Henke, Vorstand der Bundesärztekammer: Herr
Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will
jetzt keinen arbeitsrechtlichen Ratschlag geben. Ich will aufgreifen, was der
Kollege aus Berlin eben vorgetragen hat bezüglich der Statistik der Deutschen
Gesellschaft für Chirurgie. Aus ihr geht hervor, dass 73 Prozent der
Kolleginnen und Kollegen in den Krankenhäusern Arbeit leisten, die eigentlich
vergütungspflichtig ist. Diese Arbeit leisten sie umsonst, weil sie nicht
vergütet wird. Sie haben zitiert, dass sich ein Großteil der Kolleginnen und
Kollegen unter Druck gesetzt fühlen, manche von den Verwaltungen, manche auch
von den Leitenden Ärzten. Die Verwaltungen werden dreimal häufiger erwähnt als
die Leitenden Ärzte.
Natürlich ist die Frage: Wie setzen wir uns mit solchen
Zumutungen auseinander? Frau Gitter hat ein besonders plastisches Beispiel
geschildert. Das ist auch ein bisschen die Frage des eigenen Rückgrats. Wenn
ich die Arbeit gut dokumentiere, wenn ich die Arbeit, die ich leiste,
aufschreibe und zeigen kann, dass sie zu meiner Berufsaufgabe gehört, dann
können wir jedenfalls als Marburger Bund sagen, dass es möglich ist, die
Vergütung einzufordern und gerichtlich durchzusetzen. Solche Beispiele gibt es
fast jede Woche.
Deshalb möchte ich nicht einfach den Unmut im Raum stehen
lassen. Wir werden nur weiterkommen, wenn viel mehr Kolleginnen und Kollegen
als bisher, statt nur zu sagen: „Das ist bei mir so, ich leiste Arbeit und
bekomme sie nicht bezahlt“, die Konsequenz daraus ziehen und ihre Arbeit
geltend machen. Soweit sie nicht selber juristisch ausgebildet sind, müssen sie
sich natürlich entsprechende rechtliche Hilfe suchen.
Ich glaube, erst anschließend werden die Arbeitgeber ein
Einsehen haben, dass es notwendig ist, auch in den Tarifbestimmungen
Veränderungen herbeizuführen. Der Eindruck, den die erwähnten 73 Prozent bei
den Arbeitgebern hinterlassen, ist, dass wir es hinnehmen, schlechter vergütet
zu werden, als es in den Tarifverträgen vorgesehen ist. Diese Tarifverträge
stellen ein wechselseitiges Versprechen dar. Sie tragen die Unterschrift von
Ministern oder Bischöfen. Das sind in beiden Fällen Personen, die dazu
verpflichtet sind, lauter und ehrlich zu agieren. Ich meine, man darf nicht
hinnehmen, dass solche Versprechen nicht eingehalten werden.
Das, was gestern und heute an Protesten vorgetragen wurde,
muss ein Anstoß sein, sich deutlicher zur Wehr zu setzen. Anderenfalls ist es
genauso, als würde ein niedergelassener Arzt Leistungen erbringen, die er nicht
einmal dokumentiert, vielleicht deshalb, weil er sagt: Ich bekomme dafür
sowieso kein Honorar; ich gerate in dieses Hamsterrad.
Das ist nicht zu empfehlen. Die Leistungen, die wir erbringen,
müssen dokumentiert werden, weil eine freiwillige Vergütung nicht erfolgt.
Ich will ein Wort zu dem sagen, was uns die Ministerin
geantwortet hat. Sie hat bestätigt, dass es im niedergelassenen Bereich
Schwierigkeiten gibt, Arztpraxen neu zu besetzen, und zwar in den östlichen
Bundesländern mehr als in den westlichen Bundesländern. Wir sehen, dass im
ländlichen Bereich auch in den Krankenhäusern die Stellen schwierig zu besetzen
sind. Wir können auch die Gründe dafür nennen. Die Mittel sind halt begrenzt.
Aber eines dürfen wir nicht aufs Spiel setzen: die solidarische Finanzierung.
Man muss die Frage stellen: Worauf stützt sich heute diese solidarische
Finanzierung? Sie stützt sich heute auf jetzt noch 26,4 Millionen
sozialversicherungspflichtig Beschäftigte.
Das heißt, die solidarischen Ausgleiche erfolgen ja gar nicht
in der Gesamtbevölkerung, sondern das, was uns als solidarische Finanzierung
dargeboten wird, konzentriert sich auf diejenigen Personen, die aus einer
sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung ein Erwerbseinkommen erzielen. Von
ihnen ist die besserverdienende Hälfte am solidarischen Ausgleich beteiligt,
alle anderen nicht.
Ich glaube, deshalb ist in der Tat der Hinweis darauf, dass
ein Solidarausgleich erfolgen muss, nicht ausreichend als Antwort auf den
Hinweis, dass die Situation hinsichtlich der Finanzen schwierig ist. Daran,
dass es den Arbeitskosten aufgeladen wird, dass es sich also im Grunde genommen
als eine zweite Steuer auf Arbeit auswirkt, ist im Wesentlichen die politische
Architektur dieses sozialen Sicherungssystems schuld. Darüber muss man eine
rationale Debatte in Gang setzen. Diese rationale Debatte vermisse ich zurzeit
in Deutschland. Im Grunde genommen wird in Deutschland dämonisiert diskutiert:
Die Pauschale wird dämonisiert, das Problem der Bürgerversicherung wird nicht
konkret ausgestaltet, man bekommt nicht auf den Tisch gelegt, wie diese
Bürgerversicherung konkret funktionieren und gestaltet sein soll, wie sie sich
von den Arbeitskosten entkoppeln soll.
An dieser Stelle haben wir insofern eine Scheindebatte um
Scheinlösungen. Die Lösungen werden politisch gesehen nicht wirklich auf den
Tisch gelegt. Das wird alles relativ schwierig werden. Ich unterstütze das
Anliegen des Kollegen, der sagt: Auf dem 109. Deutschen Ärztetag können wir uns
mit diesen Versicherungsfragen einmal grundsätzlich auseinander setzen. In der
Tat: Ein Weg, der beim Präventionsgesetz immer nur die Beitragszahler in
Haftung nimmt und alle Kosten im Zusammenhang damit wiederum nur über die
sozialversicherungspflichtig Beschäftigten finanziert, ist genau der falsche
Weg. Die Rentenversicherungskasse, die Arbeitslosenversicherungskasse und die
Krankenkassen sind die einzigen, die einen Finanzierungsbeitrag im Zusammenhang
mit dem Präventionsgesetz leisten. Das ist der falsche Weg, weil er bedeutet,
dass wir immer mehr Lasten auf die Arbeit verlagern und die Arbeitskosten in
einer Weise erhöhen, dass uns auf der Einnahmenseite Schwierigkeiten durch die
Arbeitslosigkeit entstehen.
Herzlichen Dank, dass Sie mir zugehört haben.
(Beifall)
Präsident Prof. Dr. Dr. h. c. Hoppe: Schönen
Dank, Rudolf Henke. Jetzt Herr Kollege Munte aus Bayern.
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