Prof. Dr. Gaebel, als geladener Gast: Herr
Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Der
109. Deutsche Ärztetag hat das Thema "Gegen Stigmatisierung und Diskriminierung
psychisch Kranker" auf seine Agenda gesetzt. Die involvierten
Fachgesellschaften wie die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie
und Nervenheilkunde begrüßen diese Entscheidung sehr.
Warum ist dieses Thema relevant? Wir haben eben schon einiges
dazu gehört. Psychische Erkrankungen - wenn ich von psychischen Erkrankungen
spreche, inkludiere ich auch die psychosomatischen Erkrankungen - nehmen
weltweit zu. Sie sind eine herausragende Aufgabe für die medizinische
Versorgung weltweit und damit auch in Deutschland. Die gesundheitspolitische
und volkswirtschaftliche Rolle dieser Gruppe von Erkrankungen ist in den
letzten Jahren zunehmend deutlich geworden. Hochrechnungen besagen, dass
Depressionen im Jahre 2020 an zweiter Stelle aller Erkrankungen stehen werden,
die zu einer Behinderung führen, die zu einer wesentlichen Einbuße an
lebenswertem Leben, an Lebensjahren führt. Eine ganze Reihe weiterer
Erkrankungen rangieren unter den zehn wichtigsten Erkrankungen, die hier eine
Rolle spielen.
Psychische Erkrankungen sind eine häufige Ursache für
Arbeitsunfähigkeit und Frühberentung, wie die Zahlen verschiedener Kassen in
Deutschland zeigen. Dabei ist die Behandelbarkeit dieser Erkrankungen
eigentlich gut. Wir haben ein breites Spektrum an Behandlungsmöglichkeiten von
störungsspezifischer Psychotherapie bis hin zu verschiedenen Formen der
somatischen Therapie. Das sind geprüfte und wirksame Verfahren. Es bestehen
eigentlich gute Chancen auf Heilung, zumindest auf Besserung bei einer
personenzentrierten und evidenzbasierten Behandlung.
Eine Vernetzung der Versorgungsstrukturen ermöglicht
Rückfallfreiheit, soziale Integration und Zunahme an Lebensqualität für diese
Gruppe von Kranken.
Trotz dieser verbesserten Behandlungsmöglichkeiten bestehen
enorme Unkenntnisse und Vorurteile in der Bevölkerung. Was die Ursachen
psychiatrischer Erkrankungen sind, wird meistens sehr einseitig gesehen. Ein
komplexes bio-psychosoziales Krankheitskonzept ist noch längst nicht
angekommen, ist, wie ich glaube, auch bei vielen von uns noch nicht angekommen.
Betroffene und Angehörige müssen Schuldzuweisungen hinnehmen,
wenn es um psychische Erkrankungen geht. Im Rahmen der Sensationsberichterstattung
werden spektakuläre Fälle geschildert. Psychische Erkrankungen werden
gleichgesetzt mit Gewalttätigkeit, Unberechenbarkeit, Abnormität. Behandlungseinrichtungen
werden als Verwahranstalten diskreditiert. Es besteht nach wie vor eine
skeptische, wenn nicht ablehnende Einstellung gegenüber den Behandlungsmethoden,
die wir heute vorzuhalten haben. Alternative Therapien von Bachblüten bis zur
Meditation sind im Ansehen der Bevölkerung allemal eher geeignet, diese Art von
Störungen zu behandeln, als die uns bekannten und zugänglichen Verfahren.
Die Folgen sind nicht nur für die Betroffenen, sondern auch
für die Angehörigen, für unsere Behandlungsmethoden, für unsere Institutionen
und für die im Bereich unseres Faches und der angrenzenden Fächer tätigen
Beschäftigten immens. Sie sind allemal stigmatisiert, wenn es um dieses Thema
geht.
Für die Betroffenen selbst bedeutet dies in der Regel eine
Verschärfung der Krankheitsproblematik. Psychisch Kranke sind Kinder ihrer Zeit
und ihrer Gesellschaft. Sie tragen die gleichen Vorurteile mit sich herum, die
andere ihnen gegenüber haben. Das heißt, auch sie neigen dazu, sich eher zu
verstecken, geheim zu halten, dass sie krank sind, und damit die soziale
Isolation, in der sie sich ohnehin befinden, zu vergrößern. Das heißt,
medizinische Dienste, wirksame Behandlungsmethoden werden versäumt, sie werden
nicht in Anspruch genommen. Die Chronifizierung nimmt eher zu. Natürlich müssen
psychisch Kranke auch mit struktureller Diskriminierung rechnen: bei der
Wohnungssuche, am Arbeitsplatz. Fragen Sie einmal psychisch Kranke, was sie
erleben, wenn sie sich um eine Arbeit bemühen, wenn die Frage kommt: Sind Sie
schon einmal psychisch krank gewesen? Wie sieht es bei den Vertragsabschlüssen
für Versicherungen - Lebensversicherung, Krankenversicherung usw. - aus? All
dies erhöht, wie gesagt, die ohnehin bestehende soziale Isolation.
Es geht um die Sicherstellung der seelischen Gesundheit der
Bevölkerung. Gesundheit ohne seelische Gesundheit ist schlechterdings keine
vollständige Gesundheit. Also haben internationale und nationale
Aufklärungsprogramme begonnen, in dieser Richtung etwas zu unternehmen. In
Deutschland haben wir seit gut einem Jahr ein Nationales Aktionsbündnis für
seelische Gesundheit. Die Initiatoren waren die DGPPN, der deutsche Ableger des
Weltpsychiatrieverbands "Open the Doors" und das Bundesgesundheitsministerium.
Die Schirmherrschaft hat Gesundheitsministerin Ulla Schmidt übernommen.
Zielgruppen sind nicht nur die allgemeine Bevölkerung, sondern
auch spezielle Bevölkerungsgruppen. Wir wissen beispielsweise, dass es sich
besonders lohnt, mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten, um ihnen ein
unverzerrtes Bild psychischen Krankseins nahe zu bringen. Patienten und
Angehörige sind selbstverständlich ebenfalls in die Zielgruppen einzubeziehen.
Es sind die verschiedenen mit psychisch Kranken in Kontakt stehenden
Berufsgruppen und Institutionen einzubeziehen. Denken Sie an Arbeitsämter, an
Ordnungsämter und viele andere Einrichtungen.
Die Ziele sind klar: Die bessere Kenntnis von Ursachen,
Verhütungs- und Behandlungsmöglichkeiten in der Bevölkerung; der Abbau von
Vorurteilen und diskriminierenden Verhaltensweisen; Stärkung des
Selbstbewusstseins der Betroffenen, dass sie sich eher wagen, mit ihrer
Krankheit öffentlich umzugehen; der chancengleiche Zugang zu allen verfügbaren
Beratungs-, Behandlungs- und Versorgungseinrichtungen.
Meine Damen und Herren, Stigma und Diskriminierung zu
bekämpfen, ist wahrlich eine treffliche Aufgabe für die deutsche Ärzteschaft.
Die Zielsetzungen sind klar:
-
Gleichstellung und Gleichbehandlung psychisch Erkrankter in allen
Bereichen des öffentlichen Lebens - eine Forderung, die mindestens
30 Jahre alt ist und auch in den Ergebnissen der Psychiatrie-Enquete aus
dem Jahre 1975 enthalten ist
-
Erleichterung der Inanspruchnahme professioneller Hilfesysteme
-
Optimierung der Versorgung in allen Bereichen der Medizin
angesichts der hohen Komorbiditätsrate psychischer und somatischer Erkrankungen
-
vorurteilsfreier, personenzentrierter professioneller Umgang mit
Betroffenen und Angehörigen in allen Bereichen der Medizin
-
Integration der Stigmaproblematik und ihrer
Bewältigungsmöglichkeiten in Aus-, Fort- und Weiterbildung von Ärzten und
anderen medizinischen Professionen
-
Interessenvertretung dieser Gruppe von Erkrankten bei
nachweislicher struktureller Benachteiligung gemeinsam mit Patienten- und
Angehörigenverbänden
-
aktive Beteiligung an nationalen Aufklärungsprogrammen und ihrer
wissenschaftlichen Evaluation
Es wäre gut, wenn diese Programme nicht nur als Gutmenschentum
in die Welt gesetzt würden, sondern wenn sie auch hinsichtlich der Frage ihrer
Wirksamkeit evaluiert würden. Sie sind wirksam. Sie können auf einem Poster,
das hier ausgehängt ist, sehen, dass derartige Maßnahmen wirksam sind.
Stigma und Diskriminierung aktiv bekämpfen - meine Damen und
Herren, das ist eine Herausforderung für die Ärzteschaft und eine Chance für
die Betroffenen.
Ich bitte Sie, Ihre Zustimmung zu der vorliegenden
Beschlussvorlage nicht zu versagen.
Vielen Dank.
(Beifall)
Präsident Prof. Dr. Dr. h. c. Hoppe: Vielen Dank,
Herr Professor Gaebel, für diese Ergänzung, die uns noch einmal die spezielle
Problematik aus deutscher Sicht dargestellt hat, die aber mühelos in den
internationalen Kontext passt.
Wir hören jetzt als zweiten Korreferenten Herrn Professor
Remschmidt aus Marburg. Bitte schön.
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