Prof. Dr. Dr. Remschmidt, als geladener Gast:
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt
keinen Zweifel daran, dass das Phänomen der Stigmatisierung auch auf psychisch
kranke Kinder und Jugendliche und ihre Familien zutrifft. Das beste
Gegengewicht ist eine kompetente Behandlung, die auf der Basis des jeweiligen
empirischen Wissens beruht.
Dies ist meine zentrale These, die ich im Folgenden kurz
erläutern möchte.
Stigmatisierung ereignet sich in vielfältiger Weise, auch was
Kinder und Jugendliche und deren Familien betrifft. Es gibt eine unzureichende
Wahrnehmung, die natürlich auch zu einer unzureichenden Diagnostik führt.
Psychische Krankheiten bei Kindern werden oft als Erziehungsfehler angesehen,
als Milieuprodukte oder als erfundene Erkrankungen, wie ein jüngst erschienenes
Buch weismachen will. Es gibt auch eine unzureichende Behandlung. Wir wissen, dass
weniger als 50 Prozent der Behandlungsbedürftigen angemessen behandelt werden.
Es gibt eine Vielzahl von nicht zutreffenden Vorstellungen,
etwa dass seelische Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter geleugnet werden,
also die Annahme der Nichtexistenz. Die Krankheiten werden als gefährlich
angesehen, wenn es um Jugendliche geht, als Krankheiten, die in die
Kriminalität führen. Oder diese Krankheiten werden als unheilbar, als nicht
kontrollierbar, als chronisch oder auch als Schuld der Eltern angesehen.
Als ich vor Jahren im Ärzteblatt einen Beitrag über Autismus
mit dem nüchternen Titel "Neue Erkenntnisse zum frühkindlichen Autismus"
veröffentlichte, sagten die dortigen Redakteure: Sie haben eine andere
Botschaft, schreiben Sie doch "Frühkindlicher Autismus: Eltern haben keine
Schuld". Dem bin ich gefolgt. Ich habe aus Deutschland, Österreich und der
Schweiz über 400 Zuschriften erhalten, weil sich die Eltern entlastet fühlten.
Es gibt auch Hinweise in der Umgangssprache bezüglich der
Stigmatisierung und Diskriminierung psychisch Kranker: Idiot, Spinner,
verrückt, schizophren oder Behinderter. Das alles sind Ausdrücke, die sich auch
auf den Schulhöfen finden. Nicht selten kommen junge Menschen zu uns, weil sie
nicht mehr in die Schule gehen können, weil sie sich auf dem Schulhof
diskriminiert fühlen.
Wir wissen, dass knapp die Hälfte aller seelischen
Erkrankungen des Erwachsenenalters im Kindes- und Jugendalter beginnen. Wir
wissen auch - das belegen internationale Studien -, dass 5 Prozent der Kinder
und Jugendlichen bis zum Alter von 18 Jahren behandlungsbedürftig sind. Bei
weiteren 10 bis 13 Prozent sind aufgrund von auffälligen Verhaltensweisen
diagnostische Maßnahmen und Beratungsangebote angezeigt. Es zeigen sich
regelmäßig weltweit Differenzen zwischen der Inanspruchnahme und der Prävalenz
dieser Störungen.
Wir haben vor Jahren in Hessen eine repräsentative
Untersuchung durchgeführt und herausgefunden, dass eine Auffälligkeitsrate von
12,7 Prozent festzustellen war, aber nur 3,3 Prozent behandelt wurden, davon
die Hälfte in nicht sachkundigen Einrichtungen.
Wenn wir von epochalen Trends bezüglich der Zunahme der Zahl
psychisch Kranker sprechen, müssen wir differenzieren. Herr Professor Sartorius
hat bereits auf das Phänomen der Differenzierung hingewiesen. "Psychisch krank"
ist nicht gleich "psychisch krank", sondern wir müssen unterscheiden. Eine Auswertung
der wissenschaftlichen Literatur aus den letzten 50 Jahren zeigt, dass die Zahl
bestimmter Störungen deutlich zugenommen hat, dass die Häufigkeit bei anderen
Erkrankungen gleich geblieben ist und dass bei anderen Erkrankungen die Zunahme
fraglich ist. Zugenommen haben ohne Zweifel: aggressives Verhalten, Alkohol-
und Drogenabhängigkeit, Depression - übrigens mit Vorverlagerung des Beginns -,
suizidales Verhalten, Adipositas und auch Essstörungen.
Keine Zunahme können wir bei bestimmten organischen
Erkrankungen, bei Autismus und Schizophrenie feststellen.
Fraglich ist die Zunahme im Kindes- und Jugendalter bei
Zwangsstörungen, Angststörungen, Tickstörungen und Tourette-Syndrom sowie
Persönlichkeitsstörungen.
Wir müssen uns darüber im Klaren sein, meine Damen und Herren,
dass psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter eine große Bürde für die
Familie darstellen, aber auch ein gewaltiges ökonomisches Problem. Die Folgen
werden sich in den nächsten Jahrzehnten zeigen, wenn ein Kind chronisch krank
ist und sein Leben lang diese chronische Erkrankung vielleicht auch nicht verliert.
Daher ist es notwendig, die diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen zu
intensivieren und sie auch zu bezahlen.
Eine Studie der WHO aus dem Jahre 2003 zu den
krankheitsadjustierten Lebensjahren hat ergeben, dass neuropsychiatrische
Erkrankungen bedeutungsvoller sind als bösartige Tumoren und kardiovaskuläre
Erkrankungen. Das bezieht sich auf das Alter von rund 20 Jahren.
Was ist zu tun? Wir müssen uns bemühen, zu einer kompetenten
Behandlung zu kommen.
These 1: Psychisch kranke Kinder und Jugendliche müssen
körperlich kranken Kindern und Jugendlichen absolut gleichgestellt werden. Das
heißt, das psychisch kranke Kind, der psychisch kranke Jugendliche muss das
Krankenhaus durch dieselbe Tür betreten wie der körperlich Kranke. Das ist noch
nicht realisiert.
These 2: Die Versorgung psychisch kranker Kinder und
Jugendlicher muss gemeindenah und mit ausreichender Spezialisierung erfolgen.
These 3: Versorgungsmaßnahmen und Therapieangebote müssen
kontinuierlich nach anerkannten und wissenschaftlich fundierten Grundsätzen
durchgeführt und evaluiert werden. Es genügt nicht, Psychotherapie zu fordern;
wir müssen auch nachweisen, dass sie wirksam ist. Das können wir auch.
These 4: Die interdisziplinäre Zusammenarbeit ist
unverzichtbar, sie muss aber institutionalisiert werden. Hier bestehen noch
Defizite.
These 5: Besonderer Wert ist auf eine umfassende Weiterbildung
in der Psychotherapie zu legen. Sie muss intensiviert werden, und zwar für alle
Arztgruppen, denn psychische Störungen kommen in der Arbeit aller
Facharztgruppen vor. Auch in der Allgemeinmedizin sind sie weit verbreitet. Ich
plädiere auch in meiner Eigenschaft als Psychologe für eine gemeinsame
Ausbildung der ärztlichen und der Psychologischen Psychotherapeuten. Bei uns in
Marburg geschieht dies seit 20 Jahren, und zwar mit großem Erfolg.
These 6: Therapeutische und präventive Ansätze sowie
Therapieaus- und -weiterbildung müssen stärker gefördert werden.
These 7: Versorgung, Therapie und Forschung müssen
zusammengeführt und versöhnt werden. Es gibt immer noch das Vorurteil - auch
das trägt zur Stigmatisierung bei -, dass eine gute Versorgung, der
individuelle Zugang zum Patienten nicht kompatibel ist mit einer
wissenschaftlichen Evaluation des therapeutischen Prozesses.
Wenn wir so vorgehen, haben wir das beste Gegengewicht gegen
die Stigmatisierung.
Ich danke Ihnen.
(Beifall)
Präsident Prof. Dr. Dr. h. c. Hoppe: Vielen Dank,
Herr Remschmidt, für diese Ergänzung und auch für die Statistiken über das, was
sich in Deutschland ereignet. Wir haben diese Problematik bereits 1974 auf dem
Deutschen Ärztetag in Berlin behandelt. Dort stand dieses Thema auf der
Tagesordnung, weil man - unter anderen Bezeichnungen - das Ziel verfolgt hat,
die psychiatrisch Kranken, wie sie damals genannt wurden, aus den isolierten
Landeskrankenhäusern oder "Irrenanstalten" herauszuholen und in die normalen
Krankenhäuser zu bringen, damit das Ganze nicht so ghettoartig abläuft - mit
Ausnahme der forensischen Psychiatrie, bei der eine gewisse Ghettoisierung
nicht vermieden werden kann.
Das war vor über 30 Jahren. Es hat eine vorübergehende
Entwicklung in diese Richtung gegeben, aber es hat auch eine Rückentwicklung
gegeben. Deshalb steht dieses Thema heute wiederum auf der Tagesordnung.
Ich glaube, nach diesen drei Referaten sind wir voll im Bilde
und können uns der Diskussion zuwenden. Es liegen bereits einige Wortmeldungen
vor. Es liegen der Antrag II-1 des Vorstands mit den drei Änderungsanträgen 1
a, 1 b und 1 c sowie die Anträge II-16 und II-17 vor.
Der erste Redner in der Diskussion ist Herr Kühn aus
Baden-Württemberg. Bitte schön, Herr Kühn.
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