Prof. Dr. Dr. h. c. Scriba, Referent:
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der außerordentliche
Deutsche Ärztetag 2003 hat eine solide Beschreibung der Versorgungsstandards
im deutschen Gesundheitswesen mit internationalem Vergleich gefordert.
Mit dem 107. Deutschen Ärztetag in Bremen wurde der Wille bekundet,
sich am Aufbau einer wissenschaftlichen Versorgungsforschung in
Deutschland zu beteiligen. Von diesen beiden Deutschen Ärztetagen
hat Herr Windau auch schon gesprochen.
Die ersten konkreten Überlegungen zur Etablierung einer von
der Bundesärztekammer getragenen Versorgungsforschung entstanden am Rande des
Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer. Im Juli 2003 trafen sich
einige Experten, unter anderem die Herren Busse, Encke, Frau Kurth, Herr
Häussler und Herr Schwartz. Drei Empfehlungen dieser Gruppe wurden in der
Folgezeit wichtig: erstens die Empfehlung, dass die Schlüsseldeterminanten des
Versorgungsgeschehens in den Mittelpunkt gestellt werden sollten; zweitens,
dass die Arbeit in einer „joint commission“ gemeinsam mit der AWMF gestaltet
werden; drittens sollte der Grundsatz herrschen: Ausschreibung von Projekten.
Auf dieser Basis hat die Bundesärztekammer eine Strukturskizze
entwickelt, die die budgetneutrale Einberufung des Arbeitskreises
„Versorgungsforschung“ zur Folge hatte. Ein Viertel der Mitglieder des
Arbeitskreises wurden von der AWMF vorgeschlagen. Die Strukturskizze wurde im
Plenum des Wissenschaftlichen Beirats und in der Versammlung der AWMF sowie
erstmals orientierend im November 2003 im Vorstand der Bundesärztekammer
beraten.
Nach gemeinsamer Bestätigung der Strukturskizze im Dezember
2003 durch die Vorstände von Bundesärztekammer und Wissenschaftlichem Beirat wurden
die Mitglieder des Arbeitskreises „Versorgungsforschung“ im April 2004
durch den Vorstand der Bundesärztekammer offiziell benannt. Es sind folgende
16 Mitglieder: Herr Busse, Herr Gaebel, Herr Häussler, Herr Hoffmann, Herr
Kochen, Herr Kunath, Frau Kurth, Herr Ohmann, Herr Pfaff, Herr Raspe, Herr
Roeder, Herr Schölmerich, Herr Schwartz, Herr Selbmann, Frau Stoppe und Herr
von Troschke. Ich denke, dass es sich um eine angemessene Repräsentanz der
Scientific Community handelt. Es gibt sieben ständige Gäste, nämlich die Herren
Encke, Fuchs, Hoppe, Müller-Oerlinghausen, Ollenschläger, Schulze und Scriba.
Mit dem Vorsitzenden, Herrn Schwartz, hat der Arbeitskreis
„Versorgungsforschung“ sehr zügig – in drei Sitzungen: im Juni, im August und
im September 2004 – das Rahmenkonzept erarbeitet. Dieses wurde vom
Vorstand des Wissenschaftlichen Beirats im September zustimmend zur Kenntnis
genommen. Der Vorstand der Bundesärztekammer hat es im Oktober für weitere
Beratungen akzeptiert und am 17. Dezember 2004 verabschiedet. Dabei
wurde eine enge Anbindung einer „Ständigen Koordinationsgruppe Versorgungsforschung“
an den Vorstand des Wissenschaftlichen Beirats und die Straffung der Arbeits-
und Entscheidungsabläufe mit Dämpfung der organisationsbedingten Gremienkosten
beschlossen.
Auf der Basis dieser vielleicht etwas gründlichen Schilderung
der Entstehungsgeschichte des Rahmenkonzepts kann man wohl folgende vier Punkte
festhalten: 1. schnelles, zielorientiertes Arbeiten der Wissenschaftler,
2. Schulterschluss mit der AWMF, 3. intensive Begleitung durch
Vorstand und Plenum des Wissenschaftlichen Beirats, 4. bewährtes
Zusammenspiel von Vorstand der Bundesärztekammer und Wissenschaftlichem Beirat.
Meine Damen und Herren, es geht heute im Kern um eine Allianz
zwischen den wissenschaftlichen Fachgesellschaften und den Ärztekammern. Als
Ziele möchte ich nennen: die Sichtbarmachung der Bemühungen um Qualität und der
erreichten Qualität sowie die Verbesserung der Versorgung, wo möglich durch
Eigeninitiative, übrigens durchaus im Sinne vorhandener Aktivitäten wie der
BQS. Aber auch die ÄZQ und die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft
wären hier neben anderen zu nennen.
Wenn wir Ärzte diese beiden Ziele erreichen, wird es für
staatliche, das soll heißen: politische Eingriffe sehr viel schwieriger,
dirigistisch oder rationierend einzugreifen. Qualität ist der beste Schutz vor
allem, was wir im negativen Sinne unter Staatsmedizin verstehen. Der
zunehmenden Tendenz zur Fremdbestimmung muss durch Demonstration der eigenen
wissenschaftlichen Kompetenz in den Ärztekammern entgegengewirkt werden.
Für eine eigene wissenschaftliche Kompetenz der Ärztekammern
braucht man erstens die Solidität der Bearbeitung und zweitens Unabhängigkeit.
Natürlich muss man damit rechnen, dass eine durch Ärztekammern geförderte
Versorgungsforschung dem Vorbehalt oder sogar dem Vorwurf begegnet, sie sei
nicht unparteiisch. Dagegen helfen Transparenz der methodischen Qualität, der
Auswahl für die Förderung, der Bewertung und der Präsentation der späteren
Ergebnisse. Dagegen hilft vor allem, dass unser Ansatz eine große Zahl anerkannter
Wissenschaftler aus der „Szene“ einbringt. Es wird darauf ankommen, die
überlegene Qualität der beteiligten Wissenschaftler mit ihrer anerkannten
Unabhängigkeit eindeutig zu demonstrieren. Dementsprechend haben sich in der
Vorbereitung des heutigen Tages die 16 Kolleginnen und Kollegen für das
Rahmenkonzept und des Weiteren in Unterarbeitsgruppen engagiert.
Ein paar Worte zum bisherigen Fortschritt in den
Unterarbeitsgruppen sind angebracht. Herr Pfaff hat gemeinsam mit Herrn
Hoffmann, Frau Kurth und den Herren Ohmann, Schwartz und von Troschke
Definitionen der für die Versorgungsforschung wichtigen Begriffe ins Internet
gestellt. „www.versorgungsforschung.net“ ist die Internetadresse, unter der das
„Forum Versorgungsforschung“ der ÄZQ von Herrn Ollenschläger Verbindungen zu
allen schon existierenden, oft anders benannten Aktivitäten der
Versorgungsforschung geknüpft hat.
Nun zur inhaltlichen Definition: Versorgungsforschung ist die
wissenschaftliche Untersuchung der Versorgung von Einzelnen und der Bevölkerung
mit gesundheitsrelevanten Produkten und ärztlichen Leistungen unter
Alltagsbedingungen. „Dem Arzt über die Schulter schauen“, das macht die
Praxisrelevanz dieses Forschungsgebiets aus. Das gilt für das ganze Spektrum
vom Hausarzt bis zum Krankenhausarzt.
Die methodische/funktionale Definition lautet:
Versorgungsforschung untersucht und beschreibt die Inputs, Prozesse und
Ergebnisse der Krankheits- und Gesundheitsversorgung und versucht,
Zusammenhänge kausal zu erklären. Ziel ist es dabei, auf der Grundlage der empirischen
Untersuchungen vorhandene Versorgungskonzepte zu verbessern oder neue zu
entwickeln. Die Adresse ist die „letzte Meile des Gesundheitssystems“.
Sodann wird von Herrn Pfaff und seiner Unterarbeitsgruppe noch
die Abgrenzung der Versorgungsforschung beschrieben, also unter anderem, dass
klinische Studien zur Efficacy, bekanntlich unter Idealbedingungen
durchgeführte Wirksamkeitsstudien, nicht hinzugezählt werden.
Die Beschreibung der Methoden in der zweiten
Unterarbeitsgruppe, der von Herrn Kunath und anderen, ist weit fortgeschritten.
Das entsprechende Stichwort lautet „Solidität“. Dazu hören Sie gleich von Herrn
Schwartz noch etwas.
Zu den Datenquellen wird sich heute Frau Kurth äußern.
Die empfohlenen initialen Themenfelder werden gleich ebenfalls
von Herrn Schwartz, dem bewährten wissenschaftlichen Koordinator des
Arbeitskreises „Versorgungsforschung“, erläutert: Implementierung von
Leitlinien, Ökonomisierung der Versorgung und arztseitige Faktoren (Job
Satisfaction).
Ich denke, das skizzierte Vorgehen kann die Scientific
Community ebenso wie die Öffentlichkeit von der Qualität und der Solidität der
geplanten wissenschaftlichen Arbeit überzeugen. Ich hoffe, dass die Delegierten
das auch so sehen.
Versorgungsforschung ist überdies akademisch unterbewertet,
was die Anerkennung im Vergleich zur Grundlagenforschung und zur klinischen
Forschung betrifft. Die Fakultäten urteilen heute meist auf der Basis von
eingeworbenen Drittmitteln und vom Impact-Factor. Der Beitrag zur Verbesserung
der Versorgungsqualität als wissenschaftliche Aufgabe kommt in der Anerkennung
vielfach zu kurz. Die heutige Initiative kann durchaus dazu beitragen, das zu ändern.
Meine Damen und Herren, leider ist die Datenlage zur
Krankenversorgung in Deutschland sehr lückenhaft. Ich zitiere:
In Deutschland bestehen Defizite hinsichtlich der Daten
zum Versorgungsgeschehen.
So der Sachverständigenrat. Deshalb hat der
Sachverständigenrat vor vier Jahren mit großem Nachdruck eine Intensivierung
der Versorgungsforschung gefordert.
Es geht heute bei der Wiederholung dieses Appells an die
Verantwortlichen auch um ein ausreichend ausgestattetes, befristetes und
mehrgliedriges Förderprogramm zur Gesundheitsforschung, insbesondere zur
Versorgungsforschung. An dessen Umsetzung sollen sich BMBF und BMGS inhaltlich
und finanziell beteiligen. Die Einbindung der Kassen in Programmgestaltung,
Begutachtung von Anträgen und Bewertung der Ergebnisse soll helfen, die Versorgungsrelevanz
sicherzustellen. Wenn der Ärztetag heute beschließt, dass sich die Ärztekammern
aktiv mit einem eigenfinanzierten Programm in die Versorgungsforschung
einbringen sollen, so hat das Signalwirkung und löst hoffentlich eine
regelrechte Finanzierungslawine vonseiten der Ministerien und der Kassen aus.
Vielfältige Themen warten dringend auf Bearbeitung!
Aber nun noch einmal zur Unabhängigkeit wissenschaftlicher
Beratung. Wissenschaftler sind – wie alle Lebewesen – dem Einfluss von
Anreizmechanismen ausgesetzt. Da gibt es keinen prinzipiellen Unterschied, ob
man seine Drittmittel von der Industrie bekommen kann oder ob man von
irgendwelchen Kassenverbänden oder politischen Gruppen unterstützt wird. Daraus
folgt, dass die Offenlegung aller Verbindungen obligatorisch sein muss. Der
andere Schutzmechanismus ist darin zu sehen, dass der Wissenschaftler seinen
Ruf selbst ruiniert, wenn seine Äußerungen zu sehr durch den jeweiligen Sponsor
beeinflusst werden.
Als Aufgabe einer Qualitätssicherung der wissenschaftlichen
Beratung – das gilt übrigens auch für das IQWiG – wird neben Transparenz von
mir auch heute gefordert, zu prüfen, ob wirklich alle Evidenz berücksichtigt
wurde, ob bei der Beurteilung der Qualität der berücksichtigten Evidenz
manipuliert wurde, Ergebnisse, die in eine „unerwünschte“ Richtung deuten,
systematisch weggelassen wurden und ob über den Bereich des tatsächlichen
Untersuchungsgegenstandes weit hinausgehende Aussagen gemacht werden.
Diese Liste lässt sich ergänzen. Im Übrigen vermag hier gerade
die offene, interdisziplinäre wissenschaftliche Diskussion ihre reinigende Wirkung
gegenüber jedweder Manipulation zu entfalten. Wir meinen, dazu beitragen zu
müssen.
Meine Damen und Herren, jedes wissenschaftliche Ergebnis kann
Auswirkungen haben, die in (gesellschafts-)politischen, standespolitischen,
rechtlichen, ökonomischen, sozialen, moralischen oder ethischen Dimensionen und
Bereichen Bedeutung haben. Schwierigkeiten in der Diskussion zwischen Wissenschaftlern
und Nichtwissenschaftlern beruhen unter anderem auch darauf, dass die
natürliche Autorität des Wissenschaftlers in seinem Metier, das heißt in der
Wissenschaft, bei Äußerungen zu ethischen oder politischen und auch ökonomischen
Fragen durchschimmert. So etwas wird von den Nichtwissenschaftlern dann gerne
als Arroganz aufgefasst. Es kommt darauf an, sich, also dem Wissenschaftler,
und dem jeweiligen Zuhörer klar zu machen, dass man im nicht wissenschaftlichen
Bereich mit keiner höheren Autorität spricht als jeder andere Laie. Bei
strittigen Themen sollte man im Übrigen mit einer optionsweisen Darstellung
arbeiten, wobei man dann durchaus eigene Präferenzen angeben kann.
Aber dennoch, es bleibt dabei: Die Differenz zwischen
wissenschaftlicher Empfehlung einerseits und notwendigem – ich betone:
notwendigem – ökonomischen Kompromiss im Gemeinsamen Bundesausschuss
andererseits kann man Rationierung nennen.
Was hat das nun alles mit dem Deutschen Ärztetag zu tun?
Ärztekammern sind durch Landesgesetz Körperschaften des öffentlichen Rechts mit
Pflichtmitgliedschaft aller Ärzte. Die Ärztekammern haben als sehr schwierige
Verantwortung die Doppelaufgabe: die Wahrung der beruflichen Belange der
Ärzteschaft und als hoheitliche Aufgabe die Aufsicht über die Ärzte.
Ich halte es für eine ausgesprochen glückliche Entwicklung,
dass die Bundesärztekammer weder dem neuen Institut für Qualität und
Wirtschaftlichkeit in der Medizin noch dem Gemeinsamen Bundesausschuss als
Mitglied angehört, sondern nach § 91 im Gemeinsamen Bundesausschuss nur
„angehört“ wird. Damit muss die Ärztekammer, die ja, wie gerade gesagt, für die
professionelle Qualität geradestehen soll, nicht ökonomisch-politisch
beeinflussten Entscheidungen zustimmen. Sie kann vielmehr gegebenenfalls auf
deren Qualitätsdefizite deutlich hinweisen. Es wird die Verantwortung der
Ärztekammern bleiben, ökonomisch begründete Einschränkungen der Versorgung mit
an sich angemessenen Leistungen als Rationierung zu geißeln.
Mein Fazit lautet: Qualität und Unabhängigkeit der von der
Bundesärztekammer geförderten Versorgungsforschung werden dabei helfen,
möglicherweise weniger unabhängige wissenschaftliche Beratung in ihre Schranken
zu weisen. Vor allem darin sollte man den Mehrwert eines finanziellen
Engagements der Ärzte für die Versorgungsforschung sehen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall)
Präsident Prof. Dr. Dr. h. c. Hoppe: Vielen Dank,
Herr Scriba, für diese aus der Wissenschaft begründete Einführung, die aber
durchaus auch einen politischen Touch hatte. Ich glaube, das haben wir gar
nicht missverstanden. Das soll so sein. Es handelt sich bei uns ja auch um ein
berufspolitisches Gremium. Noch einmal ganz herzlichen Dank für den gut
verständlichen Vortrag.
(Beifall)
Jetzt ist Herr Professor Schwartz an der Reihe. Er wird uns
die Themenfelder vorstellen. Ich habe Herrn Schwartz vorhin schon vorgestellt.
Ich glaube, ihn kennt sowieso jeder. Er kommt ja aus unseren Reihen. Bitte
schön, Herr Schwartz.
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