisherigen Prinzipien der Gesundheitspolitik hier wirklich hilfreich sind, und ich glaube auch nicht, sehr verehrte Frau Ministerin, dass mit der jüngsten Gesundheitsreform ein – wie Sie es bezeichnen; nicht heute, aber an anderen Stellen – „Kulturwandel im Gesundheitswesen“ eingeleitet worden ist. Wohl aber erleben wir einen Paradigmenwechsel der Steuerung unseres Gesundheitswesens.

(Beifall)

Die Behandlungsprozesse werden veradministriert, währenddessen die flächendeckenden Versorgungsstrukturen marktwirtschaftlich – wie die Ökonomen es zu sagen pflegen – „bereinigt“ werden; in Wahrheit aber verlieren wir schlicht das Soziale in unserem Gesundheitswesen. Ich habe die Sorge, dass das Gesundheitswesen eines Tages aus dem Sozialministerium in das Wirtschaftsministerium wandert.

(Beifall)

Wir erleben eine weitere Bürokratisierung des ärztlichen Alltags und eine Konzentration der Versorgungslandschaft. Gleichzeitig sollen Patientinnen und Patienten zu Verbrauchern und wir Ärztinnen und Ärzte zu Dienstleistungserbringern umdefiniert werden. Es ist psychologisch wichtig, das zu erkennen.

Das, meine Damen und Herren, ist nicht der Kulturwandel, auf den wir gehofft hatten!

(Beifall)

Dabei waren durchaus einige der Ideen, die dem GKV-Modernisierungsgesetz zugrunde lagen, vielversprechend – so die Stärkung der Prävention, die Förderung der Integrierten Versorgung und auch die Erprobung neuer Hausarztmodelle. Auch sind wir sicher einig in der außerordentlichen Bedeutung der Qualitätssicherung, wie man es heute nennt. Das hat es auch früher schon gegeben; es hieß nur nicht so.

(Beifall)

Aber ich habe manchmal das Gefühl, dass wir Ärzte da gar nicht mehr wirklich gefragt sind, dass es nicht mehr um die erfolgreiche Behandlung des einzelnen Patienten geht, sondern nur noch um die effizienzsteigernde gesundheitsökonomische Steuerung – natürlich in abstrakter Verantwortung, meine Damen und Herren.

(Beifall)

Wir Ärztinnen und Ärzte stehen in der täglichen Praxis dann vor den ganz konkreten Folgen dieser Entwicklung, nämlich der Rationierung in ihren vielfältigen Erscheinungsformen. Und nun sagen Sie mal einem kranken Menschen, dass er nicht alles das bekommen kann, was medizinisch sinnvoll ist. Da kann man sich dann nicht hinstellen und sagen: Ihre Behandlung ist Teil der Effizienzreserven, die wir jetzt heben müssen. Das geht so nicht.

Meine Damen und Herren, was ich verdeutlichen möchte: Die statistische Rationierung ist gleichsam das verborgene Prinzip, mit dem die Beitragssatzstabilität erkauft worden ist.

(Beifall)

Im ärztlichen Alltag aber lässt sich Rationierung nicht mehr verbergen. Da stehen die Ärztin und der Arzt ganz allein in ihrer Erklärungsnot; andere Verantwortliche sind dann weit und breit nicht mehr zu finden. So kann das nicht bleiben!

(Beifall)

Was die Medizin in einer Gesellschaft des langen Lebens leisten kann und soll, müssen wir – da nehme ich den Ball auf – offen diskutieren und dann auch in gemeinsamer Verantwortung tragen und nicht am Krankenbett austragen.

(Beifall)

Eine solche offene und transparente Diskussion führen wir derzeit zu den Fragen der Selbstbestimmung am Ende des menschlichen Lebens. Das Schicksal der amerikanischen Wachkomapatientin Terri Schiavo hat die Debatte um die rechtliche Anerkennung von Patientenverfügungen auch hier in Deutschland neu angestoßen.

Zwar sind bei uns Patientenverfügungen prinzipiell bindend. Was aber geschieht, wenn sie der konkreten Behandlungssituation nicht entsprechen oder aber wenn sie schon viele Jahre alt sind? Wenn der Arzt in einer solchen Situation den mutmaßlichen Willen des Patienten ermitteln muss, dann kann er dies nur anhand der Gesamtumstände tun, wie religiöser Überzeugung und allgemeiner Lebenseinstellung, und vor allen Dingen muss das Gespräch mit den Angehörigen geführt werden.

Das alles ist höchst individuell und nicht normierbar und deshalb wird es eine abschließende, in jedem Einzelfall gültige gesetzliche Regelung zu diesem Thema wohl kaum geben können.

(Beifall)

Meine Damen und Herren, ich zitiere:

Aufgabe des Arztes ist es, unter Beachtung des Selbstbestimmungsrechtes des Patienten Leben zu erhalten, Gesundheit zu schützen und wieder herzustellen sowie Leiden zu lindern und Sterbenden bis zum Tod beizustehen.

Das ist unser ethisches Bekenntnis in den Grundsätzen der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung. Die ärztliche Verpflichtung zur Erhaltung des Lebens besteht zwar nicht unter allen Umständen, insbesondere dann, wenn sonst angemessene Diagnostik und Therapie nicht mehr angezeigt und Begrenzungen geboten sind. Dann muss die palliativmedizinische Versorgung in den Vordergrund treten.

Niemals aber gehört es zum Arztberuf, den Tod herbeizuführen. Wir wollen den Tod zulassen, wenn die Zeit da ist, wir wollen ihn aber nicht zuteilen.

(Beifall)

Die Diskussion über den ärztlich assistierten Suizid flammt auch in Deutschland immer wieder auf. Es sind die Angst vor der Lebensverlängerung um jeden Preis, vor allem aber die Unwissenheit über die palliativmedizinischen Behandlungsmöglichkeiten, die diese Diskussionen immer wieder anheizen. Aber wohin führen denn die vermeintlich liberalen Regelungen bei unseren europäischen Nachbarn? Ich denke daran, wie Dr. Wynen vor wenigen Ärztetagen aufgestanden ist und geschildert hat, was in seinem Land geschehen ist. Er hat uns gesagt, dass er sich für das schämt, was in Belgien passiert. Aus Belgien hören wir jetzt, dass Ärzte seit Mitte April dieses Jahres so genannte „Medikamentensets zur aktiven Sterbehilfe“ in Apotheken erwerben können. Das macht mir Angst. Denn dort droht etwas zur Selbstverständlichkeit zu werden, das zunächst nur als absolute Ausnahme gedacht war – wie auch im Nachbarland Holland –, die Euthanasie.

Ich bin deswegen sehr froh, dass in Deutschland bis auf einige wenige niemand am Strafrechtsparagraphen 216 rütteln will, der die Tötung auf Verlangen verbietet. Für uns Ärztinnen und Ärzte wird auch in Zukunft die Maxime gelten: Die Patientin und der Patient haben das Recht auf einen würdigen Tod, aber niemand hat das Recht, getötet zu werden.

(Beifall)

Meine Damen und Herren, der Glaube an die unbegrenzten Möglichkeiten der Medizin wird erschüttert, wenn man die tatsächliche Bedeutung der Lebenssituation eines Menschen für dessen Gesundheitszustand erkennt. Soziale Schichtzugehörigkeit, Wohn- und Umweltbedingungen stehen in sehr engem Zusammenhang mit Gesundheit und Gesundheitsverhalten. Unser Vorstandsmitglied Rudolf Henke wird uns in diese Thematik einführen.

Untersuchungen, die der renommierte Medizinsoziologe Professor Siegrist dem Deutschen Ärztetag erläutern wird, zeigen, dass Gesundheitsrisiken und Krankheiten in einkommensschwachen Bevölkerungsgruppen stärker verbreitet sind, als manch einer das bisher vermutet hat. Betroffen sind vor allem Arbeitslose, Menschen ohne Schulabschluss, allein erziehende Mütter und die Gruppe der bis 15-Jährigen. Vor allem so genannte „chronisch materielle und sozial ungleiche Belastungen“ scheinen die wesentlichen Risiken zu sein.

Was besonders betroffen macht, ist das Gesundheitsverhalten sozial benachteiligter Jugendlicher, bei denen schon sehr früh der Grundstein für riskante Verhaltensweisen wie Rauchen, Alkoholkonsum und Fehlernährung gelegt wird. Mit einem weiteren Ausbau der medizinischen Versorgung allein lösen wir dieses Problem nicht. Vielmehr müssen wir Präventionsprogramme entwickeln, die auf die jeweilige Lebenswirklichkeit der Menschen zugeschnitten sind.

Beispielhaft – ich bedanke mich dafür, Frau Ministerin, dass Sie das hier genannt haben – darf ich hier das Projekt zur Gesundheitsförderung in der Grundschule nennen und etwas ausführlicher beschreiben. Bereits seit vielen Jahren engagiert sich die Ärztekammer Nordrhein, namentlich Frau Sabine Schindler und mein Vizepräsident Arnold Schüller, systematisch dafür, jungen Schülern und ihren Eltern das Thema Gesundheit und Gesundheitsvorsorge näher zu bringen. Dieses Projekt unter dem Namen „Gesund macht Schule“ läuft inzwischen in einer sehr guten Kooperation mit der AOK Rheinland. Das Themenspektrum reicht von „Bewegung und Entspannung“, „Essen und Ernährung“ über „Sexualerziehung“ bis hin zu „Suchtprävention“. Gemeinsam konnten wir erreichen, dass heute bereits nahezu 200 Grundschulen im Rheinland an dem Projekt teilnehmen. Diese große Resonanz zeigt: Die Schule ist der richtige Ort, um neben dem Elternhaus die Grundlagen für gesundheitsbewusstes Verhalten zu legen. Sicher ist es sinnvoll, auch für Schüler aus höheren Jahrgangsstufen ein vergleichbares Angebot zu schaffen. Das ist die Richtung, in die weiter gearbeitet werden muss. Insofern begrüßen wir grundsätzlich auch das Ziel des Präventionsgesetzes, Gesundheitsförderung und Prävention zu stärken. Wir finden es allerdings bedauerlich, verehrte Frau Ministerin, dass wir Ärzte entgegen Ihrer Meinung sowohl bei der Gestaltung als auch bei der praktischen Durchführung aus unserer Sicht ungenügend einbezogen worden sind.

(Beifall)

Wir wissen, dass weitere Stufen folgen werden. Wir hoffen, dass dabei ein bisschen mehr auf diese Fragestellung Rücksicht genommen werden wird.

Wir bieten Ihnen an, die in den Ärztekammern gesammelten Erfahrungen mit Modellprojekten einzubringen und konzeptionell an der Definition der Präventionsziele mitzuarbeiten. Lassen Sie uns gemeinsam dafür Sorge tragen, dass wir in der Prävention zwar um den richtigen Weg, nicht aber um die Umverteilung der Mittel streiten!

(Vereinzelt Beifall)

Wie schön wäre es gewesen, wenn wir auch bei den Disease-Management-Programmen ausschließlich die Behandlungsziele diskutieren müssten und nicht vor allem die Umverteilung über den Risikostrukturausgleich der Krankenkassen!

(Beifall)

Meine Damen und Herren, hier komme ich zu einem Thema, das wirklich die Tiefe des Frustes beinhaltet, den es in der Ärzteschaft gibt. Hier geht es nicht um Geld, Hierarchien und Arbeitszeit, sondern hier geht es um die Patientenbetreuung im eigentlichen Sinne. Am Beispiel der Disease-Management-Programme lässt sich sehr gut zeigen, warum wir von einem Paradigmenwechsel zu einer semi-staatlichen Administrierung von Behandlungsprozessen sprechen. Denn diese gesundheitspolitisch verordneten Programme sind etwas gänzlich anderes als die ursprünglich von Ärztinnen und Ärzten entwickelten evidenzbasierten Leitlinien, die ja nur als Behandlungskorridor, nicht aber als Behandlungsvorschrift dienen sollten. Die neuen Disease-Management-Programme gewinnen aber mehr und mehr den Charakter von Checklisten zur Versorgung großer Bevölkerungsgruppen. Patienten werden so eben zu statistischen Größen.

Und so wird dann auch im Gesundheitswesen – besser gesagt: im Krankenversicherungswesen – munter mit der Geldquelle DMP-Patient gerechnet. Da wird zwischen den Krankenkassen gefeilscht, verschoben und auch verfälscht. Da werden Patienten in Programme gedrängt, die dieser Versorgung überhaupt nicht bedürfen.

(Beifall)

Das Motto im Verwaltungspoker der Krankenkassen heißt „Masse statt Klasse“ – mit Wettbewerb um Qualität hat das dann nichts mehr zu tun.

(Beifall)

Überdies, verehrte Frau Ministerin, sollten wir alle immer wieder darüber nachdenken, ob wir nicht mit der Koppelung Disease-Management-Program­me/Risikostrukturausgleich und auch mit dem Projekt Morbiditäts-Risiko­strukturausgleich eine staatlich induzierte und durch die Selbstverwaltung administrierte Morbiditätsproduktion betreiben, das heißt, ob wir nicht letztlich erst durch diese unselige Koppelung unsere Bevölkerung weitgehend zu Kranken machen.

(Beifall)

Auf wen das dann zurückfällt, ist schon jetzt klar: auf uns Ärztinnen und Ärzte, wobei ich, liebe Kolleginnen und Kollegen, schon jetzt den Gutachtentext vor Augen sehe, der dann abgeliefert werden wird: Deutschland hat die kränkeste Bevölkerung der Welt, weil die medizinischen Leistungen aus Über-, Unter- und Fehlversorgung bestehen!

(Beifall)

Unsere Kritik an den Disease-Management-Programmen hierzulande kann auch keineswegs nur als eine Nörgelei aus der Ärzteschaft abgetan werden; führende Vertreter der Krankenkassen selbst üben an dieser Fehlsteuerung heftigste Kritik, auch und gerade weil diese Programme und ihre Verwaltung jegliche Evaluation der Versorgungsergebnisse schlichtweg unmöglich machen. Das ist eigentlich gesetzlich vorgeschrieben. Das geht aber überhaupt nicht. Man wird nie sagen können, ob ein Programm erfolgreich war, ob es den Leuten besser geht oder ob es ihnen besser ginge, wenn es dieses Programm nicht gäbe. Das ist nicht evaluierbar. Das ist ein unerträglicher Zustand.

(Beifall)

Gleichzeitig explodiert die Bürokratie. Der GKV-Schätzerkreis geht für das Jahr 2005 von sage und schreibe 340 Millionen Euro Verwaltungskosten allein für die Verwaltung des Disease-Management-Programms Diabetes aus – Geld wohlgemerkt, das für Verwaltung und Datenerfassung verbraucht wird und nicht für die Patientinnen und Patienten zur Verfügung steht.

(Beifall)

Die Krankenkassen sollten ursprünglich in einen Wettbewerb um die beste Behandlung chronisch Kranker treten. Als Anreiz waren die Prämien aus dem Risikostrukturausgleich gedacht. Aber die bloße Implementierung des Wettbewerbsgedankens, meine Damen und Herren, kann offensichtlich weder Qualität sichern noch generell die Kosten senken, wie man hieran sieht.

Wir sollten uns besser wieder daran erinnern, was eine erfolgreiche ärztliche, medizinische und pflegerische Behandlung ausmacht: Vertrauen, Individualität und Professionalität.

(Beifall)

Hier, meine Damen und Herren, liegt die Zukunft unseres Gesundheitswesens und nicht in einer weiter ausufernden Verbürokratisierung der Medizin!

Während die Behandlungsabläufe also veradministriert werden, sind die Versorgungsstrukturen mittlerweile sukzessiv immer mehr dem freien Wettbewerb unterworfen. Das neue System der Krankenhausfinanzierung – auch eine Ursache der völligen mentalen Umstellung von Ärztinnen und Ärzten im Krankenhaus – über diagnosebezogene Fallpauschalen hat einen radikalen Umbruch im Kliniksektor eingeleitet und unsere bisherige Philosophie in der Krankenhausversorgung in ihr Gegenteil verkehrt. Bisher war jeder in ein Krankenhaus aufgenommene Patient willkommen und umfassend medizinisch betreut – so lange, bis er sich im Alltag wieder selbst helfen konnte. So viel Mildtätigkeit kann sich heute kein Krankenhaus mehr leisten. Die Patienten werden nunmehr einer Fallpauschale zugeordnet und dann entsprechend dieser Diagnose schnellstmöglich behandelt. Das aber birgt unzweifelhaft die Gefahr einer Risikoselektion nach Marktgesetzen.

Nicht mehr der Patient, sondern der Erlös aus der Behandlung des Patienten steht im Mittelpunkt. Krankenhäuser, die sich nicht schnell genug den neuen Wettbewerbsstrukturen anpassen, werden untergehen oder übernommen.

Wie sehr der Profitgedanke im Krankenhaussektor bereits Platz gegriffen hat, zeigen die gerade in jüngster Zeit rasch fortschreitenden Übernahmen durch private profitorientierte Konzerne. Ist das nicht, meine Damen und Herren, der wirkliche Stoff für eine Kapitalismusdebatte?

(Beifall)

Wenn selbst das Kartellamt bei diesen Konzentrationsprozessen schon Bedenken anmeldet, ist es nicht nur für uns, sondern vor allem für die Politik allerhöchste Zeit, darüber nachzudenken, wie wir den medizinischen Fortschritt einer alternden Gesellschaft noch flächendeckend sicherstellen wollen.

„Krankenhaus-Monopoly“ hat zu Recht die „Süddeutsche Zeitung“ diesen Konzentrationsprozess beschrieben. Zahlreiche Kliniken befinden sich mittlerweile in einer existenzbedrohenden finanziellen Lage. Über die Hälfte ist bereits verschuldet; 21 Prozent der Krankenhäuser sind sogar schon im so genannten roten Bereich, das heißt, sie haben Schwierigkeiten bei der Kreditaufnahme. Experten schätzen, dass sich die Zahl der Krankenhäuser allein bis 2010 um 300 verringert haben wird. Von flächendeckender Versorgung nach dem Feuerwehrprinzip kann dann sicher keine Rede mehr sein.

Und was bedeutet dieser Kampf um Marktanteile für die Qualität der Versorgung? Risikoselektion, meine Damen und Herren, schlicht Ausgrenzung nicht profitabler Krankheiten und damit auch der dazugehörigen Kranken!

Denn schon jetzt drängen Krankenhausverwaltungen darauf, Kranke, für die lediglich defizitäre Fallpauschalen zur Verfügung stehen, woandershin – meistens in Schwerpunktkrankenhäuser – zu verlegen.

Die Verantwortung für die Menschen, die als Verlierer dieses neuen Systems dastehen, möchte keiner der großen Strategen übernehmen. Der Staat hat zwar den Sicherstellungsauftrag für den stationären Sektor, aber wieder sind es wir Ärztinnen und Ärzte, die diese strukturelle Rationierung gegenüber dem einzelnen Patienten verantworten sollen.

Mit der Diskussion um den Basisfallwert, also die Messgröße für durchschnittliche Behandlungskosten für Krankenhauspatienten, ist nun die nächste Runde eingeläutet. Einzelne Landes-Basisfallwerte sind, wie beispielsweise in Nordrhein-Westfalen, so niedrig angesetzt, dass die Krankenhäuser unter Wert abrechnen müssten.

(Vereinzelt Beifall)

Und dann wird auch noch jede Verkürzung der Verweildauer in den Kliniken als Ausdruck von gestiegener Wirtschaftlichkeit gepriesen; dabei wird völlig ausgeblendet, dass – abgesehen von den Patienten – diese Reduktionen zu weiterer erheblicher Arbeitsverdichtung führen.

Wie solche Krankenhäuser dann auch noch Ressourcen freisetzen sollen für die Weiterbildung der Ärztinnen und Ärzte, also die Spezialisierung, ist mehr als fraglich. Dabei ist doch jede Investition in die Weiterbildung eine Investition in die Qualität der künftigen Versorgung.

(Beifall)

Wer also an dieser Stelle spart, der spart an der Zukunft!

Schon jetzt haben wir erhebliche Probleme, die ärztliche Versorgung in Teilen des Landes sicherzustellen. Das ist in allen Reden, die heute hier gehalten wurden, angesprochen worden. Ein Gutachten im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums hat die Gründe für den Studienabbruch und auch die Bedenken junger Ärztinnen und Ärzte gegen die Berufsausübung an Patienten untersucht. Ich glaube, das Ergebnis hat die meisten nicht überrascht. Es bestätigt die von der Bundesärztekammer und auch von anderen seit geraumer Zeit vorgetragenen Gründe zum Ärztemangel, eben die enorme Arbeitsüberlastung, geringe Aufstiegschancen, mangelnde Anerkennung, Unvereinbarkeit von Familie und Beruf, eine überbordende Bürokratie und nicht zuletzt eine völlig unzureichende Bezahlung.

(Beifall)

Wen wundert es da, dass nur noch 16,4 Prozent der Ärztinnen und Ärzte jünger sind als 35 Jahre – ein dramatischer Einbruch im Vergleich zum Anfang der 90er-Jahre, als noch fast ein Drittel zu dieser Altersklasse gehörte.

Es gibt eben für gut ausgebildete junge Medizinerinnen und Mediziner eine Vielzahl von Alternativen zur kurativen Medizin. Unter der Überschrift „Die Vertreibung aus dem Paradies“ berichtete das „Handelsblatt“ vom Fall eines Kölner Krankenhausarztes, der seinen Arztkittel an den Nagel hängte, auf einen Schlag sein Gehalt verdoppelte und obendrein die Arbeitszeit halbierte, weil er in das Controlling derselben Klinik gewechselt war. Die Autorin des Beitrags hat es richtig erkannt:

Der Schritt lohnt finanziell und in puncto Lebensqualität – Verwaltungsarbeit wird eben besser bezahlt als das Heilen von Menschen.

Das, meine Damen und Herren, ist die Realität in unserem Gesundheitswesen, über die wir, Frau Ministerin, diskutieren müssen!

(Lebhafter Beifall)

Verehrte Frau Ministerin, wir alle haben heute Morgen vor Beginn der Veranstaltung unsere Kolleginnen und Kollegen vor der Tür gesehen, die gegen eine weitere Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen protestiert haben. Ich hoffe, wir sind einer Meinung, dass der knallharte Sparkurs der Länder die Medizinstudenten und die jungen Ärztinnen und Ärzte nicht noch weiter abschrecken darf!

(Beifall)

Denn ich weiß wirklich nicht, wie wir den Nachwuchs für die Patientinnen und Patienten zurückgewinnen wollen, wenn nun zahlreiche Kolleginnen und Kollegen an unseren Unikliniken auch noch die Streichung des Urlaubsgeldes, die Kürzung des Weihnachtsgeldes und Arbeitszeitverlängerungen gleichzeitig zu gewärtigen haben.

(Beifall)

Auch unsere niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte hätten allen Grund, eine vergleichbare Protestaktion auf die Beine zu stellen.

(Beifall)

Ihre Unzufriedenheit mit der beruflichen Situation ist sicher nicht geringer als unter den Klinikern. Auch hier leiden die Ärztinnen und Ärzte unter zum Teil unzumutbaren Arbeitszeiten und sind stark verunsichert hinsichtlich ihrer beruflichen Zukunft. Gerade die niedergelassenen Fachärztinnen und Fachärzte sind mehr als nur irritiert, wenn die Politik nun die so genannte doppelte Facharztschiene kassieren will. Die Akzeptanz unseres Gesundheitswesen hat bisher vor allem auch darin bestanden, dass jede und jeder jederzeit wohnortnah fachärztlich versorgt werden konnte. Wartelisten wie in England und Holland hat es bei uns bisher noch nicht gegeben – ein Gütezeichen des ehemaligen deutschen Gesundheitswesens!

(Beifall)

Dieses Niveau zu halten war über lange Zeit politischer Konsens und damit natürlich auch die berufliche Perspektive für die Niederlassung. Das alles ist jetzt nachhaltig infrage gestellt und verunsichert natürlich auch die jungen Kolleginnen und Kollegen. Sie werden es sich doch zweimal überlegen, ob sie sich jetzt noch niederlassen. Die unkalkulierbaren Berufsaussichten werden also nicht nur bei den Hausärztinnen und Hausärzten, sondern auch bei den Fachärztinnen und Fachärzten in absehbarer Zeit zu gravierenden Engpässen in der Versorgung führen.

Wer wird dann aufstehen, meine Damen und Herren, und dafür die Verantwortung tragen? So still, wie es jetzt in diesem Raum ist, wird es auch dann sein.

(Beifall)

Ich bin Franz Gadomski außerordentlich dankbar, dass er das Thema „Arbeitssituation der niedergelassenen Ärzte“ für den Ärztetag so gründlich vorbereitet hat.

Was steht den niederlassungswilligen Kolleginnen und Kollegen noch alles bevor? Die Krankenhäuser werden wohl noch weiter als bisher für die ambulante Versorgung geöffnet, die Bürokratieschraube wird weiter angezogen und die Therapiefreiheit wird weiter zurückgedreht. Wer glaubt denn allen Ernstes, dass man damit Ärztinnen und Ärzte motivieren könnte? Das Ganze, meine Damen und Herren, nimmt sich eher aus wie eine Berufseinstiegs-Verhinderungs­programmatik.

(Beifall)

Da nützt es nichts, wenn wir aufgefordert werden, nachdem wir jahrelang durch Skandalisierungen an den Rand der Glaubwürdigkeit gebracht worden sind, in Sachen Ärztemangel mal selbst etwas zu tun und den Arztberuf wieder schönzureden. Das geht nicht, schönreden geht nicht, der Arztberuf muss schön sein!

(Beifall)

Man kann aber nicht mal so eben den Ärztemangel abstellen. Wir können auch nicht unentwegt Ärztinnen und Ärzte aus den östlichen Nachbarländern abziehen. Das ist ethisch gegenüber den Menschen dort nicht vertretbar.

(Beifall)

Das alles ist eine langjährige Entwicklung, die auch stark vom Grad der Anerkennung für den Arztberuf abhängt.

Wenn wir von einem Kulturwandel im Gesundheitswesen reden wollen, meine Damen und Herren, dann ist er hier, genau hier, angebracht. Stärken Sie gerade den jungen Kolleginnen und Kollegen den Rücken und geben Sie ihnen endlich die Anerkennung, die sie verdienen und die ihnen gebührt!

(Beifall)

Hinzu kommt eine völlig unbefriedigende Rechtssituation ärztlicher Tätigkeit. Von den Ärztinnen und Ärzten erwartet man, dass sie Patienten nach dem neuesten Stand der modernen Medizin behandeln. Das wirft angesichts begrenzter Ressourcen die sattsam bekannten Probleme im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung auf. Sozialrecht und Haftungsrecht driften immer weiter auseinander, wir Ärztinnen und Ärzte bleiben auf dem Risiko sitzen.

(Vereinzelt Beifall)

Veranlasst der Arzt eine aufwendige Diagnostik, wird hinterfragt, ob das auch wirklich notwendig und zweckmäßig im Sinne des Sozialgesetzbuchs war. Kommt es zu einer Arzthaftpflichtauseinandersetzung, interessiert das plötzlich überhaupt nicht mehr. Dann geht es nur noch darum, ob die Behandlung nach dem neuesten Stand der medizinischen Erkenntnisse durchgeführt wurde.

(Beifall)

Geradezu katastrophal sieht es mit der Rechtssicherheit für Ärztinnen und Ärzte und Patientinnen und Patienten bei der privatärztlichen Abrechnung aus. Die Gebührenordnung für Ärzte, immerhin eine Rechtsverordnung des Staates, müsste doch allein schon aus Verbraucherschutzgründen eindeutige und klare Regelungen umfassen. Wir brauchen deshalb ein für alle Versorgungsbereiche durchgängiges und auch dynamisches Vergütungssystem mit einem offenen Leistungsverzeichnis, das zum aktuellen Zeitpunkt immer den Stand der modernen Medizin abbilden kann.

Wir begrüßen natürlich alle die enormen Fortschritte der Medizin. Aber die gleichen Politiker und andere, die die Innovations- und Leistungsfähigkeit des deutschen Gesundheitswesens beschwören, verharren in Untätigkeit, wenn es da­rum geht, eine desolate, zum Teil 27 Jahre alte Gebührenordnung den heutigen Erfordernissen anzupassen.

(Beifall)

Da, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, liegen doch die Ursachen für die Anwendungsschwierigkeiten, Fehlinterpretationen und Rechtsstreitigkeiten. Hier nicht tätig zu werden, heißt, eine Kriminalisierung von Ärztinnen und Ärzten billigend in Kauf zu nehmen. Das muss aufhören – und zwar sofort.

(Beifall)

Wie viele so genannte Abrechnungsskandale und zum Teil auch gezielte Diffamierungen hätten wir den Ärztinnen und Ärzten ersparen können, wenn die permanente Reformblockade auch der Länder nicht zu so viel Rechtsunsicherheit geführt hätte.

Mittlerweile kann man aber auch den Eindruck gewinnen, dass selbst die Bundesregierung, verehrte Frau Ministerin, die notwendige GOÄ-Reform aussitzen möchte – bis eine nächste Gesundheitsreform diese vielleicht überflüssig macht? Ich hoffe, mein Eindruck täuscht.

Erlauben Sie mir in diesem Zusammenhang noch ein Wort zum GOÄ-Ostabschlag. Dieser Abschlag von 10 Prozent in den neuen Bundesländern und – ich sage es ganz bewusst so – Ostberlin ist durch nichts mehr zu rechtfertigen.

(Beifall)

15 Jahre nach der Wiedervereinigung sollte endlich auch für Ärztinnen und Ärzte – ganz so wie bei den Rechtsanwälten, Architekten und anderen Freiberuflern – eine Angleichung der Vergütung an das Westniveau erfolgen.

(Beifall)

Wir können doch nicht den Ärztemangel im Osten beklagen, meine Damen und Herren, und gleichzeitig den diskriminierenden Ostabschlag konservieren!

(Beifall)

Kollege Möhrle hat dieses Thema stets mit großem Engagement bearbeitet und zeichnet auch für die vortreffliche Vorbereitung auf diesem Ärztetag verantwortlich. Dafür herzlichen Dank, Alfred Möhrle.

Meine Damen und Herren, nicht nur zur GOÄ haben wir konkrete Vorschläge unterbreitet. Wir werden auf dem Ärztetag auch diskutieren, welchen Beitrag, und zwar wissenschaftlich fundierten Beitrag, die Ärzteschaft zur Weiterentwicklung einer guten medizinischen Versorgung insgesamt leisten kann. Zu lange haben wir es hinnehmen müssen, dass mit wissenschaftlich nicht haltbaren Aussagen die Qualität unseres Gesundheitswesens a priori in Zweifel gezogen worden ist. Das ging sogar so weit, dass die WHO in einem Ranking Deutschlands Gesundheitswesen auf Platz 25 hinter Portugal, Griechenland, Oman und Kolumbien eingestuft hat. Selbst die WHO hat mittlerweile von ihrer eigenen Studie Abstand genommen. Ohne gesicherte Grundlage und belastbare Daten wurde dann dieses Spielchen aber auf nationaler Ebene fortgeführt. Es ist heute noch nicht vorbei.

(Beifall)

Da wurden vorausschauend Versorgungsdefizite behauptet, die aber erst später durch Reformen entstanden sind, und da wurden Einsparreserven in Milliardenhöhe benannt, gerade so als gelte es, einen Ramschladen wieder auf Vordermann zu bringen.

Seriös ist das alles nicht gewesen, meine Damen und Herren. Fundierte Aussagen über die Qualität des deutschen Gesundheitswesens lassen sich nur auf der Basis wissenschaftlicher Untersuchungen des Versorgungsgeschehens treffen.

Mit unserer Initiative zur Förderung der Versorgungsforschung wollen wir zu einer ehrlichen Bestandsaufnahme der Medizin unter Alltagsbedingungen beitragen. Außerdem soll die Bündelung unabhängigen wissenschaftlichen Sachverstandes in einem Netzwerk dabei helfen, die Kompetenz und das Wissen der in Praxis und Wissenschaft tätigen Ärztinnen und Ärzte stärker als bisher in konkrete Lösungen für eine verbesserte Patientenversorgung einzubringen.

Wir wollen auf solider Datenbasis offen legen, wie die Versorgung unter den gegebenen Rahmenbedingungen tatsächlich aussieht, und dann, meine Damen und Herren, das Unsrige beisteuern zu einem System der „lernenden Versorgung“.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, aus Fehlern wird man klug; das ist eine altbekannte Binsenweisheit. Wenn es nun aber darum geht, dieses System auf eine ganze Gruppe zu übertragen, wird es ungleich schwerer. Doch wie in der Luftfahrt, bei den Piloten besonders, brauchen auch wir Ärztinnen und Ärzte in einer komplexer werdenden Welt mit zahlreichen interdisziplinären und interprofessionellen Schnittstellen ein professionelles Fehlermanagement – besser gesagt: ein Management zur Patientensicherheit.

Natürlich ist das ein heikles Thema, denn ärztliche Fehler werden bis heute immer noch zuerst als persönliches Versagen verstanden, auch wenn aus der Arbeits- und Kommunikationspsychologie längst bekannt ist, dass die Fehlerursache Nummer eins Organisations- und Kommunikationsmängel sind.

Auch die Angst vor Haftungsprozessen und höheren Versicherungssummen mag mancherorts dazu führen, dass ein offener Umgang mit Fehlern immer noch schwierig ist. Doch Fehlerberichtssysteme sind keine persönlichen Strafregister, sondern Präventionsinstrumente zur Verfestigung einer kollegialen Vertrauenskultur. Das ist der entscheidende Punkt.

Vieles ist hier schon auf den Weg gebracht, um eine Kultur des Lernens aus Fehlern zu schaffen. Es gibt Schulungsprogramme zum besseren Umgang mit Risikomanagement, es gibt Fehlerlernsysteme wie das Frankfurter Verfahren oder das der KBV oder das Schweizer Critical Incidents Reporting System (CIRS). Und jüngst erst haben wir das Aktionsbündnis Patientensicherheit mit aus der Taufe gehoben, um auf breiter Basis bestehende Initiativen zu koordinieren und als Informationsplattform im Sinne eines Netzwerks zu agieren.

Nutzen wir den Ärztetag, diese, wenn ich das so sagen darf, Fehlervermeidungskultur weiter zu entwickeln, also die Patientensicherheit zu fördern, und mahnen wir zugleich Politiker wie auch eigene Kolleginnen und Kollegen, diesen sensibelsten Bereich des Vertrauensverhältnisses zwischen Patient und Arzt nicht zur Effekthascherei zu missbrauchen!

(Beifall)

Bisher haben alle dieser Versuchung widerstanden. Dafür bin ich sehr dankbar.

Ich danke an dieser Stelle Günther Jonitz, der dieses Thema so engagiert bearbeitet hat und auch für die Vorbereitung auf diesem Ärztetag verantwortlich zeichnet.

Vertrauen, meine Damen und Herren, fordert Verantwortung. Als Ärzte haben wir eine ganz besondere Verantwortung, denn die Patienten offenbaren sich uns in ihrer Not und in ihrem Leid. Ethisch fragwürdig kann es allerdings werden, wenn nicht das medizinisch Sinnvolle, sondern – wie bei den so genannten Schönheitsoperationen – das ästhetisch Wünschenswerte in den Vordergrund rückt, wenn also wir Ärztinnen und Ärzte und die entsprechenden Spezialisten als Body-Designer beansprucht werden. Ich bin sehr beunruhigt, dass die Zahl der ästhetisch-plastischen Operationen in den letzten Jahren derart zugenommen hat und dass bereits 10 Prozent der Eingriffe an unter 20-Jährigen vorgenommen werden – ob indiziert oder nicht indiziert, lasse ich jetzt einmal offen; da gibt es einen Streit. Geradezu erschreckend finde ich es, wenn sich sogar schon 9- bis 14-Jährige – Jungen und Mädchen; die Mädchen etwas zahlreicher als die Jungen, wie ich bei meinen Enkelkindern festgestellt habe – für diese so genannten Schönheitsoperationen interessieren. Was für ein Weltbild steht dahinter und wer zeichnet dafür verantwortlich?

Sie alle haben wohl die Sendungen gerade des vergangenen Jahres gesehen, in denen Schönheitsoperationen als etwas ganz Normales dargestellt worden sind. Als Dokumentationen getarnte Reality-Shows zeigten, wie einfach doch Fett absaugen, Falten glätten und Nasenkorrekturen sind; die Operations- und Folgerisiken sind dabei weitgehend ausgeblendet worden. In Scheinrealitäten konstruiert wurden Schönheitsoperationen als erstrebenswertes Konsumgut dargestellt – und gerade Kinder und Jugendliche sind Opfer dieser Verführung zum Schönheitswahn, wie wir das genannt haben.

(Beifall)

Im Rahmen unserer ordnungspolitischen Funktion werden wir zumindest die Irritationen um den Begriff der so genannten Schönheitschirurgie begrenzen können, wenn wir nunmehr – Sie haben es schon erwähnt, Frau Ministerin – auf diesem Ärztetag beschließen, die Facharztbezeichnung „Plastische Chirurgie“ um den Zusatz „ästhetische“ zu ergänzen, damit dieser schon nicht mehr so stark missbraucht werden kann.

(Vereinzelt Beifall)

Aber, meine Damen und Herren, Persönlichkeit ist keine Frage der Chirurgie, zumindest nicht für die große Mehrheit der Bevölkerung. Deshalb hat die Bundesärztekammer aus Sorge um die langfristigen Folgen eines völlig überzogenen Schönheitsideals eine Koalition gegen den Schönheitswahn gegründet. Gemeinsam mit Vertretern von Politik, Kirchen, Gesellschaft und vor allem mit Unterstützung des Deutschen Lehrerverbands wollen wir über die Risiken informieren und helfen, unsere Kinder stark zu machen. Wir müssen den Jugendlichen klar machen, dass es wesentlich erfüllender ist, sich nach seinen eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten zu entwickeln, statt ein Ideal zu kopieren.

Verehrte Frau Ministerin, ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihr persönliches Engagement in dieser Koalition und ich glaube, wir haben da, wenn ich mir das Fernsehprogramm heute anschaue, auch schon eine Menge erreicht.

(Beifall)

Die ethische Selbstverpflichtung von Ärztinnen und Ärzten gilt auch und gerade bei den so genannten Individuellen Gesundheitsleistungen. Die Zunahme dieser Leistungen liegt sicherlich auch darin begründet, dass durch die Finanzprobleme der Begriff des Notwendigen in der Medizin von der Krankenversicherung wesentlich enger gefasst wird als in der Vergangenheit, der Stellenwert der Gesundheit für die einzelnen Menschen aber erheblich zugenommen hat. Hier klafft eine Schere.

Nun ist es nicht immer ganz einfach, eine genaue Grenze zu ziehen zwischen dem, was medizinisch notwendig ist, und dem, was von den Patienten und Patientinnen als Wunschleistung gefordert und auch noch ärztlich empfehlenswert oder ärztlich vertretbar ist. Zu dieser Problematik hat deshalb eine Arbeitsgruppe der Bundesärztekammer einen „Entwurf zum Umgang mit IGeL–Leistungen“ erarbeitet, den wir diesem Ärztetag zu einer ersten, und zwar wirklich offenen Diskussion vorlegen möchten. Wir gehen nicht davon aus, dass er beschlossen werden soll; er muss diskutiert werden.

Der Leitgedanke dabei ist, dass die Patientinnen und Patienten auch bei Individuellen Gesundheitsleistungen darauf vertrauen können, dass medizinische Gründe für ihre Behandlung entscheidend sind. Patienten sind keine Kunden und der Arztberuf ist kein Gewerbe. Und dabei muss es bleiben!

(Beifall)

Unsere Aufgabe ist es, den Kolleginnen und Kollegen eine klare Orientierung im Umgang mit Individuellen Gesundheitsleistungen zu geben. Aber wir machen das nicht ex cathedra, sondern werden dazu eine gründliche und praxisnahe Diskussion führen, wahrscheinlich über diesen Ärztetag hinaus.

„Sorgfalt vor Schnelligkeit“ gilt auch und gerade für die elektronische Vernetzung unseres Gesundheitswesens. Als Ärztinnen und Ärzte sind wir dem Arztgeheimnis und dem Datenschutz in ganz besonderer Weise verpflichtet. Denn Patienten müssen auch in Zukunft noch darauf vertrauen können, dass die ärztliche Schweigepflicht trotz Digitalisierung hochsensibler Patientendaten unverbrüchliches Prinzip ihrer Behandlung bleibt.

In Teilen der Ärzteschaft stößt das weltweit größte Telematikprojekt allerdings auf große Skepsis. Sie fürchten den gläsernen Patienten, den gläsernen Arzt, die zusätzliche Arbeitsbelastung und nicht zuletzt die Investitionskosten. Aber die elektronische Gesundheitskarte kann auch helfen, den Informationsfluss im Gesundheitswesen zu intensivieren, Arbeitsabläufe zu verbessern und die Dokumentation zu vereinfachen. Ich möchte hier nur den elektronischen Notfallausweis nennen oder bei Arzneimitteln auf das Erkennen von potenziellen Wechselwirkungen hinweisen.

Die Einführung der Telematik ist sicher die größte Veränderung der Kommunikationsbeziehungen, die das Gesundheitswesen jemals erlebt hat. Da reicht es nicht aus, einfach auf die Gesetzeslage zu verweisen und politisch motivierte Zeitpläne zu entwerfen. Wir müssen die Risiken eines solchen Projekts sehr genau prüfen und dürfen es nicht zulassen, dass die Gesundheitskarte mit einem Misstrauenschip in die tägliche Versorgung startet!

(Beifall)

Bei unseren Ärztekammern laufen die Vorbereitungen für die Herausgabe des elektronischen Arztausweises planmäßig. Ein entsprechendes Projektbüro bei der Bundesärztekammer unterstützt deren Bemühungen. Gleichwohl werden wir hier nicht einfach administrieren, sondern die Sorgen der Kolleginnen und Kollegen ernst nehmen und für größtmögliche Transparenz des Verfahrens sorgen.

Ehrlichkeit in der Diskussion, meine Damen und Herren, ist grundlegende Voraussetzung für eine verantwortliche Gestaltung unseres Gesundheitswesens. Dazu gehört, dass die Folgen gesundheitspolitischer Entscheidungen nicht als ärztliche Defizite deklariert werden. Und dazu gehört auch der ehrliche Umgang mit struktureller, statistischer Rationierung. Ein unbegrenztes Leistungsversprechen und die fortwährende Behauptung milliardenschwerer Effizienzreserven können das auf die Dauer nicht kaschieren.

Vor ein paar Tagen auf einer Diskussionsveranstaltung hat mich ein junger Arzt aus dem Plenum heraus gefragt, wo er denn mit seinen 37 Jahren in diesem Beruf noch eine Zukunft habe. Die Arbeit im Krankenhaus würde ihn schlichtweg kaputtmachen; er halte diese, wenn es gut geht, höchstens noch fünf Jahre aus. In die Niederlassung könne er auch nicht wechseln, weil da das Investitionsrisiko bei der derzeitigen Perspektive für ihn und seine Familie einfach zu hoch sei. Sein Freund und Kollege sei bereits zur Pharmaindustrie gewechselt. Ich hatte ein paar tröstende Worte für ihn.

Frau Ministerin Schmidt, Sie haben von einem Kulturwandel im Gesundheitswesen gesprochen. Wenn damit gemeint ist, wie Sie heute auch gesagt haben, dass wir zu ehrlicher, sachlicher Analyse zurückkehren, den Menschen draußen sagen, was die wirklichen Probleme im Gesundheitswesen sind, und all die Menschen, die sich so engagiert um die Patientinnen und Patienten kümmern, wieder mit Respekt behandeln, dann, verehrte Frau Ministerin, haben Sie die gesamte Ärzteschaft hinter sich!

Ich bedanke mich sehr für Ihre Aufmerksamkeit.

(Anhaltender lebhafter Beifall)

Ich möchte noch auf den im Anschluss an diese Eröffnungsveranstaltung stattfindenden Empfang der Ärztekammer Berlin im Foyer hinweisen.

Der 108. Deutsche Ärztetag in Berlin ist eröffnet.

Ich bitte Sie, sich zum Singen der Nationalhymne von Ihren Plätzen zu erheben.

(Die Anwesenden erheben sich und singen die Nationalhymne)

 

© 2005, Bundesärztekammer.