TOP III: Förderung der Versorgungsforschung durch die Bundesärztekammer

2. Tag: Mittwoch, 4. Mai 2005 Nachmittagssitzung

Prof. Dr. Kurth, Referentin:
Copyright el-zorro.de, 2005. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nachdem wir versucht haben, Sie standespolitisch, gesundheitspolitisch und gesundheitswissenschaftlich davon zu überzeugen, dass die Versorgungsforschung etwas Sinnvolles wäre, was durch die Bundesärztekammer zu fordern und zu fördern ist, bin ich jetzt mehr für den praktischen Teil zuständig. Ich werde versuchen, gemeinsam mit Ihnen Revue passieren zu lassen, ob wir bei der Versorgungsforschung beim Punkt null anfangen oder ob es schon einen gewissen Fundus gibt, auf den wir zurückgreifen können.

Sie haben in den vorangegangenen drei Referaten gehört, dass die Versorgung und insbesondere die Grundversorgung von recht vielen unterschiedlichen und zum Teil sich widersprechenden Einflüssen geprägt ist. Das sind eben nicht nur die individuelle Krankheitslast und die medizinischen Aspekte, sondern auch ökonomische, rechtliche und ethische Fragen. Das betrifft natürlich auch die Akzeptanz bei der Bevölkerung. Wenn man davon ausgeht, dass es um mehr geht als um ein Kräfteparallelogramm, dann ist es das Ziel, zu beschreiben, was diese Versorgung eigentlich ausmacht, um danach gestalten zu können.

Ich glaube, zum ersten Mal hat Herr Pfaff das Grundaufgabengebiet der Versorgungsforschung definiert. Danach gerät die Versorgungsforschung in Misskredit, wenn man in diesem Kreislauf von Beschreiben, Gestalten, Begleiten und Bewerten einen Schritt auslässt. Gewöhnlich stolpert man, wenn man einen Schritt auslässt.

Wenn wir gestalten, ohne vorher erklärt und beschrieben zu haben, dann ist das genauso misslich, als etwas zwar zu beschreiben und zu erklären und auch den Ansatz der Gestaltung zu machen, ohne aber zu schauen, was hinterher herauskommt, ohne zu evaluieren, was die Einflussnahmen bewirkt haben.

Damit ist Gesundheitsforschung etwas, was sich zum Ziel setzt, den gesamten Kreislauf zu durchlaufen, auch wiederholt. Sie werden zumindest bei den Punkten Beschreibung und Bewertung mit mir einer Meinung sein, dass das nicht ohne Daten geht. Versorgungsforschung braucht Daten. Braucht die Versorgungsforschung aber originell neue Daten? Hier möchte ich auf die Gesundheitsberichterstattung zu sprechen kommen. Die Gesundheitsberichterstattung führt seit mindestens 15 Jahren alles zusammen, was es an relevanten Datenquellen gibt. Hier nenne ich zunächst die Todesursachenstatistik. Weitere Datenquellen sind die Prozessdaten. Dazu gehört beispielsweise die Krankenhausdiagnosestatistik, dazu gehören die Arbeitsunfähigkeitsstatistik und bestimmte Daten der gesetzlichen Krankenversicherung und vieles andere mehr. Es ist ein Datenpool von gegenwärtig 80 Datensätzen, die im Statistischen Bundesamt auch vorgehalten werden. Die bekanntesten sind sicherlich die Krebsregister. Es gibt aber auch das Schlaganfallregister, das Herzinfarktregister, das Fehlbildungsregister. Das sind Datenquellen, aus denen Informationen gezogen werden können.

Die flexibleren Datenmengen sind diejenigen, die gestaltbar sind, da nicht gesetzlich vorgeschrieben. Das sind derzeit die Bevölkerungsgesundheits-Surveys und Sentinels. Ich werde zu allen diesen Datenpools Beispiele anführen und darstellen, welche versorgungsforschungsrelevanten Daten dort jeweils enthalten sind. Gesundheitsberichterstattung, wie sie auch in meinem Institut betrieben wird, schließt ja Versorgungsaspekte nicht aus. Das heißt, bei jedem Bericht versucht man, genau zu schauen, was es an Versorgungsaspekten gibt. Das ist natürlich breit gestreut und nicht immer ausreichend, aber mehr, als man denkt.

Ich beginne jetzt mit einer Palette von Beispielen, die ich etwas schnell abhandle; denn die Wirkung verpufft, wenn ich auf einzelne Beispiele eingehe. Ich beginne mit dem Krebsregister. Krebsregisterdaten sind in Anbetracht einer Bevölkerungsentwicklungsprognose, wie sie das Statistische Bundesamt 2001 abgegeben hat, in der Lage, Bedarfe zu definieren.

Die grafische Darstellung des Altersaufbaus der Bevölkerung in Deutschland verliert immer mehr die Form eines Baumes. Man könnte sagen, hier zeigt sich die Form einer Keule. In Anbetracht geringer Geburtenzahlen und einer steigenden Lebenserwartung der Bevölkerung kommen wir spätestens im Jahr 2030 zu dem Punkt, an dem mehr als die Hälfte der Bevölkerung älter als 50 Jahre ist.

Was bedeutet das – neben anderen Aspekten – für die onkologische Versorgung? Aus den Krebsregisterdaten in der Bevölkerungsgruppe über 65 Jahren ersehen wir, dass die Quote in den letzten 20 Jahren konstant geblieben ist. Das heißt, wir haben bei den Neuerkrankungshäufigkeiten keine Dynamik. Wir wissen, dass die Neuerkrankungshäufigkeit in den älteren Altersgruppen höher ist als in den jüngeren. Hier ist aber wenig Dynamik nachzuweisen.

Dynamik kommt dann in die Daten, wenn wir es auf die Bevölkerungsstruktur umrechnen. Dann kämen wir vom Stand 1998, als die Zahl der Krebserkrankungsfälle über die Krebsregistrierung geschätzt wurde, bis zum Jahr 2050 auf das Anderthalbfache. Hier muss man die Versorgung der zu erwartenden Kranken sicherstellen.

Mit ähnlichen Registern, mit denen Altersprognosen gemacht werden, kann man durchaus die Frage beantworten, die vorhin ein Kollege gestellt hat: Wieso reicht die Zahl der Ärzte nicht aus, obwohl die Bevölkerung schrumpft? Vielleicht hat das auch mit der Versorgungsstruktur und dem Bedarf zu tun, den eine alternde Bevölkerung bewirkt.

Krebsregisterdaten sind auch geeignet, die Wirksamkeit von Früherkennungsmaßnahmen zu evaluieren, ohne dass es unter Versorgungsaspekten registriert wird.

Die Inzidenz an Prostatakrebs in den USA, die 1991 mit der Einführung eines flächendeckenden Screenings in Form der PSA-Testung einen ganz rasanten Aufschwung gezeigt hat, ist zwar wieder gesunken, ist aber generell höher als im Saarland.

Vergleichen wir die Mortalitätsraten, sehen wir, dass bei unterschiedlicher Inzidenz in Deutschland fast dieselbe Mortalitätsrate in Bezug auf den Krebs zu verzeichnen ist wie in den USA. Wir sehen, dass in Deutschland bei einem Anstieg der Inzidenz – da sind wir im europäischen Maßstab sehr weit oben – die Mortalität im Mittelfeld liegt.

Die Krebsregister sind beispielsweise auch geeignet, um festzustellen, ob der Einsatz diagnostischer Methoden wie beispielsweise der PSA-Testung dazu führt, dass bisher symptomlose Erkrankungen entdeckt werden, oder ob sie tatsächlich die Überlebensraten der so untersuchten Bevölkerung verlängern.

Ich komme nunmehr zu den meldepflichtigen Krankheiten. Im Grunde müsste jeder von Ihnen wissen, welche Krankheiten aufgrund des Infektionsschutzgesetzes seit dem Jahr 2000 meldepflichtig sind. Die Daten, die am Robert-Koch-Institut über die Gesundheitsämter eingehen, sind nahezu perfekt und ziemlich vollständig. So können wir feststellen, wo es Masernhäufungen gibt und wo die Durchimpfungsraten nicht ausreichen. Wir sehen beispielsweise aber auch, dass die Tuberkulose eine Krankheit ist, die im Rückzug ist. Bis zum Jahr 2000 ist die altersstandardisierte Inzidenz kontinuierlich gesunken. Die Zahl der Todesfälle lag lediglich in den älteren Altersgruppen, insbesondere bei Männern ab 70 Jahren, in einer Größenordnung von 16 auf 100 000. Bei Frauen war es die Hälfte. In den jungen Altersgruppen ist die Zahl der Tuberkulosefälle vernachlässigbar gering.

Vergleichen wir das mit der Zahl der Todesfälle von Einwanderern mit Geburtsort in Osteuropa, sehen wir, dass wir in dieser Gruppe, die natürlich prozentual nicht viel ausmacht, eine sehr höhere Inanspruchnahme der Versorgung zu erwarten haben, sodass Tuberkulosestätten, die bei uns vielleicht gar nicht mehr erforderlich waren, eventuell wiederbelebt werden müssen, um dem Anstieg der Zahl der Erkrankungen zu begegnen.

Ich komme zu den Surveydaten. Surveydaten sind Informationen, die man gezielt erhebt, ohne dass es sich um Patienten handelt, sondern man befragt und untersucht gesunde Personen. So erhält man beispielsweise Informationen
über die Inanspruchnahme seitens der Durchschnittsbevölkerung im Lebens­verlauf. Am häufigsten werden in großen Abschnitten des Lebens die Zahnärzte in Anspruch genommen. Ab einem Lebensalter von 70 Jahren geht das aus erklärlichen Gründen etwas zurück.

Was die Häufigkeit der Kontaktaufnahme angeht, haben die Allgemeinmediziner bei den Männern als auch bei den Frauen die zweite Position inne. Die Häufigkeit der Inanspruchnahme von Internisten steigt. Die Inanspruchnahme von Urologen ist bei Männern hoch, die Inanspruchnahme von Gynäkologen bei Frauen sehr hoch, insbesondere bei jüngeren Frauen.

Aus dieser Art von Inanspruchnahme und der Kombination der Inanspruchnahme von Ärzten lassen sich durchaus Versorgungsstrukturen ableiten. Insbesondere durch das Zusammenführen mit anderen Daten haben wir anhand dieser Informationen feststellen können, dass es nicht so ist, dass ein erhöhtes Angebot an Ärzten dazu führt, dass die Patienten häufiger zum Arzt gehen. Es scheint nach wie vor so zu sein – das ist ja auch etwas Vernünftiges –, dass der Gesundheitszustand die Rate der Arztkontakte beeinflusst.

Ein aktuelles Thema ist die Hormontherapie bei Frauen. Ob es überhaupt relevant ist, darüber zu sprechen, ob die Hormonersatztherapie bei Frauen über 45 Jahren ein Thema von Relevanz ist, kann kaum jemand so gut abbilden wie wir. Wir haben für die Zeiträume 1984 bis 1986, 1987 bis 1988 und 1990 bis 1991 die Informationen, wie häufig Frauen Hormone substituieren. Der Prozentsatz bei den 50-jährigen Frauen liegt in der Untersuchung 1990 bis 1991 bei 25 Prozent; 1998 waren es sogar 30 Prozent. Dies ist also ein für die Versorgungsforschung relevantes Thema.

Wir haben in den Gesundheitssurveys gefragt, ob Bluthochdruck vorhanden ist. Es ist schon erstaunlich, dass von jenen Probanden, die mit großer Überzeugung behauptet haben, sie seien keine Hypertoniker, die auch nicht in Behandlung waren, bei den Männern 20,9 Prozent und bei den Frauen 13,7 Prozent hyperton waren. Diesen Personen haben wir empfohlen, ihren Hausarzt zu kontaktieren. Die Borderline-Gruppe ist auch nicht unbeträchtlich. Auch diejenigen, die Hypertoniker sind und entsprechend mit Medikamenten behandelt werden, haben nicht die entsprechenden guten Blutdruckwerte gezeigt. Wir haben bei den Männern 65 Prozent und bei den Frauen sogar 67 Prozent mit erhöhten Blutdruckwerten gesehen.

Bei den psychischen Störungen ist festgestellt worden – das haben die Psychiater selber gemacht –, dass 63 Prozent der tatsächlich behandlungsbedürftigen Probanden mit Krankheitssymptomen nicht behandelt werden. Hier wurde an Tausenden von Probanden eine Unterversorgung festgestellt.

Damit komme ich zur regelmäßigen Teilnahme an der Krebsfrüherkennung. Sie wird bei den Frauen ab 25 Jahren, bei den Männern ab 45 Jahren von der Krankenkasse finanziert. Die Frauen sind früherkennungsbewusster, jedenfalls im Alter von 25 Jahren. In diesem Alter wird der Gynäkologe auch noch regelmäßig kontaktiert. Erst im Alter von 65 Jahren treffen sich Männer und Frauen bei einer Quote von 50 Prozent. Dabei geht es um die regelmäßige jährliche Teilnahme an Krebsfrüherkennungsmaßnahmen, nicht um sporadische Schritte. Die Männer halten nicht viel davon, zur Früherkennung zu gehen – unabhängig von der Schicht sind es ungefähr 40 Prozent, die dem positiv gegenüber eingestellt sind –, bei den Frauen gibt es einen Unterschied von etwa 20 Prozent zwischen der Unter- und der Oberschicht.

Ich komme jetzt zu der Frage, ob Mortalitätsfragen etwas mit der Versorgungsforschung zu tun haben, da ja die Mortalität der Endpunkt jeder Versorgung ist und man nicht vermuten würde, dass dies der Fall ist. Dazu gibt es eine neue Publikation, bei der man die Entwicklung der Mortalitätsraten nach Einführung des Cis-Platins als Standardtherapie betrachtet hat. Es ist erstaunlich – die drei Autoren sagen: es ist erschütternd –, dass bei Umsetzung dieser Therapie in einem Münchener Tumorzentrum die Mortalitätsrate rasant gesunken ist. In Westdeutschland hat man sehr viel länger gebraucht, um auf dasselbe Niveau zu kommen. In Ostdeutschland setzte diese rasante Entwicklung nach unten erst 1990 ein. Sie sehen auf dem Schaubild, wie sehr die Mortalität auch in den anderen Regionen Deutschlands hätte beeinflusst werden können, wenn man sich an die Therapiestandards gehalten hätte.

Kompetenznetzwerke gibt es mittlerweile allenthalben. Es gibt die Kompetenznetzwerke Rheuma, Schizophrenie, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Herzinfarkt, Hepatitis. Allen diesen Kompetenznetzwerken ist gemeinsam, dass sie Daten erheben: zur Versorgung, zur Therapie, zum Zustand der Patienten vorher und nachher. Frau Zink hat im Jahre 2004 das Verordnungsspektrum bei rheumatoider Arthritis 1996 und 2001 verglichen. Sie hat festgestellt, dass sich im Verlauf von sechs Jahren ein grundlegender Wandel vollzogen hat. Man kann im Verlauf der Therapie positive Veränderungen bei den Patienten feststellen.

Wenn das so ist – das war der Ausgangspunkt der Arbeitsgruppe „Daten“ –, würde es sich durchaus lohnen, dass man sämtliche Datensätze, die versorgungsrelevante Informationen enthalten könnten, durchscreent. Dieser Aufgabe hat sich die Arbeitsgruppe „Daten“ angenommen. Wir haben ein Formblatt entwickelt mit Angaben darüber, wer was wie erhebt, welche Daten zugänglich sind, welches der Inhalt ist, ob die Erhebung regelmäßig erfolgt.

Wir haben uns dabei an der Struktur des Versorgungsprozesses orientiert. Ausgangspunkt ist die Struktur des Versorgungsprozesses mit Input, Throughput, Output und Outcome. Alle diese Komponenten der Versorgung wurden jeweils von der Patientenseite und der Systemseite her abgebildet. Sieben Professoren haben die Inhalte der Datensätze analysiert. Es gibt in Göttingen bei Professor Kochen ein Hausärzte-Panel. Es ist jetzt in die zweite Förderungsphase durch das BMBF gekommen. Es gibt ein Netz von Hausärzten, die kontinuierlich sowohl hinsichtlich ihrer Patienten als auch hinsichtlich ihrer Parameter in der Praxis befragt werden. Es wird dokumentiert, welche Art der Behandlung, welche Kontaktraten, welche Patientenzahlen vorliegen. Darüber hinaus wird der Heilungsprozess dokumentiert.

Der Output ist natürlich systembezogen; das sind die Abrechnungsdaten der Hausärzte. Außerdem wird dokumentiert, was sich an Outcome im Sinne einer nachhaltigen Verbesserung des Gesundheitszustands ergibt.

Es wird immer gesagt, Versorgungsforschung solle vor Ort stattfinden. Dieses Hausärzte-Panel ist ein Beispiel dafür, wie man die dafür erforderlichen Daten erheben kann. Das setzt natürlich die Bereitschaft der Ärzte zur Beteiligung voraus.

Die Tumorzentren – nicht zu verwechseln mit Krebsregistern – registrieren
ebenfalls die Parameter ihrer Patienten: das soziale Verhalten, das Stadium der Krebserkrankung, die Therapie, die Versorgungsvernetzung, die Interdisziplinarität der Therapie von Krebserkrankungen. Daraus werden wiederum Versorgungsstandards entwickelt. Diese Tumorzentren haben, ohne dass sie von vornherein Versorgungsforschungszentren darstellen, einen sehr großen Fundus an versorgungsrelevanten Daten, die unter diesem Blickwinkel noch nicht ausreichend untersucht sind.

Damit komme ich zum Kompetenznetzwerk Schizophrenie. Bei diesem Kompetenznetzwerk gibt es verschiedene Datenerhebungen: Es gibt Erhebungen zur Therapie, zur Struktur, zur Vernetzung. Die Studiendokumentation beinhaltet die Krankheitsverläufe bei den Patienten: Wie kommt der Patient in die Versorgungseinrichtung? Welche Therapie erhält er? Mit welchem Ergebnis? Wenn diese Daten bei einer Vielzahl von Patienten erhoben werden, ist dies die Basis für Qualitätssicherung, für das Setzen von Standards oder für die Formulierung von Leitlinien.

Es gibt eine Vielzahl von Datensätzen, die wir unter diesen Blickwinkeln beleuchtet haben. Es gab keinen einzigen, bei dem wir nicht fündig geworden wären, was die Relevanz für die Versorgungsforschung angeht. Natürlich gibt es die GKV-Daten, und zwar sowohl zum ambulanten als auch zum stationären Bereich. Diese Daten sind für die Versorgungsforschung nicht von vornherein zugänglich.

Im GKV-Modernisierungsgesetz gibt es einen Paragraphen zur Datentransparenz und zum Datenaustausch, der vorsieht, dass Daten zur Versorgungsforschung zur Verfügung gestellt werden. Ich habe gesehen, dass es hier einen Antrag gibt, der genau das fordert, was im Gesetz bereits steht. Ich glaube, dass diese Arbeiten, die von Ihnen selbst durchgeführt werden, einen noch zu hebenden Schatz auf dem Gebiet der Versorgungsforschung darstellen.

Weitere untersuchte Datenquellen sind beispielsweise die amtliche Schwerbehindertenstatistik, die Mortalitätsstatistik oder das sozioökonomische Panel, bei dem Arbeitsunfähigkeitsdaten, Krankheitsdaten und Kuren abgefragt werden. Spätestens an dieser Stelle tauchte die Frage auf: Wie weit wollen wir diese Dokumentationen fortführen? Man wird nie den Punkt erreichen, dass man sagen kann, sämtliche Daten seien dokumentiert. Man kann den Spieß umdrehen und erklären: Dann führen wir eine Defizitanalyse durch. Das Ergebnis einer Defizitanalyse hängt natürlich von der Fragestellung ab.

Ihnen sind von Herrn Schwartz drei Schwerpunkte vorgestellt worden: die Folgen der Ökonomisierung der stationären und ambulanten ärztlichen Leistungen auf die Patientenversorgung und die Freiheit der ärztlichen Tätigkeit; die Implementierung von Leitlinien in den ärztlichen Alltag und ihre Effekte sowie der Physician Factor. Hier waren die Datenmengen, die ich Ihnen vorgestellt habe, nicht mehr so ergiebig. Eigentlich könnte man nur aus dem Hausärzte-Panel ableiten, welche Rolle der Physician Factor spielt.

Die Ökonomisierung lässt sich recht gut in etlichen Datenmengen abbilden,
ebenso die Implementierung von Leitlinien.

Wie aufwendig ist es, eine Versorgungsforschung hinsichtlich dieser drei Themen durchzuführen?

Es gibt genügend Daten, die genutzt werden können; es müssen nicht immer neue Daten erhoben werden. Es geht aber nicht generell ohne zusätzliche Erhebungen. Die optimale Lösung besteht natürlich in der Verknüpfung von Existierendem mit Neuem.

Auf dem 107. Deutschen Ärztetag wurde beschlossen:

Der Deutsche Ärztetag setzt sich dafür ein, fragwürdige Studien von Politikberatern nach Veröffentlichung durch renommierte Institute prüfen zu lassen.

Wenn Sie immer fragwürdige Studien prüfen lassen, betreiben Sie eine Art von Versorgungsforschung. Sie gehen nicht in die Offensive, Sie führen keine eigenen Studien durch. Wenn Sie allerdings selber Studien durchführen, muss man dieselben Maßstäbe, die man an andere anlegt, gegen sich selber gelten lassen. Die Überprüfung auf methodische Standards im Hinblick auf die Qualität der durchgeführten Studien und im Hinblick auf Transparenz ist etwas, was für alle wissenschaftlichen Studien gilt. Im Arbeitskreis „Versorgungsforschung“ werden diese Gesichtspunkte akribisch zusammengetragen.

Auf diesem Ärztetag sind mir folgende zwei Dinge aufgefallen. Ein Redner hat hier gesagt: Wir müssen das Gebiet der Versorgungsforschung selbst besetzen. Ich glaube, die Versorgungsforschung beinhaltet so viele Aspekte, dass man gar nicht alles besetzen kann. Besetzen kann man allerdings eigene Themen. Diese Themen sind für die Universitäten und das BMBF vielleicht gar nicht sosehr von Bedeutung. In diesem Falle hat man das Recht, selbst zu prägen, was geforscht wird. Allerdings hat man nicht das Recht, die Ergebnisse zu prägen.

Der zweite Aspekt, den ich ansprechen möchte, ist folgender: Eine mir bekannte Journalistin fragte mich, ob ich Versorgungsforschung pro domo betreiben wolle. Das ist ein Vorurteil, mit dem die Bundesärztekammer leben muss: Wenn sie die Versorgungsforschung propagiert, geschieht das natürlich pro domo.

Ich denke, die dargelegten wissenschaftlichen Voraussetzungen müssen gegeben sein, damit das Geld, das man für die Versorgungsforschung aufwendet, nicht in den Sand gesetzt ist. Anderenfalls hätte man keine größere Akzeptanz als bei dem, was Sie „Studien von fragwürdigen Politikberatern“ genannt haben.

Ich bedanke mich.

(Beifall)

Präsident Prof. Dr. Dr. h. c. Hoppe:
Vielen herzlichen Dank, Frau Professor Kurth, für diesen engagierten und inhaltsreichen Vortrag. Ich darf Sie ein wenig korrigieren: Wir haben nicht von „fragwürdigen Politikberatern“ gesprochen, sondern von „fragwürdigen Studien von Politikberatern“. Das andere stimmt allerdings auch; das haben wir aber nicht gemeint.

(Heiterkeit – Beifall)

Unter uns ist jetzt Frau Dr. Duhme aus Hamburg, die zu uns gekommen ist, um uns zu zeigen, wie man sich gymnastisch fit hält, um den Rest des Tages besonders gut zu überstehen. Unsere Referentin und die drei Referenten sind gern bereit, diese Demonstration mitzumachen. Wir opfern jetzt einige Minuten diesem gymnastischen Training.

Ich bedanke mich bei Frau Dr. Duhme und kann nur sagen: Wie schön ist doch der Bolero! Eine so schöne Musik!

(Beifall)

Da macht es einem überhaupt nichts aus.

Wir haben jetzt eine Stunde Zeit zur Diskussion dieses Themas. Um 16.30 Uhr müssen wir einen Break machen, weil uns einer der Referenten zum Thema „Krankheit und Armut“, nämlich Herr Professor Siegrist, nur heute zur Verfügung steht, weil er morgen in Prag sein muss. Deshalb möchten wir die Referate zu diesem Tagesordnungspunkt noch heute hören. Es ist gelegentlich vorgekommen, dass wir aus Zeitgründen so verfahren müssen. Ich bitte die Referentin und die Referenten zum Tagesordnungspunkt III um Verständnis.

Wir beginnen jetzt mit den Wortmeldungen zum Tagesordnungspunkt III. Als erster Redner bitte Herr Dr. Clever aus Baden-Württemberg.

 

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