TOP I: Gesundheits-, Sozial- und ärztliche Berufspolitik

1. Tag: Dienstag, 3. Mai 2005, nur Nachmittagssitzung

Henke, Vorstand der Bundesärztekammer:
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will jetzt keinen arbeitsrechtlichen Ratschlag geben. Ich will aufgreifen, was der Kollege aus Berlin eben vorgetragen hat bezüglich der Statistik der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. Aus ihr geht hervor, dass 73 Prozent der Kolleginnen und Kollegen in den Krankenhäusern Arbeit leisten, die eigentlich vergütungspflichtig ist. Diese Arbeit leisten sie umsonst, weil sie nicht vergütet wird. Sie haben zitiert, dass sich ein Großteil der Kolleginnen und Kollegen unter Druck gesetzt fühlen, manche von den Verwaltungen, manche auch von den Leitenden Ärzten. Die Verwaltungen werden dreimal häufiger erwähnt als die Leitenden Ärzte.

Natürlich ist die Frage: Wie setzen wir uns mit solchen Zumutungen auseinander? Frau Gitter hat ein besonders plastisches Beispiel geschildert. Das ist auch ein bisschen die Frage des eigenen Rückgrats. Wenn ich die Arbeit gut dokumentiere, wenn ich die Arbeit, die ich leiste, aufschreibe und zeigen kann, dass sie zu meiner Berufsaufgabe gehört, dann können wir jedenfalls als Marburger Bund sagen, dass es möglich ist, die Vergütung einzufordern und gerichtlich durchzusetzen. Solche Beispiele gibt es fast jede Woche.

Deshalb möchte ich nicht einfach den Unmut im Raum stehen lassen. Wir werden nur weiterkommen, wenn viel mehr Kolleginnen und Kollegen als bisher, statt nur zu sagen: „Das ist bei mir so, ich leiste Arbeit und bekomme sie nicht bezahlt“, die Konsequenz daraus ziehen und ihre Arbeit geltend machen. Soweit sie nicht selber juristisch ausgebildet sind, müssen sie sich natürlich entsprechende rechtliche Hilfe suchen.

Ich glaube, erst anschließend werden die Arbeitgeber ein Einsehen haben, dass es notwendig ist, auch in den Tarifbestimmungen Veränderungen herbeizuführen. Der Eindruck, den die erwähnten 73 Prozent bei den Arbeitgebern hinterlassen, ist, dass wir es hinnehmen, schlechter vergütet zu werden, als es in den Tarifverträgen vorgesehen ist. Diese Tarifverträge stellen ein wechselseitiges Versprechen dar. Sie tragen die Unterschrift von Ministern oder Bischöfen. Das sind in beiden Fällen Personen, die dazu verpflichtet sind, lauter und ehrlich zu agieren. Ich meine, man darf nicht hinnehmen, dass solche Versprechen nicht eingehalten werden.

Das, was gestern und heute an Protesten vorgetragen wurde, muss ein Anstoß sein, sich deutlicher zur Wehr zu setzen. Anderenfalls ist es genauso, als würde ein niedergelassener Arzt Leistungen erbringen, die er nicht einmal dokumentiert, vielleicht deshalb, weil er sagt: Ich bekomme dafür sowieso kein Honorar; ich gerate in dieses Hamsterrad.

Das ist nicht zu empfehlen. Die Leistungen, die wir erbringen, müssen dokumentiert werden, weil eine freiwillige Vergütung nicht erfolgt.

Ich will ein Wort zu dem sagen, was uns die Ministerin geantwortet hat. Sie hat bestätigt, dass es im niedergelassenen Bereich Schwierigkeiten gibt, Arztpraxen neu zu besetzen, und zwar in den östlichen Bundesländern mehr als in den westlichen Bundesländern. Wir sehen, dass im ländlichen Bereich auch in den Krankenhäusern die Stellen schwierig zu besetzen sind. Wir können auch die Gründe dafür nennen. Die Mittel sind halt begrenzt. Aber eines dürfen wir nicht aufs Spiel setzen: die solidarische Finanzierung. Man muss die Frage stellen: Worauf stützt sich heute diese solidarische Finanzierung? Sie stützt sich heute auf jetzt noch 26,4 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte.

Das heißt, die solidarischen Ausgleiche erfolgen ja gar nicht in der Gesamtbevölkerung, sondern das, was uns als solidarische Finanzierung dargeboten wird, konzentriert sich auf diejenigen Personen, die aus einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung ein Erwerbseinkommen erzielen. Von ihnen ist die besserverdienende Hälfte am solidarischen Ausgleich beteiligt, alle anderen nicht.

Ich glaube, deshalb ist in der Tat der Hinweis darauf, dass ein Solidarausgleich erfolgen muss, nicht ausreichend als Antwort auf den Hinweis, dass die Situation hinsichtlich der Finanzen schwierig ist. Daran, dass es den Arbeitskosten aufgeladen wird, dass es sich also im Grunde genommen als eine zweite Steuer auf Arbeit auswirkt, ist im Wesentlichen die politische Architektur dieses sozialen Sicherungssystems schuld. Darüber muss man eine rationale Debatte in Gang setzen. Diese rationale Debatte vermisse ich zurzeit in Deutschland. Im Grunde genommen wird in Deutschland dämonisiert diskutiert: Die Pauschale wird dämonisiert, das Problem der Bürgerversicherung wird nicht konkret ausgestaltet, man bekommt nicht auf den Tisch gelegt, wie diese Bürgerversicherung konkret funktionieren und gestaltet sein soll, wie sie sich von den Arbeitskosten entkoppeln soll.

An dieser Stelle haben wir insofern eine Scheindebatte um Scheinlösungen. Die Lösungen werden politisch gesehen nicht wirklich auf den Tisch gelegt. Das wird alles relativ schwierig werden. Ich unterstütze das Anliegen des Kollegen, der sagt: Auf dem 109. Deutschen Ärztetag können wir uns mit diesen Versicherungsfragen einmal grundsätzlich auseinander setzen. In der Tat: Ein Weg, der beim Präventionsgesetz immer nur die Beitragszahler in Haftung nimmt und alle Kosten im Zusammenhang damit wiederum nur über die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten finanziert, ist genau der falsche Weg. Die Rentenversicherungskasse, die Arbeitslosenversicherungskasse und die Krankenkassen sind die einzigen, die einen Finanzierungsbeitrag im Zusammenhang mit dem Präventionsgesetz leisten. Das ist der falsche Weg, weil er bedeutet, dass wir immer mehr Lasten auf die Arbeit verlagern und die Arbeitskosten in einer Weise erhöhen, dass uns auf der Einnahmenseite Schwierigkeiten durch die Arbeitslosigkeit entstehen.

Herzlichen Dank, dass Sie mir zugehört haben.

(Beifall)

Präsident Prof. Dr. Dr. h. c. Hoppe:
Schönen Dank, Rudolf Henke. Jetzt Herr Kollege Munte aus Bayern.

 

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