TOP I: Gesundheits-, Sozial- und ärztliche Berufspolitik

1. Tag: Dienstag, 3. Mai 2005, nur Nachmittagssitzung

Dr. Albers, Berlin:
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der 104. Deutsche Ärztetag hat sich 2001 mit den Arbeitsbedingungen der Klinikärzte beschäftigt. Festzuhalten ist: Seitdem hat sich die Situation weiter verschärft – angesichts des schon beschriebenen sich abzeichnenden Ärztemangels an vielen Kliniken. Übrigens ein Widerspruch in sich, der uns besonders zu denken geben sollte, denn die Konsequenz daraus wäre ja eigentlich die Schaffung attraktiverer Arbeitsbedingungen und eine angemessenere Bezahlung.

Dass das Gegenteil geschieht, zeigt zum einen das Ausmaß der Ignoranz und der Arroganz der Verantwortlichen, es zeigt zum anderen aber auch unsere Schwäche, wenn es darum geht, unsere berechtigten Interessen durchzusetzen. Weiterhin und offensichtlich immer mehr gilt das Prinzip, so wenig Arzt wie möglich zu bezahlen, aber so viel Arzt wie möglich auszubeuten.

Nach einer Umfrage der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie haben 60 Prozent der Befragten noch nie eine Überstunde bezahlt bekommen. 79 Prozent der Befragten gaben an, das Arbeitszeitgesetz werde in ihrer Klinik nicht eingehalten. 38 Prozent der Kollegen gehen nach dem Dienst nicht nach Hause. 76 Prozent der Befragten gaben an, die tatsächliche Arbeitszeit entspreche nicht der dokumentierten. 44 Prozent sagten dazu, dies geschehe unter Druck der Klinikbetreiber oder der unmittelbar Vorgesetzten.

Eine Umfrage des Arbeitskreises „Junge Ärzte in Berlin“ stellte fest, dass 67,4 Prozent mehr als 44 Stunden pro Woche, 39,4 Prozent mehr als 49 Stunden, 17,8 Prozent mehr als 54 Stunden und 7,2 Prozent mehr als 59 Stunden pro Woche in der Klinik arbeiten.

Nach dem Bereitschaftsdienst verlassen 64,1 Prozent die Klinik und 15,5 Prozent gehen erst sieben Stunden nach Ende ihres Bereitschaftsdienstes nach Hause. Lediglich bei 141 der 1 019 Befragten gab es keine gravierenden Rechtsverstöße.

Das Landesamt für Gesundheitssicherung in Berlin hat vom Februar bis zum Mai 2003 in 38 Abteilungen an 20 Krankenhäusern die Arbeitszeiten von 782 Ärzten überprüft. Es wurden 4 210 Verstöße gegen die Dokumentationspflicht bei Arbeitszeiten über acht Stunden und 407 bei Arbeitszeiten über zehn Stunden gefunden. Dazu kamen 45 Verstöße gegen den Umfang der werktäglichen Bereitschaftsdienste.

Kolleginnen und Kollegen, die Restauration von Knechtschaftsverhältnissen feiert an deutschen Kliniken fröhliche Urständ!

(Beifall)

Das Beispiel Überstunden zeigt, mit welcher Selbstverständlichkeit der angestellte Klinikarzt als eine schier unerschöpfliche Quelle an Langmut und Selbstverleugnung außerhalb jeden Tarifrechts über unbezahlte Mehrarbeit ausgebeutet wird. Geschäftsführer geben Anweisungen, eingereichte Überstunden definitiv nicht zu vergüten. Sie verlieren jeden Prozess, lassen es aber in jedem Fall darauf ankommen und versuchen es in jedem Einzelfall von Neuem, nach dem Motto: Einige werden schon nicht klagen, dann haben wir wenigstens das gespart!

Nicht zu bezahlende Überstunden sind bei der Budgetplanung als feste betriebswirtschaftliche Größe längst eingeplant und werden ohne jeden Skrupel vom Krankenhausmanagement als positives Betriebsergebnis ausgewiesen.

Die rund 1 500 Ärzte einer Berliner Krankenhaus-GmbH haben 2001  102 100 offiziell anerkannte Überstunden bezahlt bekommen. Die Dunkelziffer liegt viel höher. Die Konsequenz aus dieser Zahl ist aber nicht etwa die Schaffung 63 zusätzlicher Stellen, wie sich leicht errechnen ließe; vielmehr sollen im Rahmen eines Sanierungskonzepts Arztstellen bis zu einer Größenordnung von 401 eingespart werden.

Für das Krankenhausmanagement gilt offenbar vielerorts: Wen ich schlecht behandele, den kann ich auch schlecht bezahlen. Das beginnt damit, wie sich konkret belegen lässt, dass im Rahmen dringend notwendiger Einsparmaßnahmen „im Zuge des Projektfortschritts der Vereinheitlichungen von Standards im Bereich der textilen Versorgung“ den Mitarbeitern in den Operationssälen keine Handtücher mehr zur Verfügung gestellt werden, denn: „Die Bereitstellung derartiger Hygieneartikel gehört nicht zu den arbeitsschutzrechtlichen Verpflichtungen des Arbeitgebers.“

Es geht weiter über Arbeitsverträge mit extrem kurzen Laufzeiten, teilweise von weniger als einem Jahr. Den Kollegen wird so jede Möglichkeit einer adäquaten Lebensplanung über Weiterbildung und Familienplanung genommen. Unbefristete Arbeitsverträge sind die absolute Ausnahme. Es endet damit, dass ältere Kollegen mit solchen Verträgen nicht selten, weil sie zu teuer sind, massiv unter Druck gesetzt werden, vorzeitig auszuscheiden.

Zum Schluss, Kolleginnen und Kollegen: Früher war das Schlagwort vom übermüdeten Arzt das, was die öffentliche Diskussion bestimmt hat. Dieser ist heute längst abgelöst von demotivierten und überlasteten Kollegen. Dieser hat anders als der übermüdete Arzt damals niemanden mehr neben sich, der ihn wachrütteln kann, sondern er hat nur noch ebenso demotivierte und ebenso überlastete Kollegen an seiner Seite. Das ist eine gesundheitspolitische Zeitbombe.

Danke.

(Beifall)

Präsident Prof. Dr. Dr. h. c. Hoppe:
Vielen Dank, auch für diese sehr wertvollen Befragungsinformationen, die zusätzlich unsere bisherigen Feststellungen und unsere, wenn ich so sagen darf, Diagnose unterstützen.

Als nächste Rednerin Frau Kollegin Haus aus Nordrhein.

 

© 2005, Bundesärztekammer.