TOP II: Behandlung von Menschen mit psychischen und psychosomatischen Erkrankungen: Gegen Stigmatisierung - Für Stärkung der ärztlichen Psychotherapie

2. Tag: Mittwoch, 24. Mai 2006 Vormittagssitzung

Prof. Dr. Dr. h. c. mult. SartoriusProf. Dr. Dr. Dr. h. c. mult. Sartorius, Referent: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist eine große Ehre, hier ein paar Worte über das Programm gegen Stigma und Diskriminierung zu sagen. Ich benutze den Begriff des Stigmas für falsche Annahmen über Personengruppen, Individuen oder Dinge, die durch ein bestimmtes Merkmal gekennzeichnet sind. Solche Annahmen sind zumeist negativ und äußern sich in Einstellungen und im Verhalten. Unkenntnis kann zum Stigma beitragen, aber die Vermittlung von Wissen verstärkt auch häufig negatives Verhalten.

Viele Krankheiten sind stigmatisiert, nicht nur psychische Krankheiten. Ich nenne hier beispielhaft die Tuberkulose und Geschlechtskrankheiten. Das Stigma psychischer Krankheiten unterscheidet sich von dem anderer Erkrankungen aufgrund seiner Ausbreitungstendenz, aufgrund seiner zeitlichen Konstanz und weil psychische Störungen oft nicht als Krankheiten wahrgenommen werden, sondern eher als antisoziales Verhalten.

Die Ausbreitung des Stigmas psychischer Erkrankungen ist leider nicht auf den Kranken beschränkt, sondern auch die Familie oder andere Betreuungspersonen sind umfasst. Dasselbe gilt für alle an der Therapie Beteiligten, für die Behandlungsinstitutionen und für die Behandlungsmethoden. Ich erinnere hier an die Reaktionen auf die Agranulozytose, die nach Clozapin-Anwendung auftreten kann, und die Agranulozytose nach Chloramphenicol-Anwendung. Während die Clozapin-Agranulozytose dazu führte, dass eine ganze Reihe verschiedener Maßnahmen durchgeführt wurden, war das bei der Chloramphenicol-Agranulozytose nicht der Fall. Die Aufregung bei den Ärzten und auch der Presse, die meinte, hier habe wieder einmal ein Psychotropum schlimme Nebenwirkungen, war auch wesentlich von einem Stigma getragen.

Es ist auch spezifisch für das Stigma psychischer Erkrankungen, dass es Generationen überdauert. Nicht nur der Kranke, sondern auch seine Kinder, seine Großenkel, jedermann, der mit der Krankheit verbunden ist, ist ebenfalls stigmatisiert. Das ist auch der Grund dafür, warum die Familien die Krankheit zu verstecken versuchen und nicht zugeben, dass es in ihrer Familie eine derartige Krankheit gibt.

Die Pathogenese des Stigmas, die wir entwickelt haben, beginnt mit einem Merkmal, das sichtbar ist. Es kann sich um ein Verhalten des Kranken handeln, das ungewöhnlich ist, oder extrapyramidale Effekte, die bei einigen Antipsychotika auftreten.

Das Merkmal wird mit verschiedenen Inhalten aus den Medien, aus der Erinnerung, aus Geschichten "geladen". Diese Attribution führt zum Entstehen der Stigmatisierung. Das Entstehen der Stigmatisierung wiederum führt zu einer schweren Diskriminierung auf verschiedenen Gebieten. So entsteht eine Benachteiligung.

Diese Benachteiligung wiederum führt zu einem Verlust des Selbstwertgefühls. Man spricht hier von einer so genannten Selbststigmatisierung. Der Kranke leitet seinen sozialen Rückzug ein. Schließlich lässt eine Zustandsverschlechterung das Merkmal noch deutlicher hervortreten.

Dieser Circulus vitiosus ist von großer Wichtigkeit, denn er bedeutet für uns, dass eine Unterbrechung des Circulus vitiosus an irgendeinem Ort wichtig sein könnte. Wenn es nicht möglich ist, die Merkmale zu beseitigen, ist es vielleicht manchmal möglich, sich zu überlegen, wie die Attribution vermindert werden kann. Wenn wir das Stigma nicht beseitigen können, könnten wir vielleicht versuchen, die Diskriminierung, die damit zusammenhängt, zu beseitigen.

Ich komme zu den Faktoren, die zur Stigmatisierung beitragen. Da ist zunächst einmal die Krankheit selbst zu nennen. Sehr viele dieser Kranken wollen oder können nicht arbeiten und werden deswegen als faul, als hartnäckig usw. bezeichnet. Eine ganze Reihe anderer Symptome der psychischen Krankheit führen dazu, dass man Angst vor dem Kranken hat oder dass man den Kranken als asozial bezeichnet.

In früheren Zeiten, als eine große Zahl dieser Kranken in nicht urbanisierten Ländern lebten, war die Stigmatisierung nicht so stark. Mit der Urbanisierung, mit der Verkleinerung der Familie und einer größeren Anzahl von Menschen, die im selben Gebiet leben, hat sich die Stigmatisierung verstärkt.

Die Komplexität der Arbeitswelt verlangt, dass man viel mehr als früher tut, um einen Arbeitsplatz zu erhalten oder zu behalten. Deshalb haben viele der psychisch Kranken keine Möglichkeit, einen Arbeitsplatz zu finden oder auf ihm zu verbleiben.

Ein wichtiger Grund für die Stigmatisierung ist auch das Verhalten des medizinischen Personals. In unserem Weltprogramm zeigte sich bei den kanadischen Kranken, dass es für sie das Schwierigste war, wie sie in der Allgemeinmedizin und in Krankenhäusern behandelt wurden. Wenn sie mit einer schweren somatischen Krankheit kamen, wurde oft gesagt: Das ist ein psychisch Kranker, den wollen wir lieber zu den anderen psychisch Kranken ins Krankenhaus schicken. Darüber hinaus mussten diese Patienten beispielsweise länger warten, sie wurden mit Begriffen wie Schizophreniker belegt.

Auch die Medien haben wissentlich zur Stigmatisierung beigetragen. In vielen Ländern haben es eine große Anzahl von Medien inzwischen eingesehen, dass sie hier umdenken müssen. Beispielsweise haben in Irland und auf den Philippinen Journalisten versucht, einen Kodex zu entwickeln, wie sie über psychisch Kranke berichten wollen. Das ist aber noch immer nicht überall akzeptiert.

Auch das gestörte Selbstwertgefühl der Patienten und ihrer Angehörigen trägt zur Stigmatisierung bei. Der Kranke sagt von vornherein: Ich weiß, dass ich diese Stelle nicht bekomme, weil ich eben eine Schizophrenie hatte.

Ein weiterer Faktor sind die demografischen Entwicklungen. Die Verkleinerung der Familie sowie die wachsende Anzahl von derartigen Kranken in einem bestimmten Gebiet tragen wesentlich zur Stigmatisierung bei. Die bekannte Toleranzkurve weist aus, dass die Toleranz beispielsweise älteren Menschen gegenüber hervorragend ist, wenn deren Zahl sehr klein ist. Bei steigender Anzahl vermindert sich die Toleranz wesentlich. Bei etwa 10 Prozent ist die Toleranz am geringsten. Steigt die Zahl weiter, vergrößert sich die Toleranz wieder.

Wir befinden uns gegenwärtig in einer Situation, dass eine große Anzahl von psychisch Kranken in ihre Gemeinde zurückkehren. In dem Umfang, wie sich ihre Zahl erhöht, steigt die Toleranz gegenüber den Kranken.

Es gibt einige wichtige Folgen der Stigmatisierung im Gesundheitswesen. Die medikamentöse Behandlung wird immer als zu teuer angesehen. Wenn ein Medikament zur Behandlung einer Psychose 10 Dollar pro Tag kostet, erklärt man: Das ist viel zu teuer. Gleichzeitig kostet aber die Nausea-Bekämpfung bei Krebskranken 180 Dollar pro Tag. Darüber wird aber sehr viel weniger gesprochen. In Afrika wurde die Versorgung mit Chlorpromazin, die nur 11 Dollar pro Jahr kostet, als zu teuer angesehen.

Diese Einstellung rührt daher, dass man den psychisch Kranken als unwert betrachtet; der psychisch Kranke ist nichts wert. Deshalb ist auch ein sehr billiges Medikament noch viel zu teuer. Wenn Einstein Kopfweh hätte, könnte man sich nicht vorstellen, dass eine Tablette, die 1 000 Euro kostet, als zu teuer angesehen würde, weil die Person Einstein als sehr wertvoll betrachtet wird. Beim psychisch Kranken ist das leider nicht der Fall.

Da die Krankheit versteckt wird, wird ihre Prävalenz sehr oft unterschätzt. Die Behandlung erfolgt oft im Verborgenen oder auch überhaupt nicht. Die Patienten nehmen medizinische Dienste nur zögerlich in Anspruch. Auf einem Kongress in Maastricht berichteten von etwa 600 anwesenden Personen mit Halluzinationen lediglich 200, dass sie deshalb je einen Arzt besucht haben. 400 hatten es aus Angst vor der Behandlung nicht getan.

Da die Patienten die medizinischen Dienste so wenig in Anspruch nehmen, wird der Behandlungsbedarf wesentlich unterschätzt. Auch das ist eine direkte Folge der Stigmatisierung.

In vielen Ländern ist es sogar unmöglich, darüber zu sprechen, für psychiatrisch-psychotherapeutische Einrichtungen mehr Geld zu bekommen. Es ist viel einfacher, eine Riesensumme für Investitionen bei der Herzchirurgie zu erhalten, als Gelder zur Beseitigung der entsetzlichen Situationen zu bekommen, die in psychiatrischen Krankenhäusern oft bestehen. In vielen Ländern, beispielsweise in den Vereinigten Staaten, kämpft man schon seit Jahren um die Gleichstellung der psychiatrischen bzw. psychotherapeutischen Behandlung mit der somatischen Behandlung. In einigen Ländern ist diese Gleichstellung bereits vollzogen, aber in vielen Ländern noch nicht.

Die psychisch Kranken werden, wenn sie eine somatische Krankheit haben, schlecht behandelt. In Zentralasien ist es so: Wenn Sie eine psychische Krankheit haben, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie in absehbarer Zeit nach der Erstdiagnose tot sind, 50 Prozent. Das heißt, einer von zwei Kranken stirbt, und zwar nicht an der psychischen Krankheit, sondern eine ganze Reihe von physischen Krankheiten, die existieren, werden gar nicht behandelt, da es sich ja um einen psychisch Kranken handelt und deswegen die Behandlung einer komorbiden somatischen Krankheit unwichtig erscheint.

Ich komme zu den Maßnahmen gegen eine Stigmatisierung. Hier nenne ich die Verhaltensänderung des medizinischen Personals. Es geht beispielsweise um die Wortwahl und um die Art, wie wir dem Kranken gegenübertreten. Genauso wichtig ist die Differenzierung psychischer Erkrankungen. Malaria und Schnupfen werden ja auch nicht in gleicher Weise behandelt. Eine Differenzierung psychischer Erkrankungen beispielsweise bei der Ausbildung oder im Rahmen der Gesetzgebung ist erforderlich.

Von großer Wichtigkeit ist auch die Frage, wie wir die Kranken und die Angehörigen besser in die Behandlungsprozesse involvieren können. Dies jedoch verlangt eine Einstellungs- und Verhaltensänderung sowie die entsprechende Informationsvermittlung. Das ist aber nur selten der Fall. Oft vergisst man bei der Behandlung, dass man nur einen kleinen Teil des Lebens mit dem Patienten zusammen ist und dass dieser den größten Teil seines Lebens mit seiner Familie und der Gemeinde zusammen ist.

Es wären auch eine ganze Reihe von gesetzlichen Maßnahmen möglich. Wir haben eine Reihe derartiger Maßnahmen definiert. So wäre es beispielsweise sehr wichtig, dass diese in den einzelnen Ländern durchgeführt werden.

In vielen Ländern gibt es ein "Stigma-Alarmsystem", das beispielsweise in Aus­tralien sehr gut funktioniert. Man müsste sich überlegen, wie ein solches System weiter verbessert werden könnte.

Die WPA hat 1996 ein Antistigmaprogramm entwickelt. Rund 20 Länder wirken bei diesem Programm mit. Es ist sehr interessant, dass es unabhängig davon, ob die Länder reich oder arm, entwickelt oder weniger entwickelt waren, möglich war, etwas gegen das Stigma zu tun. In vielen Ländern, die dabei mitgemacht haben, wird inzwischen der Kampf gegen das Stigma und gegen die Diskriminierung nicht mehr als eine Kampagne angesehen, sondern als ein Teil des normalen Gesundheitswesens finanziert und durchgeführt.

Wir haben im Rahmen unseres Programms festgestellt, dass es falsch war, zunächst von theoretischen Standpunkten aus zu beginnen. Wir haben deswegen versucht, die Kranken und die Familien einzubeziehen und mit ihnen darüber zu sprechen, in welcher Art man am besten helfen könnte, die Diskriminierung bzw. die Benachteiligung durch das Stigma zu beseitigen.

Wir haben ferner festgestellt, dass eine kurzfristige Kampagne von zwei bis drei Jahren zu nichts führt. Die einzige Folge ist, dass sich nach zwei Jahren sowohl die Kranken als auch die Familien schlechter fühlen als zuvor.

Wir haben weiter festgestellt, dass es unmöglich ist, allein vorzugehen, nur von der Psychiatrie aus. Die Einbeziehung der gesamten Ärzteschaft ist enorm wichtig. Man muss auch andere Gebiete der Gesellschaft einbeziehen, wenn ein Programm nützlich sein soll.

Meine Damen und Herren, ich bin, wie gesagt, sehr erfreut, dass der Ärztetag über die Problematik des Stigmas diskutiert. Wir müssen heute die Verminderung und die Beseitigung von Stigma als möglich ansehen. Wir können auch sagen, dass die Reduktion von Stigma nicht nur die Lebensqualität der Betroffenen und ihrer Angehörigen verbessert, sondern auch die Berufszufriedenheit des medizinischen Personals. Die Bekämpfung von Stigma ist ein notwendiger Schritt auf dem Weg zu einer humanen, toleranten und zivilisierten Gesellschaft. Der Grad der Zivilisation wird daran gemessen, was eine Gesellschaft für diejenigen tut, die am wenigsten für sich selbst tun können.

Der Erfolg in der Bekämpfung von Stigma und Diskriminierung steht und fällt mit unserer Bereitschaft, diesen Kampf zur eigenen Sache zu machen und darin nicht nachzulassen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall)

Präsident Prof. Dr. Dr. h. c. Hoppe: Vielen Dank, Herr Professor Sartorius, für Ihre Ausführungen, die uns in dieses Thema eingeführt und uns klar gemacht haben, um welche Dimensionen es dabei geht.

Wir werden jetzt zwei kurze Korreferate hören, und zwar zum einen von Herrn Professor Dr. Gaebel, gewählter Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde, und von Herrn Professor Dr. Dr. Remschmidt, Ehrenvorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e. V. Er ist stellvertretender Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer.

Das Wort hat zunächst Herr Professor Gaebel aus Düsseldorf, der uns die Sicht der Psychiatrie in Deutschland darstellen wird. Bitte schön, Herr Professor Gaebel.

© 2006, Bundesärztekammer.