TOP III: Förderung der Versorgungsforschung durch die Bundesärztekammer

2. Tag: Mittwoch, 4. Mai 2005 Nachmittagssitzung

Prof. Dr. Schwartz, Referent:
Copyright el-zorro.de, 2005. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mein Thema lautet: „Versorgungsforschung in ausgewählten Themenfeldern und ihre gesundheitspolitische Bedeutung“. Um es klarzustellen: Die Versorgungsforschung ist in Deutschland nicht akademisch etabliert. Es geht also nicht darum, etwas hinzuzuerfinden, was bereits längst vorhanden ist.

Es mangelt auch an einer öffentlich-neutralen Forschungsförderung in diesem Bereich. Dadurch haben wir eine relativ starke Dominanz von interessengeleiteten Forschungsprojekten, beispielsweise im Rahmen so genannter Kassenprojekte. Allein dies signalisiert auch für die nächsten Jahre eine relative Schieflage.

Wir haben in Deutschland auch – das werden Sie von meiner Kollegin Frau Professor Kurth hören – mehr brauchbare Datenquellen dazu als angemessene Forschung damit und darüber. Das ist unsere Ausgangssituation.

Herr Kollege Scriba hat schon darauf hingewiesen, dass wir ein nachhaltiges Interesse der Gesundheitspolitik an einer optimierten Verwendung der nach der heutigen Sachlage prinzipiell knappen Mittel in der Gesundheitsversorgung haben. Das ist ein zentrales Motiv für ein prinzipielles Interesse an der Versorgungsforschung und deren Ergebnissen. Es ist nur die Frage, wer diese Forschung mit welcher Fragestellung durchführt. Hier stehen wir nicht nur in Deutschland vor dem Phänomen, dass von ökonomischer Seite seit langem und auch erfolgreich die These vertreten wurde und wird, eine Steuerung der Gesundheitsleistungen über Marktpreise und eine ausreichende Preistransparenz seien für den Nutzer ebenso wie für eine Gesamtsteuerung der Gesundheitsberufe im Sinne eines funktionierenden Marktmodells im Prinzip ausreichend; eine Reform müsse sich nur an diesen Hauptgedanken orientieren. Inzwischen ist klar, dass eine preisbezogene Steuerung nur in wenigen Bereichen des Gesundheitswesens akzeptiert werden kann. In vielen anderen Bereichen – für bestimmte Dienste, für bestimmte Krankheiten, für bestimmte Krankheitsgruppen und Risikozustände – kommen reine Marktmechanismen aus sachlichen, aus sozialen, aus ethischen oder aus sonstigen Gründen nicht infrage.

Dennoch, meine Damen und Herren, dienen ökonomische Preis- und Anreizsysteme nach den verschiedenen Reformrunden der letzten Jahrzehnte im deutschen Gesundheitssystem und in vielen anderen Gesundheitssystemen mehr denn je als entscheidende Instrumente für Allokation und Distribution von Gesundheitsleistungen, von Gesundheitspersonal und von Gesundheitsgütern sowohl auf der Makro- als auch auf der Mikroebene der Versorgung.

Die Ärzteschaft wie die einzelnen Ärzte sehen sich dadurch alltäglich verstärkt in einem inhärenten Konflikt zwischen eigenen professionellen ethischen oder technischen Berufsstandards sowie ihren anwaltlichen Funktionen für ihre Patienten einerseits und den ökonomisch dominierten Entscheidungsregeln des Gesamtsystems oder ihres alltäglichen Mikrosystems andererseits.

Meine Damen und Herren, Studien im Bereich der alltagsbezogenen Versorgungsforschung haben im letzten Jahrzehnt in verschiedenen Ländern solche Konflikte offen gelegt, gewissermaßen vergegenständlicht. Aber ihre Ergebnisse waren nicht derartig abgesichert oder sind nicht in der Weise ins allgemeine Bewusstsein gerückt worden, dass dies bereits zu gesundheitspolitischen Konsequenzen hätte führen können. Dies ist dem typischen Dilemma einer an einzelnen Themen oder an kleineren nationalen – selten internationalen – Studien orientierten Form der Versorgungsforschung geschuldet.

Nicht zuletzt unter diesem Leitgedanken hat der Arbeitskreis „Versorgungsforschung“ gesagt: Die Versorgungsforschung soll nicht sämtliche denkbaren Themen zu bearbeiten versuchen, sondern es sollen drei Themenfelder als initiale Leitthemen ausgewählt werden, bei prinzipieller Offenheit gegenüber notwendigen anderen Themen. Es geht um Leitthemen, die den genannten Defiziten im besonderen Maße Rechnung tragen und deren Ergebnisse mit Aussicht auf Erfolg in die fachliche und vor allem gesundheitspolitische Diskussion eingespeist werden können.

Es sind dies – Sie hörten es bereits – der Einfluss der Ökonomisierung der stationären und ambulanten ärztlichen Leistung auf die Patientenversorgung und die Freiheit der ärztlichen Tätigkeit, ferner die Implementierung von Leitlinien in den ärztlichen Alltag und ihre Effekte; schließlich geht es um den Physician Factor, um arztseitige Faktoren bei Gesundheitsdienstleistungen und um deren Qualität mit ihren engen Beziehungen zur Arbeitszufriedenheit und zur Arbeitsbelastung.

Ich komme nun zum Themenfeld 1. Vor dem Hintergrund einer fortschreitenden Verknappung der Mittel der gesetzlichen Krankenversicherung und einer zunehmend restriktiven Definition so genannter notwendiger medizinischer Leistungen durch nicht ärztliche Institutionen befindet sich Deutschland aktuell in einer Phase des kompletten Umbruchs der Finanzierung stationärer und ambulanter Gesundheitsleistungen.

Die Finanzierung von Krankenhausleistungen wird nach Abschaffung der Kostendeckung und daran anschließenden mehreren Jahren der Budgetierung von einer vorwiegend an der individuellen Verweildauer orientierten Leistungsfinanzierung als Ausgangspunkt nunmehr auf eine fallorientierte, pauschalierte Finanzierung umgestellt. Die Folge ist ein kompletter Umbruch der Leistungserbringung sowie ein Umbruch in der Verteilung der Fälle zwischen ambulanter und stationärer Versorgung.

Die Frage der Notwendigkeit einer stationären Behandlung wird in diesem Zusammenhang zunehmend enger als bisher definiert. Es kommt deshalb nicht nur zu internen, sondern auch zu externen Verteilungseffekten. Das hat Auswirkungen auf die ambulante Versorgung. Es werden Anreize und Zwänge gesetzt zum so genannten Fallmanagement, und zwar nicht nur aus ärztlicher Sicht, sondern zunehmend aus ökonomischer Sicht und – vielleicht mit abnehmendem Effekt – aus Patientensicht.

Die Versorgung im stationären Bereich wird unter anderem davon bestimmt sein, dass weniger komplexe Fälle zukünftig eher ambulant versorgt werden, ohne dass im ambulanten Sektor wirklich Vorsorge getroffen ist, dass dort die entsprechenden Mittel auch vorhanden sind.

Auch im Versorgungssektor – das war im vorletzten „Deutschen Ärzteblatt“ für den Bereich der Kardiologie sehr schlüssig dargelegt – kommt es zu Fehlanreizen mit so genannten fraktionierten „Aufwärts-“ oder „Abwärts“verlegungen der Patienten.

Hinzu kommt, dass das in Deutschland relativ zügig und kompromisslos eingeführte DRG-System inkomplette oder schiefe Abbildungen tatsächlich notwendiger Behandlungsinhalte beinhaltet. Hierzu bedarf es möglichst rasch einer fundierten sachgemäßen Versorgungsforschung, die mögliche Fehlentwicklungen und Lösungsansätze anhand eigener belastbarer Daten nachweisen bzw. aufzeigen kann.

Die Beobachtung und Evaluation der aus der Umstellung der Finanzierung von Gesundheitsleistungen resultierenden Veränderungen hinsichtlich der Versorgungsangebote, der Versorgungsinhalte und insbesondere der Versorgungsergebnisse ist daher in allen diesen Bereichen eine zentrale Herausforderung für die Versorgungsforschung.

Mögliche Fragestellungen sind: Einfluss der Fallpauschalierung auf die Versorgung chronisch kranker Patienten unter besonderer Berücksichtigung der sektorübergreifenden Behandlung, aber auch unter Berücksichtigung der neu zu definierenden Schnittstelle zwischen Akutbehandlung im Krankenhaus und der Vor- und Nachbehandlung im ambulanten Bereich oder auch bei der Rehabilitation; der Einfluss der veränderten Finanzierung auf die Implementierung des medizinischen Fortschritts, beispielsweise in den Bereichen der Onkologie, der Kardiologie und der Psychiatrie; der Einfluss der geänderten Rahmenbedingungen auf das regionale Versorgungsangebot; die Auswirkungen auf die Patientenzufriedenheit, die ärztlichen Arbeitsbedingungen und die ärztliche Weiterbildung.

Der Mehrwert für die Ärzteschaft liegt zusammengefasst in einer angemessenen Einflussnahme auf die Anpassung und die Fortschreibung der Vergütung. Das setzt in einem datengestützten fallpauschalierenden System wie dem DRG-System voraus, dass auf der Basis eigener realitätsgerechter Daten argumentiert werden kann. Das gilt, meine Damen und Herren, selbstverständlich gleichermaßen für die zentrale ambulante Vertragsregelung bei Disease-Management-Programmen, Strukturverträgen etc. In diesem Zusammenhang wird das Angebot der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, mit diesem Projekt zu kooperieren, von besonderer Bedeutung sein.

Ich komme zum Themenfeld 2, der Implementierung von Leitlinien in den ärztlichen Alltag und ihren Effekten. Ich erinnere daran: Behandlungsleitlinien sind systematisch entwickelte Aussagen, die den gegenwärtigen Erkenntnisstand wiedergeben und den behandelnden Ärzten und ihren Patienten die Entscheidungsfindung erleichtern sollen. Sie stellen eine Quelle von aktuellem externen Wissen dar, aus der der Arzt bei der Behandlung eines Patienten schöpfen kann. Der Arzt muss dieses Wissen in Gleichklang mit seinem eigenen Können und den Bedürfnissen des Patienten bringen und dann entsprechend handeln können.

Dies ist zuallererst ein intraprofessioneller Anspruch. In den letzten Jahren werden Leitlinien aber immer stärker im Zuge so genannter individualisierter Verträge oder Disease-Management-Programme oder Managed-Care-Versor­gungsformen zur Grundlage vertraglicher Vereinbarungen. Sie überschreiten damit die Grenze eines intraprofessionellen Standards zu einer extraprofessionellen und sogar ökonomischen Anforderung.

Erst nach der Implementierung in den ärztlichen Alltag kann der Nutzen einer Leitlinie zum Tragen kommen und erst dann evaluiert werden. Das geschieht gegenwärtig in Deutschland praktisch nicht. Eigentlich sollte erst eine unter Alltagsbedingungen evaluierte Leitlinie Eingang in Verträge finden.

Die bisherige Evidenzlage zu den Leitlinieneffekten ist in Deutschland, wie zu erwarten, nicht besonders hoch. Es fehlen vielfach gut geplante und gut durchgeführte Studien. Da die Behandlungsstrategien im ärztlichen Alltag in der Regel auch starke kulturelle Elemente enthalten, ist eine Übertragung von Studienergebnissen aus den Niederlanden und aus den USA auf deutsche Verhältnisse nicht oder jedenfalls nicht ohne weiteres möglich.

Eine systematische Untersuchung von Leitlinien in Deutschland sollte bei der Präsentation der Leitlinie beginnen und beim Nutzen für den Patienten und den Arzt enden. Als Zwischenstufen können der Erkenntnisgewinn bei Ärzten und Patienten, die gewonnene Bereitschaft zur Umsetzung bei beiden und die tatsächliche Verbesserung der Prozessqualität dienen. Dass dazu geeignete Studiendesigns notwendig sind, versteht sich von selbst. Genau daran mangelt es.

Ich komme zum letzten Themenfeld, dem Physician Factor. Meine Damen und Herren, arztseitige Faktoren im Prozess sind maßgebliche Einflussfaktoren in der Versorgung, die sich als Physician Factor der patientenseitigen Einflussgröße gegenüberstellen lassen. Der Physician Factor hat in der bisherigen Versorgungsforschung zu wenig Aufmerksamkeit erfahren. Jüngste Studien zu diesem Thema zeigen, dass die Arbeitszufriedenheit von Ärzten – analog anderer unmittelbar am Patienten arbeitender Gesundheitsberufe – nicht nur mit der Gesundheit und dem Wohlbefinden von Ärzten eng assoziiert ist, sondern auch mit der Patientenzufriedenheit und sogar mit der gesamten Behandlungsqualität.

Darüber hinaus hat der Arztfaktor eine gesundheitsökonomische und damit gesamtwirtschaftliche Bedeutung, da er nicht nur direkt etwa 25 Prozent der Gesundheitskosten initiiert, sondern indirekt etwa 70 Prozent der Gesundheitsausgaben veranlasst. Um so verwunderlicher ist es, dass dieser Bereich wissenschaftlich vernachlässigt oder bisher einseitig ökonomisch untersucht worden ist.

Es gibt Hinweise darauf, dass im letzten Jahrzehnt die ärztliche Arbeitszufriedenheit abgenommen hat und dass die ständige Reorganisation der Versorgungssysteme und der hohe Druck auf Ärzte dabei eine signifikante Rolle spielen. Dies ist das Ergebnis von drei empirischen Studien.

Die Arbeitszufriedenheit von Ärzten ist tatsächlich durch fünf Dimensionen charakterisiert. Sie betrifft zum einen die Patientenversorgung selbst, also die Wahrnehmung der Qualität der eigenen Versorgung, das Kompetenzerleben, die Autonomie und auch die persönliche Beziehung zu den Patienten.

Es geht zweitens um die Arbeitsbelastung, beispielsweise um das Stressniveau bei der Arbeit, um das Ausmaß von Administration und die verfügbare Zeit für Familie, Freunde und Freizeit.

Drittens geht es natürlich auch um Einkommen und Prestige. Es geht um Form und Höhe des derzeitigen Einkommens und den damit verbundenen sozialen Status. Es geht um die persönliche Befriedigung, beispielsweise die intellektuelle Stimulation durch die Arbeit, und es geht um professionelle Beziehungen, beispielsweise die professionellen Beziehungen zu Kollegen oder zu nicht ärztlichen Teammitgliedern.

Hier wird deutlich, meine Damen und Herren, dass eine ökonomische und gesundheitliche Steuerungstheorie, die nur von finanziellen Anreizen ausgeht, an der tatsächlichen Berufskultur der Ärzte empirisch und tatsächlich vorbeizielt.

Ich möchte Ihnen zum Abschluss ein Beispiel aus diesem Bereich vorstellen. Wir haben vor wenigen Wochen eine Job-Satisfaction-Studie durchgeführt. Ich bitte alle niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte um Verzeihung, dass ich dies zeige. Hier wird manches deutlich, was natürlich genauso für den ambulanten Sektor gelten würde.

Man sieht eine Hierarchie der Zufriedenheitsfaktoren. Wir haben 860 Ärzte befragt. Finanzielle Anreize sind durchaus wichtig. Aber andere Faktoren rangieren sogar noch höher. Wenn es um die Zufriedenheit geht, sieht man bei den finanziellen Anreizen derzeit die größte Diskrepanz. Es gibt aber auch andere Bereiche, die außerordentlich wichtig sind. Hier wird die Mehrdimensionalität des Prozesses der ärztlichen Leistungserbringung besonders deutlich.

Ich möchte zum Schluss etwas zu dem methodischen Rahmen sagen. Herr Scriba hat es bereits angedeutet: Die Versorgungsforschung ist eine multidisziplinäre Aktivität. Hier geht es nicht nur um das Tätigwerden von klinischen Disziplinen, sondern es geht auch um Methoden der Epidemiologie, der Soziologie, der Psychologie und auch der Ethik. Eine bedeutende Schwierigkeit von Health Service Research bestand in der Vergangenheit darin, dass sie oftmals nicht auf einem gemeinsam definierten methodischen Rahmen basierte. Die wissenschaftliche, ökonomische und politische Akzeptanz und Durchsetzungskraft von Versorgungsforschung ist aber erheblich abhängig von der methodischen Studienqualität. Daher hat der Arbeitskreis 2 „Versorgungsforschung“ des Wissenschaftlichen Beirats sich intensiv um die Aufstellung und die Anwendung methodischer Richtlinien für „gute wissenschaftliche Praxis“ bemüht. Er hat dafür Sorge getragen, dass eine enge Zusammenarbeit mit den Fachgesellschaften erfolgte. Er hat ferner die eigene Weiterentwicklung für „gemischte“ Methodenansätze, wie sie für viele Studien unentbehrlich sind, vorangetrieben. Die Arbeitsgruppe wird im Zusammenwirken mit dem Wissenschaftlichen Beirat dafür Sorge tragen, dass diese Richtlinien in den Fachgesellschaftlichen und in den Forschungsförderungseinrichtungen verbreitet und kommuniziert werden.

Ziel muss es sein, nicht nur eine mehr und stärker an den professionellen Fragen der an den Ärzten orientierten Versorgungsforschung durchzuführen, sondern diese Forschung im deutschen Raum inhaltlich und methodisch richtig, angemessen und zeitnah durchzuführen.

Meine Kollegin Frau Kurth wird jetzt Ausführungen zur Datenlage bei der Versorgungsforschung machen. Mein Fazit lautet: Die deutsche Ärzteschaft braucht eine gute Versorgungsforschung. Sie wird der deutschen Ärzteschaft nützen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall)

Präsident Prof. Dr. Dr. h. c. Hoppe:
Vielen Dank, Herr Schwartz, für diese präzise Darstellung dessen, was dies alles in der Durchführung bedeutet. Sie haben uns bereits Frau Kurth angekündigt, die jetzt noch die Datenlage schildern wird, damit wir auch wissen, dass wir nicht im luftleeren Raum arbeiten, sondern entsprechende Daten zur Verfügung haben, womit begonnen werden kann. Bitte schön, Frau Professor Kurth, Sie haben das Wort.

 

© 2005, Bundesärztekammer.