TOP II: Behandlung von Menschen mit psychischen und psychosomatischen Erkrankungen: Gegen Stigmatisierung - Für Stärkung der ärztlichen Psychotherapie

2. Tag: Mittwoch, 24. Mai 2006 Vormittagssitzung

Prof. Dr. Dr. RemschmidtProf. Dr. Dr. Remschmidt, als geladener Gast: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt keinen Zweifel daran, dass das Phänomen der Stigmatisierung auch auf psychisch kranke Kinder und Jugendliche und ihre Familien zutrifft. Das beste Gegengewicht ist eine kompetente Behandlung, die auf der Basis des jeweiligen empirischen Wissens beruht.

Dies ist meine zentrale These, die ich im Folgenden kurz erläutern möchte.

Stigmatisierung ereignet sich in vielfältiger Weise, auch was Kinder und Jugendliche und deren Familien betrifft. Es gibt eine unzureichende Wahrnehmung, die natürlich auch zu einer unzureichenden Diagnostik führt. Psychische Krankheiten bei Kindern werden oft als Erziehungsfehler angesehen, als Milieuprodukte oder als erfundene Erkrankungen, wie ein jüngst erschienenes Buch weismachen will. Es gibt auch eine unzureichende Behandlung. Wir wissen, dass weniger als 50 Prozent der Behandlungsbedürftigen angemessen behandelt werden.

Es gibt eine Vielzahl von nicht zutreffenden Vorstellungen, etwa dass seelische Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter geleugnet werden, also die Annahme der Nichtexistenz. Die Krankheiten werden als gefährlich angesehen, wenn es um Jugendliche geht, als Krankheiten, die in die Kriminalität führen. Oder diese Krankheiten werden als unheilbar, als nicht kontrollierbar, als chronisch oder auch als Schuld der Eltern angesehen.

Als ich vor Jahren im Ärzteblatt einen Beitrag über Autismus mit dem nüchternen Titel "Neue Erkenntnisse zum frühkindlichen Autismus" veröffentlichte, sagten die dortigen Redakteure: Sie haben eine andere Botschaft, schreiben Sie doch "Frühkindlicher Autismus: Eltern haben keine Schuld". Dem bin ich gefolgt. Ich habe aus Deutschland, Österreich und der Schweiz über 400 Zuschriften erhalten, weil sich die Eltern entlastet fühlten.

Es gibt auch Hinweise in der Umgangssprache bezüglich der Stigmatisierung und Diskriminierung psychisch Kranker: Idiot, Spinner, verrückt, schizophren oder Behinderter. Das alles sind Ausdrücke, die sich auch auf den Schulhöfen finden. Nicht selten kommen junge Menschen zu uns, weil sie nicht mehr in die Schule gehen können, weil sie sich auf dem Schulhof diskriminiert fühlen.

Wir wissen, dass knapp die Hälfte aller seelischen Erkrankungen des Erwachsenenalters im Kindes- und Jugendalter beginnen. Wir wissen auch - das belegen internationale Studien -, dass 5 Prozent der Kinder und Jugendlichen bis zum Alter von 18 Jahren behandlungsbedürftig sind. Bei weiteren 10 bis 13 Prozent sind aufgrund von auffälligen Verhaltensweisen diagnostische Maßnahmen und Beratungsangebote angezeigt. Es zeigen sich regelmäßig weltweit Differenzen zwischen der Inanspruchnahme und der Prävalenz dieser Störungen.

Wir haben vor Jahren in Hessen eine repräsentative Untersuchung durchgeführt und herausgefunden, dass eine Auffälligkeitsrate von 12,7 Prozent festzustellen war, aber nur 3,3 Prozent behandelt wurden, davon die Hälfte in nicht sachkundigen Einrichtungen.

Wenn wir von epochalen Trends bezüglich der Zunahme der Zahl psychisch Kranker sprechen, müssen wir differenzieren. Herr Professor Sartorius hat bereits auf das Phänomen der Differenzierung hingewiesen. "Psychisch krank" ist nicht gleich "psychisch krank", sondern wir müssen unterscheiden. Eine Auswertung der wissenschaftlichen Literatur aus den letzten 50 Jahren zeigt, dass die Zahl bestimmter Störungen deutlich zugenommen hat, dass die Häufigkeit bei anderen Erkrankungen gleich geblieben ist und dass bei anderen Erkrankungen die Zunahme fraglich ist. Zugenommen haben ohne Zweifel: aggressives Verhalten, Alkohol- und Drogenabhängigkeit, Depression - übrigens mit Vorverlagerung des Beginns -, suizidales Verhalten, Adipositas und auch Essstörungen.

Keine Zunahme können wir bei bestimmten organischen Erkrankungen, bei Autismus und Schizophrenie feststellen.

Fraglich ist die Zunahme im Kindes- und Jugendalter bei Zwangsstörungen, Angststörungen, Tickstörungen und Tourette-Syndrom sowie Persönlichkeitsstörungen.

Wir müssen uns darüber im Klaren sein, meine Damen und Herren, dass psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter eine große Bürde für die Familie darstellen, aber auch ein gewaltiges ökonomisches Problem. Die Folgen werden sich in den nächsten Jahrzehnten zeigen, wenn ein Kind chronisch krank ist und sein Leben lang diese chronische Erkrankung vielleicht auch nicht verliert. Daher ist es notwendig, die diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen zu intensivieren und sie auch zu bezahlen.

Eine Studie der WHO aus dem Jahre 2003 zu den krankheitsadjustierten Lebensjahren hat ergeben, dass neuropsychiatrische Erkrankungen bedeutungsvoller sind als bösartige Tumoren und kardiovaskuläre Erkrankungen. Das bezieht sich auf das Alter von rund 20 Jahren.

Was ist zu tun? Wir müssen uns bemühen, zu einer kompetenten Behandlung zu kommen.

These 1: Psychisch kranke Kinder und Jugendliche müssen körperlich kranken Kindern und Jugendlichen absolut gleichgestellt werden. Das heißt, das psychisch kranke Kind, der psychisch kranke Jugendliche muss das Krankenhaus durch dieselbe Tür betreten wie der körperlich Kranke. Das ist noch nicht realisiert.

These 2: Die Versorgung psychisch kranker Kinder und Jugendlicher muss gemeindenah und mit ausreichender Spezialisierung erfolgen.

These 3: Versorgungsmaßnahmen und Therapieangebote müssen kontinuierlich nach anerkannten und wissenschaftlich fundierten Grundsätzen durchgeführt und evaluiert werden. Es genügt nicht, Psychotherapie zu fordern; wir müssen auch nachweisen, dass sie wirksam ist. Das können wir auch.

These 4: Die interdisziplinäre Zusammenarbeit ist unverzichtbar, sie muss aber institutionalisiert werden. Hier bestehen noch Defizite.

These 5: Besonderer Wert ist auf eine umfassende Weiterbildung in der Psychotherapie zu legen. Sie muss intensiviert werden, und zwar für alle Arztgruppen, denn psychische Störungen kommen in der Arbeit aller Facharztgruppen vor. Auch in der Allgemeinmedizin sind sie weit verbreitet. Ich plädiere auch in meiner Eigenschaft als Psychologe für eine gemeinsame Ausbildung der ärztlichen und der Psychologischen Psychotherapeuten. Bei uns in Marburg geschieht dies seit 20 Jahren, und zwar mit großem Erfolg.

These 6: Therapeutische und präventive Ansätze sowie Therapieaus- und -wei­terbildung müssen stärker gefördert werden.

These 7: Versorgung, Therapie und Forschung müssen zusammengeführt und versöhnt werden. Es gibt immer noch das Vorurteil - auch das trägt zur Stigmatisierung bei -, dass eine gute Versorgung, der individuelle Zugang zum Patienten nicht kompatibel ist mit einer wissenschaftlichen Evaluation des therapeutischen Prozesses.

Wenn wir so vorgehen, haben wir das beste Gegengewicht gegen die Stigmatisierung.

Ich danke Ihnen.

(Beifall)

Präsident Prof. Dr. Dr. h. c. Hoppe: Vielen Dank, Herr Remschmidt, für diese Ergänzung und auch für die Statistiken über das, was sich in Deutschland ereignet. Wir haben diese Problematik bereits 1974 auf dem Deutschen Ärztetag in Berlin behandelt. Dort stand dieses Thema auf der Tagesordnung, weil man - unter anderen Bezeichnungen - das Ziel verfolgt hat, die psychiatrisch Kranken, wie sie damals genannt wurden, aus den isolierten Landeskrankenhäusern oder "Irrenanstalten" herauszuholen und in die normalen Krankenhäuser zu bringen, damit das Ganze nicht so ghettoartig abläuft - mit Ausnahme der forensischen Psychiatrie, bei der eine gewisse Ghettoisierung nicht vermieden werden kann.

Das war vor über 30 Jahren. Es hat eine vorübergehende Entwicklung in diese Richtung gegeben, aber es hat auch eine Rückentwicklung gegeben. Deshalb steht dieses Thema heute wiederum auf der Tagesordnung.

Ich glaube, nach diesen drei Referaten sind wir voll im Bilde und können uns der Diskussion zuwenden. Es liegen bereits einige Wortmeldungen vor. Es liegen der Antrag II-1 des Vorstands mit den drei Änderungsanträgen 1 a, 1 b und 1 c sowie die Anträge II-16 und II-17 vor.

Der erste Redner in der Diskussion ist Herr Kühn aus Baden-Württemberg. Bitte schön, Herr Kühn.

© 2006, Bundesärztekammer.