Prof. Dr. Schwartz, Referent:
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mein Thema lautet: „Versorgungsforschung
in ausgewählten Themenfeldern und ihre gesundheitspolitische Bedeutung“.
Um es klarzustellen: Die Versorgungsforschung ist in Deutschland
nicht akademisch etabliert. Es geht also nicht darum, etwas hinzuzuerfinden,
was bereits längst vorhanden ist.
Es mangelt auch an einer öffentlich-neutralen Forschungsförderung
in diesem Bereich. Dadurch haben wir eine relativ starke Dominanz von
interessengeleiteten Forschungsprojekten, beispielsweise im Rahmen so genannter
Kassenprojekte. Allein dies signalisiert auch für die nächsten Jahre eine
relative Schieflage.
Wir haben in Deutschland auch – das werden Sie von meiner
Kollegin Frau Professor Kurth hören – mehr brauchbare Datenquellen dazu als
angemessene Forschung damit und darüber. Das ist unsere Ausgangssituation.
Herr Kollege Scriba hat schon darauf hingewiesen, dass wir ein
nachhaltiges Interesse der Gesundheitspolitik an einer optimierten Verwendung
der nach der heutigen Sachlage prinzipiell knappen Mittel in der
Gesundheitsversorgung haben. Das ist ein zentrales Motiv für ein prinzipielles
Interesse an der Versorgungsforschung und deren Ergebnissen. Es ist nur die
Frage, wer diese Forschung mit welcher Fragestellung durchführt. Hier stehen
wir nicht nur in Deutschland vor dem Phänomen, dass von ökonomischer Seite seit
langem und auch erfolgreich die These vertreten wurde und wird, eine Steuerung
der Gesundheitsleistungen über Marktpreise und eine ausreichende
Preistransparenz seien für den Nutzer ebenso wie für eine Gesamtsteuerung der
Gesundheitsberufe im Sinne eines funktionierenden Marktmodells im Prinzip ausreichend;
eine Reform müsse sich nur an diesen Hauptgedanken orientieren. Inzwischen ist
klar, dass eine preisbezogene Steuerung nur in wenigen Bereichen des
Gesundheitswesens akzeptiert werden kann. In vielen anderen Bereichen – für
bestimmte Dienste, für bestimmte Krankheiten, für bestimmte Krankheitsgruppen
und Risikozustände – kommen reine Marktmechanismen aus sachlichen, aus
sozialen, aus ethischen oder aus sonstigen Gründen nicht infrage.
Dennoch, meine Damen und Herren, dienen ökonomische Preis- und
Anreizsysteme nach den verschiedenen Reformrunden der letzten Jahrzehnte im
deutschen Gesundheitssystem und in vielen anderen Gesundheitssystemen mehr denn
je als entscheidende Instrumente für Allokation und Distribution von
Gesundheitsleistungen, von Gesundheitspersonal und von Gesundheitsgütern sowohl
auf der Makro- als auch auf der Mikroebene der Versorgung.
Die Ärzteschaft wie die einzelnen Ärzte sehen sich dadurch
alltäglich verstärkt in einem inhärenten Konflikt zwischen eigenen
professionellen ethischen oder technischen Berufsstandards sowie ihren
anwaltlichen Funktionen für ihre Patienten einerseits und den ökonomisch
dominierten Entscheidungsregeln des Gesamtsystems oder ihres alltäglichen
Mikrosystems andererseits.
Meine Damen und Herren, Studien im Bereich der
alltagsbezogenen Versorgungsforschung haben im letzten Jahrzehnt in
verschiedenen Ländern solche Konflikte offen gelegt, gewissermaßen
vergegenständlicht. Aber ihre Ergebnisse waren nicht derartig abgesichert oder
sind nicht in der Weise ins allgemeine Bewusstsein gerückt worden, dass dies
bereits zu gesundheitspolitischen Konsequenzen hätte führen können. Dies ist
dem typischen Dilemma einer an einzelnen Themen oder an kleineren nationalen –
selten internationalen – Studien orientierten Form der Versorgungsforschung
geschuldet.
Nicht zuletzt unter diesem Leitgedanken hat der Arbeitskreis
„Versorgungsforschung“ gesagt: Die Versorgungsforschung soll nicht sämtliche
denkbaren Themen zu bearbeiten versuchen, sondern es sollen drei Themenfelder
als initiale Leitthemen ausgewählt werden, bei prinzipieller Offenheit
gegenüber notwendigen anderen Themen. Es geht um Leitthemen, die den genannten
Defiziten im besonderen Maße Rechnung tragen und deren Ergebnisse mit Aussicht
auf Erfolg in die fachliche und vor allem gesundheitspolitische Diskussion eingespeist
werden können.
Es sind dies – Sie hörten es bereits – der Einfluss der
Ökonomisierung der stationären und ambulanten ärztlichen Leistung auf die
Patientenversorgung und die Freiheit der ärztlichen Tätigkeit, ferner die
Implementierung von Leitlinien in den ärztlichen Alltag und ihre Effekte;
schließlich geht es um den Physician Factor, um arztseitige Faktoren bei
Gesundheitsdienstleistungen und um deren Qualität mit ihren engen Beziehungen
zur Arbeitszufriedenheit und zur Arbeitsbelastung.
Ich komme nun zum Themenfeld 1. Vor dem Hintergrund einer
fortschreitenden Verknappung der Mittel der gesetzlichen Krankenversicherung
und einer zunehmend restriktiven Definition so genannter notwendiger
medizinischer Leistungen durch nicht ärztliche Institutionen befindet sich
Deutschland aktuell in einer Phase des kompletten Umbruchs der Finanzierung
stationärer und ambulanter Gesundheitsleistungen.
Die Finanzierung von Krankenhausleistungen wird nach
Abschaffung der Kostendeckung und daran anschließenden mehreren Jahren der
Budgetierung von einer vorwiegend an der individuellen Verweildauer
orientierten Leistungsfinanzierung als Ausgangspunkt nunmehr auf eine
fallorientierte, pauschalierte Finanzierung umgestellt. Die Folge ist ein
kompletter Umbruch der Leistungserbringung sowie ein Umbruch in der Verteilung
der Fälle zwischen ambulanter und stationärer Versorgung.
Die Frage der Notwendigkeit einer stationären Behandlung wird
in diesem Zusammenhang zunehmend enger als bisher definiert. Es kommt deshalb
nicht nur zu internen, sondern auch zu externen Verteilungseffekten. Das hat
Auswirkungen auf die ambulante Versorgung. Es werden Anreize und Zwänge gesetzt
zum so genannten Fallmanagement, und zwar nicht nur aus ärztlicher Sicht,
sondern zunehmend aus ökonomischer Sicht und – vielleicht mit abnehmendem
Effekt – aus Patientensicht.
Die Versorgung im stationären Bereich wird unter anderem davon
bestimmt sein, dass weniger komplexe Fälle zukünftig eher ambulant versorgt
werden, ohne dass im ambulanten Sektor wirklich Vorsorge getroffen ist, dass
dort die entsprechenden Mittel auch vorhanden sind.
Auch im Versorgungssektor – das war im vorletzten „Deutschen
Ärzteblatt“ für den Bereich der Kardiologie sehr schlüssig dargelegt – kommt es
zu Fehlanreizen mit so genannten fraktionierten „Aufwärts-“ oder
„Abwärts“verlegungen der Patienten.
Hinzu kommt, dass das in Deutschland relativ zügig und
kompromisslos eingeführte DRG-System inkomplette oder schiefe Abbildungen
tatsächlich notwendiger Behandlungsinhalte beinhaltet. Hierzu bedarf es
möglichst rasch einer fundierten sachgemäßen Versorgungsforschung, die mögliche
Fehlentwicklungen und Lösungsansätze anhand eigener belastbarer Daten
nachweisen bzw. aufzeigen kann.
Die Beobachtung und Evaluation der aus der Umstellung der
Finanzierung von Gesundheitsleistungen resultierenden Veränderungen
hinsichtlich der Versorgungsangebote, der Versorgungsinhalte und insbesondere
der Versorgungsergebnisse ist daher in allen diesen Bereichen eine zentrale
Herausforderung für die Versorgungsforschung.
Mögliche Fragestellungen sind: Einfluss der Fallpauschalierung
auf die Versorgung chronisch kranker Patienten unter besonderer
Berücksichtigung der sektorübergreifenden Behandlung, aber auch unter Berücksichtigung
der neu zu definierenden Schnittstelle zwischen Akutbehandlung im Krankenhaus
und der Vor- und Nachbehandlung im ambulanten Bereich oder auch bei der
Rehabilitation; der Einfluss der veränderten Finanzierung auf die
Implementierung des medizinischen Fortschritts, beispielsweise in den Bereichen
der Onkologie, der Kardiologie und der Psychiatrie; der Einfluss der geänderten
Rahmenbedingungen auf das regionale Versorgungsangebot; die Auswirkungen auf
die Patientenzufriedenheit, die ärztlichen Arbeitsbedingungen und die ärztliche
Weiterbildung.
Der Mehrwert für die Ärzteschaft liegt zusammengefasst in
einer angemessenen Einflussnahme auf die Anpassung und die Fortschreibung der
Vergütung. Das setzt in einem datengestützten fallpauschalierenden System wie
dem DRG-System voraus, dass auf der Basis eigener realitätsgerechter Daten argumentiert
werden kann. Das gilt, meine Damen und Herren, selbstverständlich gleichermaßen
für die zentrale ambulante Vertragsregelung bei Disease-Management-Programmen,
Strukturverträgen etc. In diesem Zusammenhang wird das Angebot der
Kassenärztlichen Bundesvereinigung, mit diesem Projekt zu kooperieren, von
besonderer Bedeutung sein.
Ich komme zum Themenfeld 2, der Implementierung von Leitlinien
in den ärztlichen Alltag und ihren Effekten. Ich erinnere daran:
Behandlungsleitlinien sind systematisch entwickelte Aussagen, die den
gegenwärtigen Erkenntnisstand wiedergeben und den behandelnden Ärzten und ihren
Patienten die Entscheidungsfindung erleichtern sollen. Sie stellen eine Quelle
von aktuellem externen Wissen dar, aus der der Arzt bei der Behandlung eines
Patienten schöpfen kann. Der Arzt muss dieses Wissen in Gleichklang mit seinem
eigenen Können und den Bedürfnissen des Patienten bringen und dann entsprechend
handeln können.
Dies ist zuallererst ein intraprofessioneller Anspruch. In den
letzten Jahren werden Leitlinien aber immer stärker im Zuge so genannter
individualisierter Verträge oder Disease-Management-Programme oder
Managed-Care-Versorgungsformen zur Grundlage vertraglicher Vereinbarungen. Sie
überschreiten damit die Grenze eines intraprofessionellen Standards zu einer
extraprofessionellen und sogar ökonomischen Anforderung.
Erst nach der Implementierung in den ärztlichen Alltag kann
der Nutzen einer Leitlinie zum Tragen kommen und erst dann evaluiert werden.
Das geschieht gegenwärtig in Deutschland praktisch nicht. Eigentlich sollte
erst eine unter Alltagsbedingungen evaluierte Leitlinie Eingang in Verträge
finden.
Die bisherige Evidenzlage zu den Leitlinieneffekten ist in
Deutschland, wie zu erwarten, nicht besonders hoch. Es fehlen vielfach gut
geplante und gut durchgeführte Studien. Da die Behandlungsstrategien im
ärztlichen Alltag in der Regel auch starke kulturelle Elemente enthalten, ist
eine Übertragung von Studienergebnissen aus den Niederlanden und aus den USA
auf deutsche Verhältnisse nicht oder jedenfalls nicht ohne weiteres möglich.
Eine systematische Untersuchung von Leitlinien in Deutschland
sollte bei der Präsentation der Leitlinie beginnen und beim Nutzen für den
Patienten und den Arzt enden. Als Zwischenstufen können der Erkenntnisgewinn
bei Ärzten und Patienten, die gewonnene Bereitschaft zur Umsetzung bei beiden
und die tatsächliche Verbesserung der Prozessqualität dienen. Dass dazu
geeignete Studiendesigns notwendig sind, versteht sich von selbst. Genau daran
mangelt es.
Ich komme zum letzten Themenfeld, dem Physician Factor. Meine
Damen und Herren, arztseitige Faktoren im Prozess sind maßgebliche
Einflussfaktoren in der Versorgung, die sich als Physician Factor der
patientenseitigen Einflussgröße gegenüberstellen lassen. Der Physician Factor
hat in der bisherigen Versorgungsforschung zu wenig Aufmerksamkeit erfahren.
Jüngste Studien zu diesem Thema zeigen, dass die Arbeitszufriedenheit von
Ärzten – analog anderer unmittelbar am Patienten arbeitender Gesundheitsberufe
– nicht nur mit der Gesundheit und dem Wohlbefinden von Ärzten eng assoziiert
ist, sondern auch mit der Patientenzufriedenheit und sogar mit der gesamten
Behandlungsqualität.
Darüber hinaus hat der Arztfaktor eine gesundheitsökonomische
und damit gesamtwirtschaftliche Bedeutung, da er nicht nur direkt etwa 25
Prozent der Gesundheitskosten initiiert, sondern indirekt etwa 70 Prozent der
Gesundheitsausgaben veranlasst. Um so verwunderlicher ist es, dass dieser
Bereich wissenschaftlich vernachlässigt oder bisher einseitig ökonomisch
untersucht worden ist.
Es gibt Hinweise darauf, dass im letzten Jahrzehnt die
ärztliche Arbeitszufriedenheit abgenommen hat und dass die ständige
Reorganisation der Versorgungssysteme und der hohe Druck auf Ärzte dabei eine
signifikante Rolle spielen. Dies ist das Ergebnis von drei empirischen Studien.
Die Arbeitszufriedenheit von Ärzten ist tatsächlich durch fünf
Dimensionen charakterisiert. Sie betrifft zum einen die Patientenversorgung
selbst, also die Wahrnehmung der Qualität der eigenen Versorgung, das
Kompetenzerleben, die Autonomie und auch die persönliche Beziehung zu den
Patienten.
Es geht zweitens um die Arbeitsbelastung, beispielsweise um
das Stressniveau bei der Arbeit, um das Ausmaß von Administration und die
verfügbare Zeit für Familie, Freunde und Freizeit.
Drittens geht es natürlich auch um Einkommen und Prestige. Es
geht um Form und Höhe des derzeitigen Einkommens und den damit verbundenen
sozialen Status. Es geht um die persönliche Befriedigung, beispielsweise die
intellektuelle Stimulation durch die Arbeit, und es geht um professionelle
Beziehungen, beispielsweise die professionellen Beziehungen zu Kollegen oder zu
nicht ärztlichen Teammitgliedern.
Hier wird deutlich, meine Damen und Herren, dass eine
ökonomische und gesundheitliche Steuerungstheorie, die nur von finanziellen
Anreizen ausgeht, an der tatsächlichen Berufskultur der Ärzte empirisch und
tatsächlich vorbeizielt.
Ich möchte Ihnen zum Abschluss ein Beispiel aus diesem Bereich
vorstellen. Wir haben vor wenigen Wochen eine Job-Satisfaction-Studie
durchgeführt. Ich bitte alle niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte um
Verzeihung, dass ich dies zeige. Hier wird manches deutlich, was natürlich genauso
für den ambulanten Sektor gelten würde.
Man sieht eine Hierarchie der Zufriedenheitsfaktoren. Wir
haben 860 Ärzte befragt. Finanzielle Anreize sind durchaus wichtig. Aber andere
Faktoren rangieren sogar noch höher. Wenn es um die Zufriedenheit geht, sieht
man bei den finanziellen Anreizen derzeit die größte Diskrepanz. Es gibt aber
auch andere Bereiche, die außerordentlich wichtig sind. Hier wird die
Mehrdimensionalität des Prozesses der ärztlichen Leistungserbringung besonders
deutlich.
Ich möchte zum Schluss etwas zu dem methodischen Rahmen sagen.
Herr Scriba hat es bereits angedeutet: Die Versorgungsforschung ist eine
multidisziplinäre Aktivität. Hier geht es nicht nur um das Tätigwerden von
klinischen Disziplinen, sondern es geht auch um Methoden der Epidemiologie, der
Soziologie, der Psychologie und auch der Ethik. Eine bedeutende Schwierigkeit
von Health Service Research bestand in der Vergangenheit darin, dass sie
oftmals nicht auf einem gemeinsam definierten methodischen Rahmen basierte. Die
wissenschaftliche, ökonomische und politische Akzeptanz und Durchsetzungskraft
von Versorgungsforschung ist aber erheblich abhängig von der methodischen Studienqualität.
Daher hat der Arbeitskreis 2 „Versorgungsforschung“ des Wissenschaftlichen
Beirats sich intensiv um die Aufstellung und die Anwendung methodischer
Richtlinien für „gute wissenschaftliche Praxis“ bemüht. Er hat dafür Sorge
getragen, dass eine enge Zusammenarbeit mit den Fachgesellschaften erfolgte. Er
hat ferner die eigene Weiterentwicklung für „gemischte“ Methodenansätze, wie
sie für viele Studien unentbehrlich sind, vorangetrieben. Die Arbeitsgruppe
wird im Zusammenwirken mit dem Wissenschaftlichen Beirat dafür Sorge tragen,
dass diese Richtlinien in den Fachgesellschaftlichen und in den Forschungsförderungseinrichtungen
verbreitet und kommuniziert werden.
Ziel muss es sein, nicht nur eine mehr und stärker an den
professionellen Fragen der an den Ärzten orientierten Versorgungsforschung
durchzuführen, sondern diese Forschung im deutschen Raum inhaltlich und
methodisch richtig, angemessen und zeitnah durchzuführen.
Meine Kollegin Frau Kurth wird jetzt Ausführungen zur
Datenlage bei der Versorgungsforschung machen. Mein Fazit lautet: Die deutsche
Ärzteschaft braucht eine gute Versorgungsforschung. Sie wird der deutschen
Ärzteschaft nützen.
Ich danke Ihnen.
(Beifall)
Präsident Prof. Dr. Dr. h. c. Hoppe: Vielen Dank,
Herr Schwartz, für diese präzise Darstellung dessen, was dies alles in der
Durchführung bedeutet. Sie haben uns bereits Frau Kurth angekündigt, die jetzt
noch die Datenlage schildern wird, damit wir auch wissen, dass wir nicht im
luftleeren Raum arbeiten, sondern entsprechende Daten zur Verfügung haben,
womit begonnen werden kann. Bitte schön, Frau Professor Kurth, Sie haben das
Wort.
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