Prof. Dr. Kurth, Referentin:
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nachdem wir versucht haben,
Sie standespolitisch, gesundheitspolitisch und gesundheitswissenschaftlich
davon zu überzeugen, dass die Versorgungsforschung etwas Sinnvolles
wäre, was durch die Bundesärztekammer zu fordern und zu fördern
ist, bin ich jetzt mehr für den praktischen Teil zuständig. Ich
werde versuchen, gemeinsam mit Ihnen Revue passieren zu lassen,
ob wir bei der Versorgungsforschung beim Punkt null anfangen oder
ob es schon einen gewissen Fundus gibt, auf den wir zurückgreifen
können.
Sie haben in den vorangegangenen drei Referaten gehört, dass
die Versorgung und insbesondere die Grundversorgung von recht vielen
unterschiedlichen und zum Teil sich widersprechenden Einflüssen geprägt ist.
Das sind eben nicht nur die individuelle Krankheitslast und die medizinischen
Aspekte, sondern auch ökonomische, rechtliche und ethische Fragen. Das betrifft
natürlich auch die Akzeptanz bei der Bevölkerung. Wenn man davon ausgeht, dass
es um mehr geht als um ein Kräfteparallelogramm, dann ist es das Ziel, zu
beschreiben, was diese Versorgung eigentlich ausmacht, um danach gestalten zu
können.
Ich glaube, zum ersten Mal hat Herr Pfaff das
Grundaufgabengebiet der Versorgungsforschung definiert. Danach gerät die
Versorgungsforschung in Misskredit, wenn man in diesem Kreislauf von
Beschreiben, Gestalten, Begleiten und Bewerten einen Schritt auslässt.
Gewöhnlich stolpert man, wenn man einen Schritt auslässt.
Wenn wir gestalten, ohne vorher erklärt und beschrieben zu
haben, dann ist das genauso misslich, als etwas zwar zu beschreiben und zu
erklären und auch den Ansatz der Gestaltung zu machen, ohne aber zu schauen,
was hinterher herauskommt, ohne zu evaluieren, was die Einflussnahmen bewirkt
haben.
Damit ist Gesundheitsforschung etwas, was sich zum Ziel setzt,
den gesamten Kreislauf zu durchlaufen, auch wiederholt. Sie werden zumindest
bei den Punkten Beschreibung und Bewertung mit mir einer Meinung sein, dass das
nicht ohne Daten geht. Versorgungsforschung braucht Daten. Braucht die Versorgungsforschung
aber originell neue Daten? Hier möchte ich auf die Gesundheitsberichterstattung
zu sprechen kommen. Die Gesundheitsberichterstattung führt seit mindestens 15
Jahren alles zusammen, was es an relevanten Datenquellen gibt. Hier nenne ich
zunächst die Todesursachenstatistik. Weitere Datenquellen sind die
Prozessdaten. Dazu gehört beispielsweise die Krankenhausdiagnosestatistik, dazu
gehören die Arbeitsunfähigkeitsstatistik und bestimmte Daten der gesetzlichen
Krankenversicherung und vieles andere mehr. Es ist ein Datenpool von
gegenwärtig 80 Datensätzen, die im Statistischen Bundesamt auch
vorgehalten werden. Die bekanntesten sind sicherlich die Krebsregister. Es gibt
aber auch das Schlaganfallregister, das Herzinfarktregister, das Fehlbildungsregister.
Das sind Datenquellen, aus denen Informationen gezogen werden können.
Die flexibleren Datenmengen sind diejenigen, die gestaltbar
sind, da nicht gesetzlich vorgeschrieben. Das sind derzeit die
Bevölkerungsgesundheits-Surveys und Sentinels. Ich werde zu allen diesen
Datenpools Beispiele anführen und darstellen, welche
versorgungsforschungsrelevanten Daten dort jeweils enthalten sind.
Gesundheitsberichterstattung, wie sie auch in meinem Institut betrieben wird,
schließt ja Versorgungsaspekte nicht aus. Das heißt, bei jedem Bericht versucht
man, genau zu schauen, was es an Versorgungsaspekten gibt. Das ist natürlich
breit gestreut und nicht immer ausreichend, aber mehr, als man denkt.
Ich beginne jetzt mit einer Palette von Beispielen, die ich
etwas schnell abhandle; denn die Wirkung verpufft, wenn ich auf einzelne
Beispiele eingehe. Ich beginne mit dem Krebsregister. Krebsregisterdaten sind
in Anbetracht einer Bevölkerungsentwicklungsprognose, wie sie das Statistische
Bundesamt 2001 abgegeben hat, in der Lage, Bedarfe zu definieren.
Die grafische Darstellung des Altersaufbaus der Bevölkerung in
Deutschland verliert immer mehr die Form eines Baumes. Man könnte sagen, hier
zeigt sich die Form einer Keule. In Anbetracht geringer Geburtenzahlen und
einer steigenden Lebenserwartung der Bevölkerung kommen wir spätestens im Jahr
2030 zu dem Punkt, an dem mehr als die Hälfte der Bevölkerung älter als
50 Jahre ist.
Was bedeutet das – neben anderen Aspekten – für die
onkologische Versorgung? Aus den Krebsregisterdaten in der Bevölkerungsgruppe
über 65 Jahren ersehen wir, dass die Quote in den letzten 20 Jahren
konstant geblieben ist. Das heißt, wir haben bei den Neuerkrankungshäufigkeiten
keine Dynamik. Wir wissen, dass die Neuerkrankungshäufigkeit in den älteren
Altersgruppen höher ist als in den jüngeren. Hier ist aber wenig Dynamik
nachzuweisen.
Dynamik kommt dann in die Daten, wenn wir es auf die
Bevölkerungsstruktur umrechnen. Dann kämen wir vom Stand 1998, als die Zahl der
Krebserkrankungsfälle über die Krebsregistrierung geschätzt wurde, bis zum Jahr
2050 auf das Anderthalbfache. Hier muss man die Versorgung der zu erwartenden
Kranken sicherstellen.
Mit ähnlichen Registern, mit denen Altersprognosen gemacht
werden, kann man durchaus die Frage beantworten, die vorhin ein Kollege
gestellt hat: Wieso reicht die Zahl der Ärzte nicht aus, obwohl die Bevölkerung
schrumpft? Vielleicht hat das auch mit der Versorgungsstruktur und dem Bedarf
zu tun, den eine alternde Bevölkerung bewirkt.
Krebsregisterdaten sind auch geeignet, die Wirksamkeit von
Früherkennungsmaßnahmen zu evaluieren, ohne dass es unter Versorgungsaspekten
registriert wird.
Die Inzidenz an Prostatakrebs in den USA, die 1991 mit der
Einführung eines flächendeckenden Screenings in Form der PSA-Testung einen ganz
rasanten Aufschwung gezeigt hat, ist zwar wieder gesunken, ist aber generell
höher als im Saarland.
Vergleichen wir die Mortalitätsraten, sehen wir, dass bei
unterschiedlicher Inzidenz in Deutschland fast dieselbe Mortalitätsrate in
Bezug auf den Krebs zu verzeichnen ist wie in den USA. Wir sehen, dass in
Deutschland bei einem Anstieg der Inzidenz – da sind wir im europäischen
Maßstab sehr weit oben – die Mortalität im Mittelfeld liegt.
Die Krebsregister sind beispielsweise auch geeignet, um
festzustellen, ob der Einsatz diagnostischer Methoden wie beispielsweise der
PSA-Testung dazu führt, dass bisher symptomlose Erkrankungen entdeckt werden,
oder ob sie tatsächlich die Überlebensraten der so untersuchten Bevölkerung
verlängern.
Ich komme nunmehr zu den meldepflichtigen Krankheiten. Im
Grunde müsste jeder von Ihnen wissen, welche Krankheiten aufgrund des
Infektionsschutzgesetzes seit dem Jahr 2000 meldepflichtig sind. Die Daten, die
am Robert-Koch-Institut über die Gesundheitsämter eingehen, sind nahezu perfekt
und ziemlich vollständig. So können wir feststellen, wo es Masernhäufungen gibt
und wo die Durchimpfungsraten nicht ausreichen. Wir sehen beispielsweise aber
auch, dass die Tuberkulose eine Krankheit ist, die im Rückzug ist. Bis zum Jahr
2000 ist die altersstandardisierte Inzidenz kontinuierlich gesunken. Die Zahl
der Todesfälle lag lediglich in den älteren Altersgruppen, insbesondere bei
Männern ab 70 Jahren, in einer Größenordnung von 16 auf 100 000. Bei
Frauen war es die Hälfte. In den jungen Altersgruppen ist die Zahl der
Tuberkulosefälle vernachlässigbar gering.
Vergleichen wir das mit der Zahl der Todesfälle von
Einwanderern mit Geburtsort in Osteuropa, sehen wir, dass wir in dieser Gruppe,
die natürlich prozentual nicht viel ausmacht, eine sehr höhere Inanspruchnahme
der Versorgung zu erwarten haben, sodass Tuberkulosestätten, die bei uns
vielleicht gar nicht mehr erforderlich waren, eventuell wiederbelebt werden
müssen, um dem Anstieg der Zahl der Erkrankungen zu begegnen.
Ich komme zu den Surveydaten. Surveydaten sind Informationen,
die man gezielt erhebt, ohne dass es sich um Patienten handelt, sondern man
befragt und untersucht gesunde Personen. So erhält man beispielsweise Informationen
über die Inanspruchnahme seitens der Durchschnittsbevölkerung im Lebensverlauf.
Am häufigsten werden in großen Abschnitten des Lebens die Zahnärzte in Anspruch
genommen. Ab einem Lebensalter von 70 Jahren geht das aus erklärlichen Gründen
etwas zurück.
Was die Häufigkeit der Kontaktaufnahme angeht, haben die
Allgemeinmediziner bei den Männern als auch bei den Frauen die zweite Position
inne. Die Häufigkeit der Inanspruchnahme von Internisten steigt. Die
Inanspruchnahme von Urologen ist bei Männern hoch, die Inanspruchnahme von
Gynäkologen bei Frauen sehr hoch, insbesondere bei jüngeren Frauen.
Aus dieser Art von Inanspruchnahme und der Kombination der
Inanspruchnahme von Ärzten lassen sich durchaus Versorgungsstrukturen ableiten.
Insbesondere durch das Zusammenführen mit anderen Daten haben wir anhand dieser
Informationen feststellen können, dass es nicht so ist, dass ein erhöhtes Angebot
an Ärzten dazu führt, dass die Patienten häufiger zum Arzt gehen. Es scheint
nach wie vor so zu sein – das ist ja auch etwas Vernünftiges –, dass der
Gesundheitszustand die Rate der Arztkontakte beeinflusst.
Ein aktuelles Thema ist die Hormontherapie bei Frauen. Ob es
überhaupt relevant ist, darüber zu sprechen, ob die Hormonersatztherapie bei
Frauen über 45 Jahren ein Thema von Relevanz ist, kann kaum jemand so gut
abbilden wie wir. Wir haben für die Zeiträume 1984 bis 1986, 1987 bis 1988 und
1990 bis 1991 die Informationen, wie häufig Frauen Hormone substituieren. Der
Prozentsatz bei den 50-jährigen Frauen liegt in der Untersuchung 1990 bis 1991
bei 25 Prozent; 1998 waren es sogar 30 Prozent. Dies ist also ein für die Versorgungsforschung
relevantes Thema.
Wir haben in den Gesundheitssurveys gefragt, ob Bluthochdruck
vorhanden ist. Es ist schon erstaunlich, dass von jenen Probanden, die mit
großer Überzeugung behauptet haben, sie seien keine Hypertoniker, die auch
nicht in Behandlung waren, bei den Männern 20,9 Prozent und bei den Frauen
13,7 Prozent hyperton waren. Diesen Personen haben wir empfohlen, ihren
Hausarzt zu kontaktieren. Die Borderline-Gruppe ist auch nicht unbeträchtlich.
Auch diejenigen, die Hypertoniker sind und entsprechend mit Medikamenten
behandelt werden, haben nicht die entsprechenden guten Blutdruckwerte gezeigt.
Wir haben bei den Männern 65 Prozent und bei den Frauen sogar 67 Prozent
mit erhöhten Blutdruckwerten gesehen.
Bei den psychischen Störungen ist festgestellt worden – das
haben die Psychiater selber gemacht –, dass 63 Prozent der tatsächlich
behandlungsbedürftigen Probanden mit Krankheitssymptomen nicht behandelt
werden. Hier wurde an Tausenden von Probanden eine Unterversorgung
festgestellt.
Damit komme ich zur regelmäßigen Teilnahme an der
Krebsfrüherkennung. Sie wird bei den Frauen ab 25 Jahren, bei den Männern ab 45
Jahren von der Krankenkasse finanziert. Die Frauen sind
früherkennungsbewusster, jedenfalls im Alter von 25 Jahren. In diesem Alter
wird der Gynäkologe auch noch regelmäßig kontaktiert. Erst im Alter von 65
Jahren treffen sich Männer und Frauen bei einer Quote von 50 Prozent. Dabei
geht es um die regelmäßige jährliche Teilnahme an Krebsfrüherkennungsmaßnahmen,
nicht um sporadische Schritte. Die Männer halten nicht viel davon, zur
Früherkennung zu gehen – unabhängig von der Schicht sind es ungefähr 40
Prozent, die dem positiv gegenüber eingestellt sind –, bei den Frauen gibt es
einen Unterschied von etwa 20 Prozent zwischen der Unter- und der Oberschicht.
Ich komme jetzt zu der Frage, ob Mortalitätsfragen etwas mit
der Versorgungsforschung zu tun haben, da ja die Mortalität der Endpunkt jeder
Versorgung ist und man nicht vermuten würde, dass dies der Fall ist. Dazu gibt
es eine neue Publikation, bei der man die Entwicklung der Mortalitätsraten nach
Einführung des Cis-Platins als Standardtherapie betrachtet hat. Es ist
erstaunlich – die drei Autoren sagen: es ist erschütternd –, dass bei Umsetzung
dieser Therapie in einem Münchener Tumorzentrum die Mortalitätsrate rasant
gesunken ist. In Westdeutschland hat man sehr viel länger gebraucht, um auf
dasselbe Niveau zu kommen. In Ostdeutschland setzte diese rasante Entwicklung
nach unten erst 1990 ein. Sie sehen auf dem Schaubild, wie sehr die Mortalität
auch in den anderen Regionen Deutschlands hätte beeinflusst werden können, wenn
man sich an die Therapiestandards gehalten hätte.
Kompetenznetzwerke gibt es mittlerweile allenthalben. Es gibt
die Kompetenznetzwerke Rheuma, Schizophrenie, Herz-Kreislauf-Erkrankungen,
Herzinfarkt, Hepatitis. Allen diesen Kompetenznetzwerken ist gemeinsam, dass
sie Daten erheben: zur Versorgung, zur Therapie, zum Zustand der Patienten
vorher und nachher. Frau Zink hat im Jahre 2004 das Verordnungsspektrum bei
rheumatoider Arthritis 1996 und 2001 verglichen. Sie hat festgestellt, dass
sich im Verlauf von sechs Jahren ein grundlegender Wandel vollzogen hat. Man kann
im Verlauf der Therapie positive Veränderungen bei den Patienten feststellen.
Wenn das so ist – das war der Ausgangspunkt der Arbeitsgruppe
„Daten“ –, würde es sich durchaus lohnen, dass man sämtliche Datensätze, die
versorgungsrelevante Informationen enthalten könnten, durchscreent. Dieser
Aufgabe hat sich die Arbeitsgruppe „Daten“ angenommen. Wir haben ein Formblatt
entwickelt mit Angaben darüber, wer was wie erhebt, welche Daten zugänglich
sind, welches der Inhalt ist, ob die Erhebung regelmäßig erfolgt.
Wir haben uns dabei an der Struktur des Versorgungsprozesses
orientiert. Ausgangspunkt ist die Struktur des Versorgungsprozesses mit Input,
Throughput, Output und Outcome. Alle diese Komponenten der Versorgung wurden jeweils
von der Patientenseite und der Systemseite her abgebildet. Sieben Professoren
haben die Inhalte der Datensätze analysiert. Es gibt in Göttingen bei Professor
Kochen ein Hausärzte-Panel. Es ist jetzt in die zweite Förderungsphase durch
das BMBF gekommen. Es gibt ein Netz von Hausärzten, die kontinuierlich sowohl
hinsichtlich ihrer Patienten als auch hinsichtlich ihrer Parameter in der
Praxis befragt werden. Es wird dokumentiert, welche Art der Behandlung, welche
Kontaktraten, welche Patientenzahlen vorliegen. Darüber hinaus wird der
Heilungsprozess dokumentiert.
Der Output ist natürlich systembezogen; das sind die
Abrechnungsdaten der Hausärzte. Außerdem wird dokumentiert, was sich an Outcome
im Sinne einer nachhaltigen Verbesserung des Gesundheitszustands ergibt.
Es wird immer gesagt, Versorgungsforschung solle vor Ort
stattfinden. Dieses Hausärzte-Panel ist ein Beispiel dafür, wie man die dafür
erforderlichen Daten erheben kann. Das setzt natürlich die Bereitschaft der
Ärzte zur Beteiligung voraus.
Die Tumorzentren – nicht zu verwechseln mit Krebsregistern –
registrieren
ebenfalls die Parameter ihrer Patienten: das soziale Verhalten, das Stadium der
Krebserkrankung, die Therapie, die Versorgungsvernetzung, die
Interdisziplinarität der Therapie von Krebserkrankungen. Daraus werden wiederum
Versorgungsstandards entwickelt. Diese Tumorzentren haben, ohne dass sie von
vornherein Versorgungsforschungszentren darstellen, einen sehr großen Fundus an
versorgungsrelevanten Daten, die unter diesem Blickwinkel noch nicht
ausreichend untersucht sind.
Damit komme ich zum Kompetenznetzwerk Schizophrenie. Bei
diesem Kompetenznetzwerk gibt es verschiedene Datenerhebungen: Es gibt
Erhebungen zur Therapie, zur Struktur, zur Vernetzung. Die Studiendokumentation
beinhaltet die Krankheitsverläufe bei den Patienten: Wie kommt der Patient in
die Versorgungseinrichtung? Welche Therapie erhält er? Mit welchem Ergebnis?
Wenn diese Daten bei einer Vielzahl von Patienten erhoben werden, ist dies die
Basis für Qualitätssicherung, für das Setzen von Standards oder für die
Formulierung von Leitlinien.
Es gibt eine Vielzahl von Datensätzen, die wir unter diesen
Blickwinkeln beleuchtet haben. Es gab keinen einzigen, bei dem wir nicht fündig
geworden wären, was die Relevanz für die Versorgungsforschung angeht. Natürlich
gibt es die GKV-Daten, und zwar sowohl zum ambulanten als auch zum stationären
Bereich. Diese Daten sind für die Versorgungsforschung nicht von vornherein
zugänglich.
Im GKV-Modernisierungsgesetz gibt es einen Paragraphen zur
Datentransparenz und zum Datenaustausch, der vorsieht, dass Daten zur
Versorgungsforschung zur Verfügung gestellt werden. Ich habe gesehen, dass es
hier einen Antrag gibt, der genau das fordert, was im Gesetz bereits steht. Ich
glaube, dass diese Arbeiten, die von Ihnen selbst durchgeführt werden, einen
noch zu hebenden Schatz auf dem Gebiet der Versorgungsforschung darstellen.
Weitere untersuchte Datenquellen sind beispielsweise die
amtliche Schwerbehindertenstatistik, die Mortalitätsstatistik oder das
sozioökonomische Panel, bei dem Arbeitsunfähigkeitsdaten, Krankheitsdaten und
Kuren abgefragt werden. Spätestens an dieser Stelle tauchte die Frage auf: Wie
weit wollen wir diese Dokumentationen fortführen? Man wird nie den Punkt
erreichen, dass man sagen kann, sämtliche Daten seien dokumentiert. Man kann
den Spieß umdrehen und erklären: Dann führen wir eine Defizitanalyse durch. Das
Ergebnis einer Defizitanalyse hängt natürlich von der Fragestellung ab.
Ihnen sind von Herrn Schwartz drei Schwerpunkte vorgestellt
worden: die Folgen der Ökonomisierung der stationären und ambulanten ärztlichen
Leistungen auf die Patientenversorgung und die Freiheit der ärztlichen
Tätigkeit; die Implementierung von Leitlinien in den ärztlichen Alltag und ihre
Effekte sowie der Physician Factor. Hier waren die Datenmengen, die ich Ihnen
vorgestellt habe, nicht mehr so ergiebig. Eigentlich könnte man nur aus dem
Hausärzte-Panel ableiten, welche Rolle der Physician Factor spielt.
Die Ökonomisierung lässt sich recht gut in etlichen
Datenmengen abbilden,
ebenso die Implementierung von Leitlinien.
Wie aufwendig ist es, eine Versorgungsforschung hinsichtlich
dieser drei Themen durchzuführen?
Es gibt genügend Daten, die genutzt werden können; es müssen
nicht immer neue Daten erhoben werden. Es geht aber nicht generell ohne
zusätzliche Erhebungen. Die optimale Lösung besteht natürlich in der
Verknüpfung von Existierendem mit Neuem.
Auf dem 107. Deutschen Ärztetag wurde beschlossen:
Der Deutsche Ärztetag setzt sich dafür ein, fragwürdige
Studien von Politikberatern nach Veröffentlichung durch renommierte Institute
prüfen zu lassen.
Wenn Sie immer fragwürdige Studien prüfen lassen, betreiben
Sie eine Art von Versorgungsforschung. Sie gehen nicht in die Offensive, Sie
führen keine eigenen Studien durch. Wenn Sie allerdings selber Studien
durchführen, muss man dieselben Maßstäbe, die man an andere anlegt, gegen sich
selber gelten lassen. Die Überprüfung auf methodische Standards im Hinblick auf
die Qualität der durchgeführten Studien und im Hinblick auf Transparenz ist
etwas, was für alle wissenschaftlichen Studien gilt. Im Arbeitskreis
„Versorgungsforschung“ werden diese Gesichtspunkte akribisch zusammengetragen.
Auf diesem Ärztetag sind mir folgende zwei Dinge aufgefallen.
Ein Redner hat hier gesagt: Wir müssen das Gebiet der Versorgungsforschung
selbst besetzen. Ich glaube, die Versorgungsforschung beinhaltet so viele
Aspekte, dass man gar nicht alles besetzen kann. Besetzen kann man allerdings
eigene Themen. Diese Themen sind für die Universitäten und das BMBF vielleicht
gar nicht sosehr von Bedeutung. In diesem Falle hat man das Recht, selbst zu
prägen, was geforscht wird. Allerdings hat man nicht das Recht, die Ergebnisse
zu prägen.
Der zweite Aspekt, den ich ansprechen möchte, ist folgender:
Eine mir bekannte Journalistin fragte mich, ob ich Versorgungsforschung pro
domo betreiben wolle. Das ist ein Vorurteil, mit dem die Bundesärztekammer
leben muss: Wenn sie die Versorgungsforschung propagiert, geschieht das
natürlich pro domo.
Ich denke, die dargelegten wissenschaftlichen Voraussetzungen
müssen gegeben sein, damit das Geld, das man für die Versorgungsforschung
aufwendet, nicht in den Sand gesetzt ist. Anderenfalls hätte man keine größere
Akzeptanz als bei dem, was Sie „Studien von fragwürdigen Politikberatern“
genannt haben.
Ich bedanke mich.
(Beifall)
Präsident Prof. Dr. Dr. h. c. Hoppe: Vielen
herzlichen Dank, Frau Professor Kurth, für diesen engagierten und
inhaltsreichen Vortrag. Ich darf Sie ein wenig korrigieren: Wir haben nicht von
„fragwürdigen Politikberatern“ gesprochen, sondern von „fragwürdigen Studien
von Politikberatern“. Das andere stimmt allerdings auch; das haben wir aber
nicht gemeint.
(Heiterkeit – Beifall)
Unter uns ist jetzt Frau Dr. Duhme aus Hamburg, die zu uns
gekommen ist, um uns zu zeigen, wie man sich gymnastisch fit hält, um den Rest
des Tages besonders gut zu überstehen. Unsere Referentin und die drei
Referenten sind gern bereit, diese Demonstration mitzumachen. Wir opfern jetzt
einige Minuten diesem gymnastischen Training.
Ich bedanke mich bei Frau Dr. Duhme und kann nur sagen: Wie
schön ist doch der Bolero! Eine so schöne Musik!
(Beifall)
Da macht es einem überhaupt nichts aus.
Wir haben jetzt eine Stunde Zeit zur Diskussion dieses Themas.
Um 16.30 Uhr müssen wir einen Break machen, weil uns einer der Referenten zum
Thema „Krankheit und Armut“, nämlich Herr Professor Siegrist, nur heute zur
Verfügung steht, weil er morgen in Prag sein muss. Deshalb möchten wir die
Referate zu diesem Tagesordnungspunkt noch heute hören. Es ist gelegentlich
vorgekommen, dass wir aus Zeitgründen so verfahren müssen. Ich bitte die Referentin
und die Referenten zum Tagesordnungspunkt III um Verständnis.
Wir beginnen jetzt mit den Wortmeldungen zum
Tagesordnungspunkt III. Als erster Redner bitte Herr Dr. Clever aus Baden-Württemberg.
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