TOP II: Behandlung von Menschen mit psychischen und psychosomatischen Erkrankungen: Gegen Stigmatisierung - Für Stärkung der ärztlichen Psychotherapie

2. Tag: Mittwoch, 24. Mai 2006 Vormittagssitzung

Prof. Dr. GaebelProf. Dr. Gaebel, als geladener Gast: Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Der 109. Deutsche Ärztetag hat das Thema "Gegen Stigmatisierung und Diskriminierung psychisch Kranker" auf seine Agenda gesetzt. Die involvierten Fachgesellschaften wie die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde begrüßen diese Entscheidung sehr.

Warum ist dieses Thema relevant? Wir haben eben schon einiges dazu gehört. Psychische Erkrankungen - wenn ich von psychischen Erkrankungen spreche, inkludiere ich auch die psychosomatischen Erkrankungen - nehmen weltweit zu. Sie sind eine herausragende Aufgabe für die medizinische Versorgung weltweit und damit auch in Deutschland. Die gesundheitspolitische und volkswirtschaftliche Rolle dieser Gruppe von Erkrankungen ist in den letzten Jahren zunehmend deutlich geworden. Hochrechnungen besagen, dass Depressionen im Jahre 2020 an zweiter Stelle aller Erkrankungen stehen werden, die zu einer Behinderung führen, die zu einer wesentlichen Einbuße an lebenswertem Leben, an Lebensjahren führt. Eine ganze Reihe weiterer Erkrankungen rangieren unter den zehn wichtigsten Erkrankungen, die hier eine Rolle spielen.

Psychische Erkrankungen sind eine häufige Ursache für Arbeitsunfähigkeit und Frühberentung, wie die Zahlen verschiedener Kassen in Deutschland zeigen. Dabei ist die Behandelbarkeit dieser Erkrankungen eigentlich gut. Wir haben ein breites Spektrum an Behandlungsmöglichkeiten von störungsspezifischer Psychotherapie bis hin zu verschiedenen Formen der somatischen Therapie. Das sind geprüfte und wirksame Verfahren. Es bestehen eigentlich gute Chancen auf Heilung, zumindest auf Besserung bei einer personenzentrierten und evidenzbasierten Behandlung.

Eine Vernetzung der Versorgungsstrukturen ermöglicht Rückfallfreiheit, soziale Integration und Zunahme an Lebensqualität für diese Gruppe von Kranken.

Trotz dieser verbesserten Behandlungsmöglichkeiten bestehen enorme Unkenntnisse und Vorurteile in der Bevölkerung. Was die Ursachen psychiatrischer Erkrankungen sind, wird meistens sehr einseitig gesehen. Ein komplexes bio-psychosoziales Krankheitskonzept ist noch längst nicht angekommen, ist, wie ich glaube, auch bei vielen von uns noch nicht angekommen.

Betroffene und Angehörige müssen Schuldzuweisungen hinnehmen, wenn es um psychische Erkrankungen geht. Im Rahmen der Sensationsberichterstattung werden spektakuläre Fälle geschildert. Psychische Erkrankungen werden gleichgesetzt mit Gewalttätigkeit, Unberechenbarkeit, Abnormität. Behandlungseinrichtungen werden als Verwahranstalten diskreditiert. Es besteht nach wie vor eine skeptische, wenn nicht ablehnende Einstellung gegenüber den Behandlungsmethoden, die wir heute vorzuhalten haben. Alternative Therapien von Bachblüten bis zur Meditation sind im Ansehen der Bevölkerung allemal eher geeignet, diese Art von Störungen zu behandeln, als die uns bekannten und zugänglichen Verfahren.

Die Folgen sind nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für die Angehörigen, für unsere Behandlungsmethoden, für unsere Institutionen und für die im Bereich unseres Faches und der angrenzenden Fächer tätigen Beschäftigten immens. Sie sind allemal stigmatisiert, wenn es um dieses Thema geht.

Für die Betroffenen selbst bedeutet dies in der Regel eine Verschärfung der Krankheitsproblematik. Psychisch Kranke sind Kinder ihrer Zeit und ihrer Gesellschaft. Sie tragen die gleichen Vorurteile mit sich herum, die andere ihnen gegenüber haben. Das heißt, auch sie neigen dazu, sich eher zu verstecken, geheim zu halten, dass sie krank sind, und damit die soziale Isolation, in der sie sich ohnehin befinden, zu vergrößern. Das heißt, medizinische Dienste, wirksame Behandlungsmethoden werden versäumt, sie werden nicht in Anspruch genommen. Die Chronifizierung nimmt eher zu. Natürlich müssen psychisch Kranke auch mit struktureller Diskriminierung rechnen: bei der Wohnungssuche, am Arbeitsplatz. Fragen Sie einmal psychisch Kranke, was sie erleben, wenn sie sich um eine Arbeit bemühen, wenn die Frage kommt: Sind Sie schon einmal psychisch krank gewesen? Wie sieht es bei den Vertragsabschlüssen für Versicherungen - Lebensversicherung, Krankenversicherung usw. - aus? All dies erhöht, wie gesagt, die ohnehin bestehende soziale Isolation.

Es geht um die Sicherstellung der seelischen Gesundheit der Bevölkerung. Gesundheit ohne seelische Gesundheit ist schlechterdings keine vollständige Gesundheit. Also haben internationale und nationale Aufklärungsprogramme begonnen, in dieser Richtung etwas zu unternehmen. In Deutschland haben wir seit gut einem Jahr ein Nationales Aktionsbündnis für seelische Gesundheit. Die Initiatoren waren die DGPPN, der deutsche Ableger des Weltpsychiatrieverbands "Open the Doors" und das Bundesgesundheitsministerium. Die Schirmherrschaft hat Gesundheitsministerin Ulla Schmidt übernommen.

Zielgruppen sind nicht nur die allgemeine Bevölkerung, sondern auch spezielle Bevölkerungsgruppen. Wir wissen beispielsweise, dass es sich besonders lohnt, mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten, um ihnen ein unverzerrtes Bild psychischen Krankseins nahe zu bringen. Patienten und Angehörige sind selbstverständlich ebenfalls in die Zielgruppen einzubeziehen. Es sind die verschiedenen mit psychisch Kranken in Kontakt stehenden Berufsgruppen und Institutionen einzubeziehen. Denken Sie an Arbeitsämter, an Ordnungsämter und viele andere Einrichtungen.

Die Ziele sind klar: Die bessere Kenntnis von Ursachen, Verhütungs- und Behandlungsmöglichkeiten in der Bevölkerung; der Abbau von Vorurteilen und diskriminierenden Verhaltensweisen; Stärkung des Selbstbewusstseins der Betroffenen, dass sie sich eher wagen, mit ihrer Krankheit öffentlich umzugehen; der chancengleiche Zugang zu allen verfügbaren Beratungs-, Behandlungs- und Versorgungseinrichtungen.

Meine Damen und Herren, Stigma und Diskriminierung zu bekämpfen, ist wahrlich eine treffliche Aufgabe für die deutsche Ärzteschaft. Die Zielsetzungen sind klar:

-        Gleichstellung und Gleichbehandlung psychisch Erkrankter in allen Bereichen des öffentlichen Lebens - eine Forderung, die mindestens 30 Jahre alt ist und auch in den Ergebnissen der Psychiatrie-Enquete aus dem Jahre 1975 enthalten ist

-        Erleichterung der Inanspruchnahme professioneller Hilfesysteme

-        Optimierung der Versorgung in allen Bereichen der Medizin angesichts der hohen Komorbiditätsrate psychischer und somatischer Erkrankungen

-        vorurteilsfreier, personenzentrierter professioneller Umgang mit Betroffenen und Angehörigen in allen Bereichen der Medizin

-        Integration der Stigmaproblematik und ihrer Bewältigungsmöglichkeiten in Aus-, Fort- und Weiterbildung von Ärzten und anderen medizinischen Professionen

-        Interessenvertretung dieser Gruppe von Erkrankten bei nachweislicher struktureller Benachteiligung gemeinsam mit Patienten- und Angehörigenverbänden

-        aktive Beteiligung an nationalen Aufklärungsprogrammen und ihrer wissenschaftlichen Evaluation

Es wäre gut, wenn diese Programme nicht nur als Gutmenschentum in die Welt gesetzt würden, sondern wenn sie auch hinsichtlich der Frage ihrer Wirksamkeit evaluiert würden. Sie sind wirksam. Sie können auf einem Poster, das hier ausgehängt ist, sehen, dass derartige Maßnahmen wirksam sind.

Stigma und Diskriminierung aktiv bekämpfen - meine Damen und Herren, das ist eine Herausforderung für die Ärzteschaft und eine Chance für die Betroffenen.

Ich bitte Sie, Ihre Zustimmung zu der vorliegenden Beschlussvorlage nicht zu versagen.

Vielen Dank.

(Beifall)

Präsident Prof. Dr. Dr. h. c. Hoppe: Vielen Dank, Herr Professor Gaebel, für diese Ergänzung, die uns noch einmal die spezielle Problematik aus deutscher Sicht dargestellt hat, die aber mühelos in den internationalen Kontext passt.

Wir hören jetzt als zweiten Korreferenten Herrn Professor Remschmidt aus Marburg. Bitte schön.

© 2006, Bundesärztekammer.