Dr. Jonitz, Referent:
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir wollen
keine Fehler machen. Deswegen haben wir eine Pause zwischen meinem
Referat zu dem eher politischen Aspekt dieses Themas und dem Referat
von Herrn Professor Schrappe. Das Thema ist uns in der Vergangenheit
mehrfach begegnet. Es ist im Prinzip so alt wie die Medizin selber.
Es erlebt zurzeit eine große Renaissance. Ich möchte Ihnen mit meiner
Präsentation das Thema näher bringen und Sie gleich zu Beginn bitten,
den Vorstandsantrag positiv zu bescheiden.
Was haben die Ärztekammern damit zu tun? Die Ärztekammern
unterliegen – das kann man sich gar nicht oft genug in Erinnerung rufen – der
Gemeinwohlbindung. Sie sind kein Selbstzweck. Ärztekammern sind vom Gesetzgeber
geschaffen worden, damit den Patienten, wenn es irgend geht, kein Schaden entstehe.
Die Ärztekammern sind Einrichtungen zum Schutz von Patienten. Zu diesem Zweck
haben wir von der Gesellschaft Rechte und Pflichten verliehen bekommen.
Dieser Aufgabe werden die Kammern auf unterschiedlichen Wegen
gerecht, beispielsweise durch die Berufs- und Weiterbildungsordnung, die
Fortbildungsordnung, die Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen. Die
Ärztekammern sind darüber hinaus – das möchte ich hier betonen – die einzigen
übergreifenden, sachkundigen und unabhängigen Einrichtungen im Gesundheitswesen.
Alle anderen Einrichtungen sind entweder sachkundig, aber nicht unabhängig oder
unabhängig, aber nicht sachkundig oder weder das eine noch das andere. Dieser
Verantwortung müssen wir gerecht werden.
Das Thema ist, wie gesagt, so alt wie die Medizin selber. Es
ist weder neu noch Aufsehen erregend noch ungehörig. Allerdings ist das Thema
heikel. Der Schutz des Patienten betrifft den sensibelsten Bereich des
Vertrauensverhältnisses zwischen Arzt und Patient. Gerade weil der Patient, der
sich in subjektiver und objektiver Not befindet, ein besonderes Schutzbedürfnis
hat, muss alles dafür getan werden, dass dieser Schutz gewährleistet und vor
allem das Vertrauen in den Arzt und seine Behandlung gewahrt bleibt.
Das Thema weist ein hohes Missbrauchspotenzial auf. Die
Dramatisierung von realen oder behaupteten Fehlern in der Patientenversorgung
ist uns bis in die jüngere Vergangenheit aus Presse, Funk und Fernsehen und
leider auch aus der Politik bekannt. Sie wird gerne dafür genützt, um in der
Diskussion den „politischen Gegner“ beispielsweise vor Budgetverhandlungen zu
schwächen. Die Stigmatisierung unseres Berufsstands fällt ebenfalls in diese
Kategorie. Sie alle kennen die Liste spektakulärer Buchtitel; diese Liste ist
genauso lang wie langweilig. Die allermeisten davon leben von
Sensationsdarstellungen und der Schaulust und tragen leider wenig zur
Aufklärung bei.
Gleichwohl zwei Beispiele. „Halbgott in Weiß“ oder „schwarzes
Schaf“ betrifft einen früheren Ordinarius. In demselben Jahr entdeckte ein
Patientenverband fast 25 000 Tote durch „Ärztepfusch“. Die Zahlen sind
nicht belegt. Es handelt sich um Hochrechnungen aus den USA. Diese
Hochrechnungen aus den USA sind auf uns genauso übertragbar, wie der Stadtplan
von New York auf den Stadtplan von Berlin übertragbar ist. Bei diesen Zahlen
wird regelmäßig vergessen oder ignoriert, wie viele dieser Patienten den Arzt
vor die Wahl stellten, entweder nichts zu tun und den Patienten dem sicheren
Tod zu überlassen oder für diesen Patienten ein Risiko einzugehen,
beispielsweise eine Hospitalinfektion nach einer schweren Operation. Arzt sein
heißt: Risiken abschätzen, abwägen und notfalls Risiken im Interesse des
Patienten eingehen.
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich fühle mich als
Vertreter der Ärzteschaft im ersten Anlauf bei solchen Schlagzeilen immer
betroffen. Gleichzeitig ärgere ich mich über pauschale, extreme Darstellungen.
Wir müssen nach Möglichkeit die Wiederholung von möglichen Missständen
vermeiden.
Lassen Sie uns die Befunde erheben: Erstens. Die Medizin wird
leistungsfähiger und komplexer. Zweitens. Unsere Patienten werden älter,
anfälliger und anspruchsvoller. Drittens. Die Rahmenbedingungen für gute
Medizin werden schlechter. Wie die schlechteren Rahmenbedingungen aussehen
können, habe ich Ihnen bereits vor einigen Jahren dargestellt. Das, was ich
damals sagte, gilt noch immer. Mittlerweile verfügen wir über konkrete
Erfahrungen. Im März 1996 stellte ein Artikel in der Zeitschrift „f & w“ –
das ist die Zeitschrift der privaten Krankenhausträger – Folgendes fest:
Mit ca. 65 bis 70 % stellt der Personalbereich den Hauptblock
der Kosten dar. … Für die Krankenhausleitung bleibt die qualitative Besetzung
(zum Beispiel AiP anstelle Assistenzarzt) der Stellen, die Anzahl der Stellen
und Teile der variablen Personalkosten (Bereitschaftsdienste) beeinflussbar.
Die Einhaltung des extern vereinbarten Personalbudgets, vermindert um eine
kalkulierte Sicherheitsrate, ist der Hauptansatzpunkt jedes Kostenmanagements.
Man kann diesen Satz drehen und wenden, wie man will: Er
bedeutet, dass man weniger Personal hat, dass man weniger qualifiziertes
Personal hat, die kalkulierte Sicherheitsrate ist zulasten der
Patientenversorgung kalkuliert. Geht etwas schief, haftet der Arzt. Aus einem
Systemfehler wird im Zweifelsfall das individuelle Verschulden des einzelnen
Arztes. Er haftet persönlich für das Versagen an höherer Stelle. Dies ist
ungerecht, unmoralisch und falsch.
(Beifall)
In diesem Zusammenhang sind auch die Proteste unserer
Kolleginnen und Kollegen zu verstehen, die für bessere Arbeitsbedingungen auf
die Straße gehen. Es geht nicht einfach um die Arbeitszeit oder das Einkommen.
Wenn die Zwickmühle, in die jeder einzelne klinisch tätige Arzt gestellt wird,
so groß wird, dass er seiner ärztlichen Verantwortung nicht mehr gerecht werden
kann, sind Proteste und Ausstieg die Konsequenz.
Erfreulicherweise stehen wir mit diesem Problem nicht ganz
allein. Der Zusammenhang zwischen einer übermäßigen Arbeitsbelastung und der
Produktion von Fehlern bei der Patientenversorgung wurde in zwei lesenswerten
Arbeiten im „New England Journal of Medicine“ im Oktober letzten Jahres
dargestellt. In den beiden Arztgruppen – zum einen auf der Intensivstation, zum
anderen im normalen Hausdienst – konnte die belegbare Zahl von Fehlern zum Teil
um die Hälfte, zum Teil um das Drei- bis Fünffache reduziert werden. Ich bin
neugierig, wann sich diese Erkenntnis auch in deutschen Arbeitgebergremien und
auch auf der politischen Ebene herumspricht.
(Beifall)
Nun wird die Patientensicherheit als Thema gern dann entdeckt,
wenn diese tatsächlich bedroht ist. Dies scheint auch jetzt der Fall zu sein.
Der Grund für die ärztliche Selbstverwaltung, sich dieses Themas jetzt
anzunehmen, liegt aber vor allen Dingen darin, dass wir neben größeren
Problemen auch neue und wichtige Handlungsmöglichkeiten haben. Deshalb spricht
der Antrag VII-1 des Vorstands von „Herausforderungen“ und „Möglichkeiten“. Wir
haben uns bemüht, eine Dramatisierung des Themas durch die Wortwahl zu
vermeiden.
Es gibt im Wesentlichen drei Handlungsmöglichkeiten: Erstens.
Das Wissen um den Umgang mit Fehlern nimmt zu. Wir haben gelernt. Die Luftfahrt
und die Arbeits- und Organisationspsychologie zeigen, dass überall dort, wo
Menschen arbeiten, Organisations- und vor allem Kommunikationsmängel die
Hauptursache für unerwünschte Ereignisse oder Fehler sind. Es ist eben nicht
der verhängnisvolle Fehler eines Einzelnen.
Wie es um die Organisation und um die Kommunikation
beispielsweise in unseren Krankenhäusern steht, darüber können wir uns an
anderer Stelle selbst ein Bild machen. Die wenigen Studien, die es zu diesem Thema
gibt, werfen kein gutes Licht auf den Umgang untereinander, schon gar nicht im
ärztlichen Dienst. Die auch von zahlreichen Deutschen Ärztetagen wiederholte
Klage über das strikt hierarchische System an deutschen Krankenhäusern findet
auch in diesem Zusammenhang ihre Berechtigung. Wenn die Bundespolitik wissen
möchte, warum es dort Probleme gibt, könnte man ihr empfehlen, die früheren Beschlüsse
der Deutschen Ärztetage nachzulesen.
Zweitens. Es stehen neue Verfahren zur Fehlervermeidung und
zum Lernen aus Fehlern zur Verfügung. Hier nenne ich die Fehlerlernsysteme – Critical
Incident Reporting Systems –, Fortbildungen, Schulungen und die Zertifizierung.
Drittens. Neben neuem Wissen und neuen Verfahren ist vor allem
die politische Einsicht zu konkreten Handlungen vorhanden, und zwar auf
gleichberechtigter Basis. Die gleichberechtigte Basis ist deswegen wichtig,
weil das alte Prinzip, das Professor Eichhorn vor mehr als zehn Jahren
beschrieben hat, folgendermaßen aussieht:
Autoritäres Handeln verbunden mit negativen Anreizen wird
immer dazu verleiten, aufgetretene Probleme nicht auszuweisen.
Das gilt im Krankenhaus genauso wie in der Politik. Durch
autoritäres Auftreten mit negativen Anreizen blieben in der Vergangenheit
leider einige Dinge liegen. Diese schlichte Erkenntnis zeigt vor allen Dingen
eines: Wir brauchen eine gemeinsame Institution, mit der man zusammenarbeiten
kann. Was wir nicht brauchen, ist eine „Bundesoberfehlerbehörde“.
Die Zeit ist reif, sich über dieses Thema systematisch und
sachlich, transparent und fair auszutauschen und aktiv zu werden. Auf mehreren
Veranstaltungen und in Workshops, in Sitzungen im Bundesministerium, in der
Ärztekammer Nordrhein und in der Ärztekammer Berlin hat sich der Wunsch
herauskristallisiert, dieses Thema gemeinsam und konkret anzugehen.
Auch die Vorstände von Kassenärztlicher Bundesvereinigung und
Bundesärztekammer haben im Oktober letzten Jahres beschlossen, dass zur
kontinuierlichen Förderung der Patientensicherheit und zur Weiterentwicklung
einer Fehlerkultur die Vorstände beider Einrichtungen die Etablierung von
Beinahe-Fehler-Berichtssystemen und die Bildung eines Netzwerks für Fehlervermeidungsstrategien
und Risikomanagement zwecks Bündelung der bereits auf der Ebene der ärztlichen
Selbstverwaltung und der medizinischen Fachgesellschaft entwickelten
Initiativen befürworten.
Wie sieht das konkret aus? Nehmen Sie die ärztliche
Selbstverwaltung als Ausgangspunkt. Wir bilden keine Wagenburg. Wir stehen zu
dem, was wir tun, auch wenn es zum Teil unerfreulich ist. Wir arbeiten
selbstverständlich mit allen Institutionen zusammen, die mit diesem Thema zu
tun haben. Gemeinsamkeit macht stark und schafft darüber hinaus wichtige
Verbündete.
Die Abstimmung mit diesen Einrichtungen erfolgt durch eine
Organisation auf gleicher Augenhöhe, als so genannte Netzwerkorganisation
zwischen Selbstverwaltung, wissenschaftlichen Fachgruppen und Berufsverbänden,
dem Pflegerat, den Krankenkassen, der Krankenhausgesellschaft, den
Patientenorganisationen und anderen Institutionen.
Offenheit und Transparenz schaffen Vertrauen. Vertrauen
brauchen wir, Vertrauen brauchen unsere Patienten. Wir müssen den Kulturwandel
fördern, nämlich die Abkehr von der Suche nach Schuldigen und die Hinwendung
zur Suche nach den Ursachen. Nicht die Frage „Wer war schuld?“, sondern „Was
war schuld?“ ist künftig die Leitfrage bei Fehlern oder unerwünschten
Ereignissen. Sie hilft Ursachen zu erkennen und abzustellen. Dies entspricht
auch unserer ärztlichen Professionalität und unserem Selbstverständnis als
freier Beruf.
Durch die Definition von Praxisstandards, beispielsweise durch
Leitlinien, durch Qualitätsmanagementverfahren und Verfahren des
Risikomanagements und der Definition von Qualitätsindikatoren werden Fixpunkte
geschaffen, die helfen, gesteckte Ziele konkret zu erreichen.
Wir haben Verfahren und Instrumente, um das Wissen
entsprechend unter die Leute zu bringen. Hier nenne ich die Arbeit der
Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft. Risiken und Nebenwirkungen in
der Arzneimitteltherapie werden über die Arzneimittelkommission gesammelt und
sachgerecht bearbeitet und weitergeleitet. Auf Ihren Plätzen liegt die aktuelle
Ausgabe der Zeitschrift der Ärztekammer Berlin zum Thema
Arzneimittelsicherheit; vielleicht haben Sie Zeit, einen Blick hineinzuwerfen.
Eine Fortbildung in Sachen Fehler- und Risikomanagement wurde
von den Landesärztekammern Bayern und Berlin bereits mit Erfolg durchgeführt.
Die Übernahme in das eigene Fortbildungsangebot sei empfohlen.
Auf dem zweiten Platz stehen die Gutachterkommissionen und
Schlichtungsstellen. Auch das ist für uns absoluter Alltag. Es gibt insoweit
ein kleines Novum, als wir über diese Gutachterkommissionen und
Schlichtungsstellen die Fälle nicht mehr nur „abarbeiten“, sondern diese Fehler
aufarbeiten. Das ist eine ganz wichtige Ressource an Wissen und Erkenntnissen,
wenn wir über diese Arbeit herausfinden, warum etwas passiert ist. Wenn sich in
unterschiedlichen Krankenhäusern mit unterschiedlichen Ärzten und
unterschiedlichen Patienten bei gleichen Eingriffen Fehler wiederholen, müssen
wir die Ursachen abstellen. Es liegt nicht am Krankenhaus und nicht am Arzt,
sondern diese Entwicklung hat eine andere Ursache. Dann sind
Ursachenerforschung und Verhältnisprävention das Gebot der Stunde.
Wenn Sie im November bei Nebel mit dem Auto fahren und ein
Schild sehen, das darauf hinweist, dass eine scharfe Kurve nach links kommt,
sind Sie froh, dass Sie wissen, dass eine gefährliche Kurve kommt und der Fuß
vom Gas zu nehmen ist. In der Medizin gibt es so etwas noch nicht. Es ist eine
zentrale Aufgabe, solche Dinge herauszuarbeiten und den Arzt und den Patienten
rechtzeitig zu warnen, dass es gefährlich werden könnte.
Wir haben über das Ärztliche Zentrum für Qualität in einer
Gemeinschaftsarbeit mit Österreich und der Schweiz ein Buch und Glossar
„Patientensicherheit“ geschaffen. Sie können es am Stand des Ärztlichen
Zentrums für Qualität im Foyer einsehen. Frau Cox gibt Ihnen gern Auskunft. Das
ÄZQ hat das „Forum Patientensicherheit“ ins Internet gestellt. Dort finden Sie
wichtige Informationen.
Im Curriculum Qualitätsmanagement werden entsprechende Module
eingebaut.
Die Fortbildung im Risiko- und Fehlermanagement wurde bereits
erwähnt. Die Zertifizierung von Klinik und Praxen wird ergänzt um das Thema
Patientensicherheit. Wir können dort sehr konkret werden mit sehr praktischen
Produkten. Auch die KTQ hat im Foyer einen Stand. Herr Bothorn kann Ihnen
entsprechende Auskünfte geben.
Fehlerlernsysteme finden Sie als besonderen Punkt auch im
Vorstandsantrag. Es ist wichtig, dass wir die Chance haben, darüber zu
berichten, was passiert ist bzw. was beinahe passiert wäre. Wir erhalten über
die Fehlerlernsysteme die Möglichkeit, diese Informationen einzuspeisen und das
entsprechende Wissen anderen zur Verfügung zu stellen. Sie finden das im
Internet unter www.cirsmedical.ch/kbv und www.jeder-fehler-zaehlt.de.
Die Nachfrage ist sehr groß. Für viele von uns scheint ein
Damm gebrochen zu sein. Endlich kann man seine auch unschönen Erfahrungen
loswerden und sinnstiftend einbringen.
Nicht verschweigen darf man die Hemmnisse im Umgang mit diesem
Thema. Lassen Sie mich dazu vier Punkte konkret und kurz ansprechen. Das erste
Hemmnis kommt aus der Psychologie. Es ist das Prinzip der selektiven Wahrnehmung.
Sowohl der Arzt als auch der Patient haben einen Null-Fehler-Anspruch. Kein
Patient geht zum Arzt in der Annahme, dass bei ihm etwas schief geht. Kein Arzt
beginnt eine Therapie in der Absicht oder in der grundlegenden Annahme, dass er
jetzt einen Fehler produziert. Wir arbeiten nach bestem Wissen und Gewissen,
auch wenn sich sowohl Arzt als auch Patient heimlich eingestehen, dass nicht
immer alles hundertprozentig funktionieren kann. Ein Null-Fehler-Anspruch,
durch welche Umstände auch immer verstärkt, führt jedoch dazu, dass man auf
einem Auge blind zu werden droht und unerwünschte Ereignisse einfach
ausblendet, nach dem Muster, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Die
Psychologie der Arzt-Patient-Beziehung ist nicht immer hilfreich. Unangenehmes
wird genauso ausgeblendet, wie man einen verletzten Arm ebenfalls instinktiv ruhigstellt.
Probleme müssen aber vollständig aufgearbeitet werden, auch wenn es unangenehm
ist.
Das zweite Hemmnis ist das Haftungsrisiko. Nicht selten
verbieten Haftpflichtversicherungen jede Form der Stellungnahme bei fehlerhaften
Abläufen. Der Arzt, der sich selbst einer Schuld an einem Fehler bezichtigt,
verliert den Haftungsschutz und damit eine der wichtigsten Grundlagen für seine
berufliche
Existenz. Bis allerdings Vertreter der jeweiligen Versicherungen ein klärendes
Gespräch mit Patient oder Angehörigen geführt haben, ist in der Regel so viel
Boden verbrannt worden, dass eine friedliche Beilegung des Konflikts nicht mehr
möglich ist.
Das dritte Hemmnis ist das altbekannte Sündenbockprinzip: Wenn
etwas schief geht, sucht man in der Regel den einen Schuldigen, der spektakulär
und öffentlichkeitswirksam vorgeführt und abgeurteilt wird. Die tatsächlichen
Ursachen für den Fehler bleiben nach dieser mehr oder weniger rituellen
Handlung unreflektiert. Im englischen Sprachgebrauch taucht der Arzt in diesem
Zusammenhang als das „zweite Opfer“ auf. Wem bereits ein Fehler in seiner
beruflichen Tätigkeit passiert ist, kennt dies. Ein schwerwiegender Kunstfehler
ist ein Super-Gau – auch für den Arzt.
Das vierte und letzte Hemmnis ist der politische Missbrauch.
Ein kritischer Journalist stellte mir vor einer Woche die Frage, warum nicht
schon längst in deutschen Krankenhäusern Fehlerlernsysteme eingeführt worden
seien. Die Antwort darauf ist relativ einfach. Ein Krankenhaus, das sich einem
verschärften Wettbewerb und der drohenden Schließung gegenübersieht, läuft
Gefahr, dass jede öffentlichkeitswirksame Einführung eines Fehlerlernsystems so
interpretiert wird, dass in diesem Krankenhaus möglicherweise besonders viele
Fehler vorliegen. Eine solche – falsche – Annahme hätte unabsehbare
Konsequenzen. Dasselbe gilt für die freie Praxis.
Eine Atmosphäre des Misstrauens fördert keine richtigen und
sinnvollen Weiterentwicklungen unseres Gesundheitswesens, schon gar nicht bei
einem so heiklen Thema. Dieses Misstrauen ist mittlerweile weitestgehend
beseitigt. Die Vorgespräche haben gezeigt, dass das Thema derzeit Gott sei Dank
weder eskaliert noch aus dem Ruder läuft. Die Politik hält sich da bislang
zurück.
Welche Ziele können wir mit diesem Thema verbinden? Sehr
geehrter Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren, sehen Sie mir
bitte nach, dass einige dieser Ziele durchaus noch auf der Wunschliste zu
finden sind und bestimmt nicht im ersten Anlauf erreicht werden können.
Dass eine erhöhte Patientensicherheit zu einer besseren
Medizin führt, braucht nicht erläutert zu werden; das erklärt sich von selbst.
Das Vertrauen in unsere Ärzteschaft und ihr Ansehen steigen, wenn wir mit
diesem Thema sachlich umgehen. Fragen Sie doch einmal Ihre Patienten, ob sie
glauben, dass immer alles hundertprozentig gut läuft. Man wird antworten: Nein,
Herr Doktor, ich weiß natürlich, dass auch einmal etwas schief gehen kann.
Wir werden auch in folgendem Punkt Erfolg haben können: bei
den geringeren Kosten. Geringere Kosten entstehen durch geringeren Aufwand in
der Schadensbeseitigung. Dies betrifft nicht nur Reoperationen oder die
Anwendung von Antibiotika bei Infektionen, sondern auch den großen Bereich der
Berufsunfähigkeit und der Rehabilitation.
Wir erleben natürlich auch weniger Leid. Das klingt fast schon
lakonisch. Wer einmal miterlebt hat, wie viel Leid produziert wird, wenn
Schäden oder unerwünschte Ereignisse in der Behandlung auftreten, und zwar Leid
bei Patient und Arzt, weiß, dass diese emotionale Seite nicht zu unterschätzen
ist. Im Idealfall entsteht eine Win-win-win-Situation. Es profitieren alle: der
Arzt durch eine bessere Medizin, der Patient durch eine sicherere Medizin und
die Versichertengemeinschaft durch niedrigere Kosten. Das alles entsteht durch
gemeinsame Aktionen und das gemeinsame Verfolgen eines gemeinsamen Ziels.
Jetzt kommt die Wunschliste. Ich erhoffe mir durch die
systematische Aufarbeitung von Risiken und Fehlern in der Patientenversorgung
mehr Wahrheit und eine bessere Zusammenarbeit.
Ich erhoffe mir auch eine größere Einsicht, wie unsere
Patientenversorgung besser organisiert werden kann. Das Motto der humanen
Arbeitsbedingungen für eine humane Patientenversorgung sollte auch Politik und
Öffentlichkeit überzeugen.
Ich wünsche mir auch ein Ende des Schwarzer-Peter-Spiels. Ich
möchte mich nicht ständig mit dem Nasenring „Die Ärzte sind alle schlecht, sie
machen ständig Fehler“ herumführen lassen und keine harten Gegenargumente
haben.
Ein besseres Miteinander und eine bessere objektive Grundlage
unserer Arbeit erhöhen die Freude am Arztsein.
Last, but not least erhoffe ich mir als Kammervertreter dabei
ein höheres Ansehen der Kammern als Moderatoren und Protagonisten dieses
Themas.
Was der Deutsche Ärztetag feststellen möge, liegt Ihnen
bereits vor, nämlich die Feststellungen zum Thema Patientensicherheit, zum
Thema Fehlervermeidungsstrategien und gegen plakative Schuldzuweisungen und Skandalisierungen.
Die Forderungen beziehen sich auf die Entwicklung und
Implementierung von Fehlervermeidungsstrategien in der medizinischen
Versorgung, auf die Unterstützung von Forschungsvorhaben, auf die Flankierung
der Initiativen zur Patientensicherheit und auf die Zusammenführung und
Koordination bestehender Aktivitäten zur Intensivierung des interdisziplinären
Erfahrungsaustauschs.
Es würde mich freuen, wenn Sie das Aktionsbündnis
Patientensicherheit e. V. ebenfalls mit einem positiven Votum bescheiden
könnten.
Ich möchte mich an dieser Stelle ganz herzlich bei all
denjenigen bedanken, die sich bereits in so genannter grauer Vorzeit, nämlich
bereits in den 60er-, 70er- und 80er-Jahren mit diesem Thema befasst haben.
Axel Ekkernkamp – die meisten von Ihnen kennen ihn – hat sich bereits vor knapp
20 Jahren in diesem Sinne betätigt und einen Vorstoß unternommen. Manchmal muss
man warten, bis die Zeit reif ist.
Mit einem Ausblick über unsere zukünftige Vergangenheit
bedanke ich mich ganz herzlich für Ihre Aufmerksamkeit. Ich freue mich auf das
Referat von Herrn Professor Schrappe nach der Mittagspause und auf Ihre
hoffentlich erfolgende Zustimmung zum Vorstandsantrag.
Vielen Dank.
(Beifall)
Präsident Prof. Dr. Dr. h. c. Hoppe: Vielen Dank,
Herr Dr. Jonitz, für dieses Referat und die Einführung in das Thema. Ich
begrüße Herrn Professor Schrappe sehr herzlich im Namen des Deutschen
Ärztetages. Wir freuen uns, Herr Schrappe, dass Sie uns zur Verfügung stehen.
(Beifall)
Ich darf Ihnen Frau Dr. Regina Klakow-Franck vorstellen, die
Dezernentin des Dezernats III, die diese Thematik hauptamtlich in der Geschäftsführung
der Bundesärztekammer bearbeitet.
(Beifall)
Sie ist Kollegin und hat von Herrn Stobrawa die Leitung dieses
Dezernats übernommen.
Wir treten nunmehr in die Mittagspause ein. Wir setzen die
Sitzung um 14 Uhr fort. Dann hören wir zunächst das Referat von Herrn Professor
Schrappe.
3. Tag: Donnerstag, 5. Mai 2005, Nachmittagssitzung
Präsident Prof. Dr. Dr. h. c. Hoppe: Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wir setzen unsere Beratungen fort. Die Tagesordnung
ist noch lang und es sind noch spannende Dinge abzuhandeln. Wir sollten die
Zeit nutzen und, wenn es irgend geht, die Sitzung um 18 Uhr beenden, damit Sie
rechtzeitig und erfrischt zu unserem geselligen Abend fahren können.
Ich stelle Ihnen Herrn Professor Matthias Schrappe vor. Er ist
Internist. Er war lange Jahre als Internist an der Universitätsklinik in Köln
tätig. Er hat sich dann sehr auf Dinge spezialisiert, die mit der
Leitlinienentwicklung und organisatorischen Fragen, die eng an die Medizin
angeknüpft sind, zu tun haben. Weil er erfolgreich war, hat ihn das
Universitätsklinikum Marburg quasi abgeworben. Herr Professor Schrappe ist
Ärztlicher Direktor der Klinik der Philipps-Universität Marburg. Wir sagen
Ihnen herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Wahl zum Vorsitzenden des
Aktionsbündnisses Patientensicherheit am 11. April.
(Beifall)
Ich darf Sie jetzt zu Ihrem Referat zum Thema Ärztliches
Fehlermanagement/Patientensicherheit bitten.
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