Dr. Bühren, Referentin: Sehr geehrter Herr
Präsident! Sehr geehrte Vizepräsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Ich werde aufzeigen, dass psychische und
psychosomatische Symptome, Erkrankungen und Komorbidität dramatisch zunehmen.
Wir müssen uns fragen: Welche Strukturen hat die deutsche Ärzteschaft bereits,
um dieser existenziellen Herausforderung erfolgreich zu begegnen? Welche
Schritte müssen wir in Zukunft gehen? Welche wissenschaftlichen Erkenntnisse
gibt es? Welche Chancen und Synergieeffekte liegen in der somato-psychischen
Kombinationstherapie, welche medikamentösen und technischen Interventionen
können dadurch eventuell reduziert werden, welche Versorgungsforschung sollte
diesbezüglich erfolgen? Und übergeordnet: Welches Arztbild haben wir heute?
Der scheinbar sperrige Titel meines Vortrags ist bereits
Symbol und Ergebnis der Beseitigung von Sperren zwischen psychotherapeutischen
Fachgesellschaften und Berufsverbänden.
Unüblicherweise sei den vielen überwiegend psychotherapeutisch
oder überwiegend somatisch Tätigen, die an der Vorbereitung dieses Tagesordnungspunkts
beteiligt waren, wegen ihres großen Engagements schon hier ganz am Anfang
gedankt.
Im Folgenden möchte ich Sie mit Thesen und dem daraus jeweils
gezogenen Fazit durch die Thematik führen.
These 1 lautet: Weltweit - so auch in Deutschland - ist eine
starke Zunahme psychischer und psychosomatischer Erkrankungen zu verzeichnen.
Zu Beginn möchte ich Sie mit den in dieser Form erstmals
erhobenen Daten der WHO vertraut machen. Man kann es als eine - auch für
Fachleute - unerwartete Überraschung bezeichnen, was in dem 2001
veröffentlichten World Health Report deutlich wurde: Gemessen an den
Lebensjahren, die durch Behinderung beeinträchtigt sind, gehören zu den zehn
schwersten Erkrankungen fünf seelische Krankheitsbilder. Mit 12 Prozent führt
die unipolare Depression das Gesamtspektrum aller Erkrankungen an, gefolgt von
der Alkoholkrankheit an fünfter Stelle, der Schizophrenie an siebter Stelle und
den bipolaren Störungen an neunter Stelle. Auf Rang 13 folgen die
Demenzerkrankungen.
Noch eklatanter stellt sich die Belastung der zukünftigen
Gesundheitssysteme dar, wenn man die Altersgruppe der jetzt 15- bis 44-Jährigen
betrachtet. Unter den fünf häufigsten Erkrankungen sind vier psychische
Erkrankungen. Nach der Depression liegt die Alkoholerkrankung bereits an
zweiter Stelle. Jedem kann damit deutlich werden, dass wir uns hier mit einer
massiven und für Volkswirtschaft und Gesundheitswesen sehr teuren
Suchterkrankung zu befassen haben.
Die EU-Gesundheitsministerkonferenz hat sich 2005 mit diesen
brisanten Daten befasst und die Deklaration von Helsinki unterzeichnet. Sie
will aufgrund der immensen sozialen und volkswirtschaftlichen Auswirkungen eine
Strategie zur Förderung der psychischen Gesundheit erarbeiten und hat dazu das
so genannte Grünbuch verfasst.
Nun zu Deutschland. Schauen wir uns zuerst einmal die 6- bis
12-Monatsprävalenzraten psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen
zwischen 6 und 18 Jahren an. Bis zum Alter von etwa 13 Jahren sind diese Störungen
bei Jungen doppelt so häufig, danach sind Mädchen zunehmend stärker betroffen.
Die Störungen des Sozialverhaltens sind mit 10 Prozent am häufigsten.
Eine europaweite Studie hat die gesellschaftlichen Kosten
summiert, die durch Verhaltensstörungen bei Kindern verursacht werden. Kinder
mit Störungen des Sozialverhaltens verursachen siebenmal höhere Kosten als
Kinder, die ohne Verhaltensstörungen aufwachsen. Der größte Teil der Kosten
wird durch Kriminalität und beispielsweise Erziehungs- und Heimkosten
verursacht.
Bei somatischen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter
spielen depressive Störungen eine beachtenswerte Rolle, so beispielsweise bei
einem Viertel der an Diabetes oder an Epilepsie Erkrankten.
Für die ambulante Therapie der seelischen Erkrankungen stehen
deutschlandweit auf ärztlicher Seite nur 647 Kinder- und Jugendpsychiater und
-psychiaterinnen zur Verfügung. Zusätzlich haben von den circa 6 000
niedergelassenen Kinder- und Jugendärzten und -ärztinnen nach Aussagen des
Berufsverbands 800 - das entspricht einem Anteil von 13 Prozent - den
Psychotherapie-Zusatztitel. Warum aber nur ein Viertel von diesen - also 3
Prozent aller Pädiater und Pädiaterinnen - die immerhin kostenträchtig
erworbenen psychotherapeutischen Kompetenzen tatsächlich abrechnen, hat
vermutlich vielfältige Gründe. An dieser Stelle soll nur kurz angedeutet
werden, dass eine der Ursachen davon die schlechte Honorierung derjenigen
psychotherapeutisch tätigen Ärzte und Ärztinnen ist, die weniger als 90 Prozent
ihrer Leistungen als Richtlinienpsychotherapie erbringen.
Wir kommen nun zu den Prävalenzraten psychischer Störungen bei
Erwachsenen. Wie Sie aus der 12-Monatsprävalenz des Bundesgesundheitssurveys
von 2001 ersehen, spielen die Angsterkrankungen die größte Rolle. Wenn man zu
den 8,5 Millionen mit Phobien noch die 1,6 Millionen mit einer generalisierten
Angsterkrankung und die 1,5 Millionen mit Panikstörungen hinzuzählt, kommt man
allein bei den Angsterkrankungen insgesamt auf einen Prozentsatz von 17,5 und
eine jährliche Anzahl von fast 12 Millionen Menschen.
An zweiter Stelle treten bei 11 Prozent aller Erwachsenen
innerhalb eines Jahres somatoforme Störungen auf, bei denen kein den
Beschwerden entsprechender körperlicher Befund erhoben werden kann. Diese
weiteren circa 7,4 Millionen kranken Menschen binden im ärztlichen Alltag hohe
zeitliche und finanzielle Ressourcen und erfordern eine effektive
psychosomatische Therapie.
Dementsprechend verwundert es nicht, dass die Zahl der
Menschen, die im Laufe eines Jahres wegen einer psychischen Erkrankung
vorübergehend krankgeschrieben werden, sich seit 1994 um 80 Prozent erhöht hat.
Während also die Arbeitsunfähigkeitstage aufgrund psychischer Erkrankungen permanent
angestiegen sind, haben die AU-Tage aufgrund körperlicher Erkrankungen
beständig abgenommen.
Zur effektiven Verringerung der Erkrankungshäufigkeiten wird
auch die Berücksichtigung der geschlechtsdifferenten Aspekte erforderlich sein.
Das Gleiche gilt für die Frühberentungen. Auch hier sind die
psychischen Erkrankungen bei Männern seit 2003 und bei Frauen seit 1997 die
Ursache Nummer eins für das vorzeitige Ausscheiden aus dem aktiven
Erwerbsleben. Erkrankungen wie Krebs und Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder
Beeinträchtigungen der Bewegungsorgane sind in den letzten Jahren als
Frühberentungsursache entweder gleich häufig geblieben oder haben deutlich
abgenommen.
Wir kommen jetzt zur Versorgungssituation psychischer und
psychosomatischer Erkrankungen. Die gesundheitspolitische Relevanz in der
ambulanten Medizin spiegelt sich in einer Vielzahl von epidemiologischen
Untersuchungen wider. Ergebnisse aus hausärztlichen Praxen in Berlin als Teil
einer WHO-Studie zeigen, dass 25 Prozent der Patientinnen und Patienten, die
ihren Hausarzt oder ihre Hausärztin aufsuchen, alleinige oder komorbide
psychische und psychosomatische Erkrankungen aufweisen.
Als Beispiel einer mit enormen Folgekosten behafteten
Erkrankung mit meistens sowohl körperlicher als auch psychischer Symptomatik
möchte ich die posttramatische Belastungsstörung (PTBS) herausgreifen. Sie
kommt scheinbar wie eine Modekrankheit daher, ist aber so alt wie die
Menschheit - und wird meist unterschätzt. Nach neueren Untersuchungen leiden
circa 10 Prozent der Patienten und Patientinnen einer
allgemeinärztlichen/internistischen Praxis an dieser durch existenzielle
Erfahrungen verursachten Störung. Die häufigsten Risikosituationen stellen
dabei die interpersonelle Gewalt im zum Teil nahen sozialen Umfeld dar, also
die häusliche Gewalt gegen Kinder und Frauen und Vergewaltigungen.
Weiterhin kann - das ist noch sehr unberücksichtigt - die PTBS
infolge schwerer körperlicher Erkrankungen wie beispielsweise Herzinfarkt,
Reanimation, Notfalloperation, Transplantation oder Tumorerkrankung auftreten.
Eine Studie mit Unfallopfern zeige ich später.
Diese Patientinnen und Patienten erleben in der Praxis häufig,
dass zum Beispiel nach einem wiederholten Myokardinfarkt zwar die
Cholesterinwerte und das Belastungs-EKG häufiger kontrolliert und Herzkatheter
geschoben werden, dass aber eine spezifische Abklärung und Behandlung ihrer
psychischen Leiden wie Schlafstörungen, depressive Verstimmung oder
Libidoverlust nicht erfolgt. Dies kann auch als Diskriminierung psychischer
Symptome bezeichnet werden.
Wenn der Arzt oder die Ärztin des Vertrauens nicht selbst die
seelischen Aspekte als gleichwertig mit den körperlichen anspricht bzw. zur
kompetenten Mitbehandlung überweist, wird die häufige Stigmatisierung von
seelischer Begleitsymptomatik in der Bevölkerung im Sinne eines Circulus
vitiosus verfestigt.
Sie alle kennen auch alte Patientinnen und Patienten, die
immer wieder von ihren traumatischen Erlebnissen als Kriegs- und
Flüchtlingskinder oder als Soldaten eingeholt werden.
Oft bleibt es aber bei den nicht kontrollierbaren nächtlichen
Albträumen, die Einblick in die tiefen Verwundungen geben. Eine Psychotherapie
kann hier auch nach so langer Zeit heilsam wirken.
Selbstverständlich sind auch Menschen betroffen, die
medienwirksame Großschadensereignisse wie das Zugunglück von Eschede oder
Naturkatastrophen wie den Tsunami 2004 durchleben mussten.
In das neue (Muster-)Kursbuch "Notfallmedizin" wurden die
Grundzüge der Psychotraumatologie und die Krisenintervention inzwischen
aufgenommen.
Wie entscheidend die Beachtung von psychischen
Begleiterkrankungen für Therapieerfolge ist, verdeutlicht folgende Tatsache:
Nur 5 Prozent der Patienten und Patientinnen mit koronarer Herzerkrankung
nehmen ihre Medikamente unzuverlässig bzw. gar nicht ein. Bei einer
gleichzeitigen Depression steigt dieser Wert jedoch auf das Dreifache an.
Entsprechende Befunde von abnehmender Compliance gibt es auch
für Diabetes mellitus und Depression. Und: Im Zeitalter des AVWG sind
unverbrauchte wertvolle Medikamente noch ein gesonderter Diskussionspunkt.
Wie sieht es stationär aus? Mehrere Studien zeigen, dass durchschnittlich
etwa ein Drittel der körperlich Kranken in einem Allgemeinen Krankenhaus
zusätzlich mit psychischen und psychosomatischen Störungen belastet sind.
Was sind nun die möglichen Gründe für die Zunahme psychischer
Erkrankungen?
-
Die Familien sind kleiner geworden und seltener mit Großeltern im
Haushalt
-
Die Scheidungsrate ist auf fast 50 Prozent in Städten angestiegen
-
Die erhöhte Mobilität hat zur Abnahme dauerhafter sozialer
Beziehungen geführt
-
Das veränderte Rollenverständnis führt insbesondere bei Frauen zu
Doppel- und Dreifachbelastungen
-
Angst vor Arbeitslosigkeit und negativer Stress am Arbeitsplatz
sind deutlich gestiegen
-
Immer mehr Menschen leben ihre sozialen Kontakte in Chatrooms
-
Wir haben zunehmend eine entseelte Gesellschaft mit einem hohen
Ausmaß sozialer Stressfaktoren und weltanschaulicher und spiritueller
Orientierungslosigkeit
All diese Faktoren machen es notwendig, speziell Kinder
frühzeitig und nachhaltig zu fördern. Das Setting-Projekt "Gesundheit macht
Schule" der Ärztekammer Nordrhein und der AOK Rheinland praktiziert dies
beispielhaft gemeinsam mit Schülern, Eltern, Lehrern und Ärzteschaft und lädt
zur Nachahmung in allen Kammerbereichen ein.
Eine zu einseitig somatisch ausgerichtete Medizin birgt
mehrere Gefahren: erstens dass sich Patientinnen und Patienten an uns nur mit
ihren somatischen Beschwerden wenden und die psychosozialen Aspekte ihrer
Erkrankung entweder unberücksichtigt bleiben oder zweitens sie sich damit an
nicht ärztliche Berufsgruppen wenden, was eine Deprofessionalisierung unserer
Profession bedeutet. Drittens bleibt der fragmentierte Patient als Ganzes
unscharf, fühlt sich nicht ganzheitlich erfasst und wird nicht bestmöglich
ärztlich betreut.
Als Fazit ist zu formulieren: Psychische und psychosomatische
Erkrankungen sind zu einem zentralen Problem des Gesundheitswesens geworden.
Die intensive Befassung der Ärzteschaft mit dieser großen Aufgabe ist
erforderlich. Was haben wir denn bereits vorzuweisen? Vor genau 50 Jahren wurde
vom Deutschen Ärztetag auf dem Boden der Pionierleistungen zum Beispiel des
Nervenarztes Sigmund Freud und später des Internisten Viktor von Weizsäcker die
ärztliche Psychotherapie mit der Zusatzbezeichnung in die ärztliche Weiterbildungsordnung
integriert. Die Zusatzbezeichnung "Psychoanalyse" folgte 1978. Einen Facharzt
für Kinder- und Jugendlichenpsychiatrie gibt es seit 1969 und seit 1970 in der
DDR bereits einen Facharzt "Psychotherapie".
1984 bzw. 1987 wurde die "Psychosomatische Grundversorgung" in
die Weiterbildungsordnung bzw. in das Vergütungssystem der KVen eingeführt.
1992 schließlich wurde der Facharzt für Psychiatrie in Facharzt für Psychiatrie
und Psychotherapie umbenannt. Gleiches erging für die Kinder- und Jugendlichenpsychiatrie
und Psychotherapie.
Neu in die (Muster-)Weiterbildungsordnung aufgenommen wurde
vor 14 Jahren der Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, der dann vor drei
Jahren in Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie umbenannt
wurde.
Neu ist seit 2003 neben der bisherigen Zusatzweiterbildung
"Psychotherapie" die "Fachgebundene Psychotherapie".
Nun kommen wir zur ambulanten Versorgungssituation. Wir haben
14 700 Psychologische Psychotherapeuten und Kinder- und
Jugendpsychotherapeuten, die sich selbst kurz als PP und KJP bezeichnen. Im
Verhältnis dazu gibt es 3 600 überwiegend psychotherapeutisch tätige Ärzte
und Ärztinnen. Beide Gruppen behandeln insgesamt circa 650 000 Fälle pro
Quartal. Es sind also viermal mehr Psychologische Psychotherapeuten und KJPler
als ärztliche Psychotherapeuten im System.
Am umfangreichsten ist die psychiatrisch-psychotherapeutische
Versorgung von circa 3,5 Millionen Fällen pro Quartal durch 4 700
Fachärzte und Fachärztinnen für Psychiatrie und Psychotherapie und Fachärzte
und Fachärztinnen für Nervenheilkunde. Diese 3,5 Millionen müssen bei einer
inzwischen sehr geringen Leistungspauschale von circa 35 bis 40 Euro pro
Patient und pro Quartal behandelt werden, unterschiedlich je nach KV. Die
geringe Honorierung erlaubt zwei Patientenkontakte zu je zehn Minuten im Quartal.
Entsprechend werden viele Leistungen unentgeltlich erbracht. Hier sind derzeit
Gespräche mit der KBV im Gange.
Zu erwähnen ist an dieser Stelle, dass zusätzlich zur
Richtlinienpsychotherapie und basispsychiatrischen Behandlung natürlich auch
abgestuft und bedarfsgerecht milieunahe Beratung zur Anwendung kommt: in
Erziehungs- und Suchtberatungsstellen und in der Arbeit mit Straffälligen und
Migranten. Nicht zu vernachlässigen ist die in Kirchen und Krankenhäusern
geleistete theologische Seelsorge. Bei der Versorgung mit überwiegend
psychotherapeutisch tätigen Ärzten und Ärztinnen ist deutlich das West-Ost- und
das Süd-Nord-Gefälle zu erkennen. In den neuen Bundesländern ist die Versorgung
teilweise um ein Zehnfaches geringer als in den südlichen Bundesländern.
Zusätzlich gibt es ein Stadt-Land-Gefälle.
Wie sieht für die nächsten zehn Jahre prognostiziert die
ambulante Versorgungslandschaft aus?
Im Gebiet Psychiatrie und Psychotherapie wird die Anzahl der
Ärzte und Ärztinnen um die 4 000 stabil bleiben. Berücksichtigt man die
aus Altersgründen ausscheidenden Kollegen und Kolleginnen, so sieht man, dass
das Absinken der Arztzahlen im vertragsärztlichen Bereich durch den
Nachwuchsüberschuss kompensiert werden kann. Das gilt aber nur, wenn eine neue
Bedarfsplanung für diese Gruppe eingeführt wird. Zurzeit sind die Möglichkeiten
für eine Niederlassung reduziert, weil sich für eine frei werdende
Nervenarztpraxis - die Weiterbildung zum Nervenarzt gibt es jetzt nicht mehr -
entweder ein Neurologe oder ein Psychiater niederlassen kann, was damit die
Niederlassungsmöglichkeiten für psychiatrisch Tätige verringert.
Eine Möglichkeit wäre, für Intensivrichtlinientherapie
leistende Psychiater und Psychiaterinnen die Übernahme nicht zu besetzender
Praxen für Psychosomatik und Psychotherapie zu eröffnen.
Bislang absehbar wird sich nämlich die Anzahl der
niedergelassenen Fachärztinnen und Fachärzte für Psychosomatische Medizin und
Psychotherapie in den nächsten zehn Jahren halbieren, wenn dieses Gebiet nicht
gefördert wird. Pro Jahr schließen derzeit 90 die Weiterbildung ab.
Viele derer, die sich 1993 per Übergangsregelung niederlassen
konnten, werden aus Altersgründen ausscheiden. Das bereits jetzt massive
Ungleichgewicht zwischen Psychologischen und ärztlichen Psychotherapeuten wird
sich dadurch noch einmal vergrößern. Das heißt, die ärztliche Psychotherapie,
die überwiegend Richtlinienpsychotherapie leistet, ist derzeit tatsächlich in
Gefahr.
Wichtig ist, dass die so genannte 40-Prozent-Quote, wie sie in
§ 101 SGB V verankert ist, auch über das Jahr 2008 hinaus Bestand hat. Die
Quote besagt, dass ärztlicher und psychologischer Psychotherapie jeweils
mindestens 40 Prozent der in der Bedarfsplanung vorgesehenen Sitze zustehen. Um
den Bedürfnissen der Menschen nach integrierter seelischer und körperlicher
Behandlung gerecht zu werden, sollten deshalb nicht besetzte Sitze innerhalb
der ärztlichen Quote vorrangig mit Erwachsenen- und gegebenenfalls auch Kinder-
und Jugendpsychiatern und -psychotherapeuten besetzt werden können.
Die gerade besprochenen so genannten PPP-Fächer stellen
zusammen insgesamt 6,5 Prozent der Niedergelassenen. Angesichts des genannten
Vormarsches der psychischen und psychosomatischen Erkrankungen ist klar, dass
diese nicht von ihnen allein therapiert werden können. Es erhebt sich also die
Frage, wie viel Psychotherapie im engeren oder weiteren Sinne von den anderen
93,5 Prozent der ambulant tätigen Ärztinnen und Ärzte bereits erbracht wird.
Ferner erhebt sich die Frage, wie diese Kompetenzen versorgungsgerecht gestärkt
werden könnten.
Die Kassenärztliche Vereinigung Bayern hat mir dazu Daten für
das zweite Quartal 2005 zur Verfügung gestellt. Nach Fachgruppen aufgelistet,
finden Sie hier den Prozentsatz der Praxen, die Leistungen im Kapitel 35 ab den
Ziffern 35111 abrechnen. Das ist nicht die psychosomatische Grundversorgung, sondern
Psychotherapie im weiteren Sinne wie Entspannungsverfahren, wie autogenes
Training, Jakobsens Muskelrelaxation oder Hypnose und probatorische
Psychotherapiesitzungen bis zur Richtlinienpsychotherapie. Berücksichtigt sind
die, die dies zwischen 5 bis maximal 90 Prozent erbringen. Nach § 85
Abs. 4 SGB V im Zusammenhang mit Gerichtsurteilen erhalten nur die, die
mehr als 90 Prozent Psychotherapie erbringen, einen gestützten Punktwert für
ihre Leistungen. Einzige Ausnahme ist das Gebiet Psychiatrie und
Psychotherapie.
Das führt dann zu der Situation, dass ärztliche und
Psychologische Psychotherapeuten für eine Therapiestunde beispielsweise 75 Euro
garantiert erhalten, ein Haus- oder Facharzt hingegen je nach Punktwert der
Fachgruppe die Leistung im nicht seltenen Fall für die Hälfte der Summe oder
weniger erbringen muss.
Allgemeinärzte rechnen mit 2,6 Prozent bereits den höchsten
Anteil ab. Bei den Orthopäden sind es noch 0,1 Prozent. Die Daten der
Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe sind im Prinzip ähnlich.
Auf einer Folie der Kassenärztlichen Bundesvereinigung zur
selben Thematik noch einmal der springende Punkt: Sie sehen zwischen dem Block
der Anzahl der Psychologischen Psychotherapeuten und der Kinder- und
Jugendlichenpsychotherapeuten und dem Sockelblock der psychotherapeutisch
tätigen Ärztinnen und Ärzte den schmalen Block derjenigen Haus- und Fachärzte,
die Richtlinienpsychotherapie erbringen. Insgesamt haben 1 048 Niedergelassene
die Zusatzweiterbildung "Psychoanalyse" und 4 648 die Zusatzweiterbildung
"Psychotherapie". Das sind zusammen knapp 6 000.
Bei den abgerechneten Leistungen ist der Anteil der Ärztinnen
und Ärzte mit Zusatzweiterbildung noch geringer. Das Gleiche gilt für die
Kinder- und Erwachsenenpsychiatrie, sodass dadurch der Anteil der
psychologischen und pädagogischen Berufsgruppen von 60 Prozent bei der Anzahl
auf 70 Prozent bei der Leistungshäufigkeit steigt.
Ein kurzer Schwenk zum gesamten Leistungsanteil der
Richtlinienpsychotherapie. Dieser Anteil ist speziell in den neuen
Bundesländern mit 1,6 Prozent aller Leistungen extrem niedrig und ist mit 4,4
Prozent in den alten Bundesländern auch gering.
Unter dem massiven Druck der Kostenträger wurden in den psychiatrischen
Kliniken in den letzten 30 Jahren die Bettenzahlen halbiert. Inzwischen wurde
auch die Verweildauer drastisch reduziert. Durch die massive Reduktion der
Kapazitäten hat sich der Versorgungsdruck im ambulanten Bereich verstärkt.
Allerdings wurden die im stationären Bereich frei gewordenen Gelder nicht in
den ambulanten Sektor transferiert, um die im Durchschnitt schwerer kranken
Patienten und Patientinnen auch entsprechend auffangen zu können. Bei dieser
Unterfinanzierung ist in der psychiatrischen Basisversorgung eine unhaltbare
Situation entstanden. Einerseits wurde innerhalb von sieben Jahren die mittlere
Verweildauer von 40 auf circa 28 Tage deutlich gesenkt, andererseits ist die
Zahl der Wiederaufnahmen in die Krankenhäuser deutlich gestiegen. Also:
Drehtürpsychiatrie!
Für die stationäre Kinder- und Jugendpsychiatrie gilt das
Gleiche. Inzwischen sind etwa 50 Prozent der ebenfalls gestiegenen
Wiederaufnahmen Kriseninterventionen. Gleichzeitig hat das Gebiet einen großen
Nachwuchsbedarf. Aber eine größere Anzahl von Weiterbildungsstellen wird seit
langem vergeblich gefordert.
Daneben ist auch die Gerontopsychiatrie, die ja bezüglich der
Demenzen zu einem Leuchtturmprojekt der neuen Bundesregierung bestimmt wurde,
ein wachsender Aufgabenbereich für die leidgeprüften Angehörigen, die gesamte
Ärzteschaft und die Gesellschaft.
Nach jahrzehntelangen Diskussionen gibt es nun mit dem Gesetz
über die Berufe des Psychologischen Psychotherapeuten und des Kinder- und
Jugendlichenpsychotherapeuten zur Änderung des fünften Buches Sozialgesetzbuch
und anderer Gesetze seit 1999 zwei weitere Heilberufe. In § 12 des Gesetzes
waren großzügige Übergangsbestimmungen verankert. Die reale Anzahl der neuen
KV-Mitglieder ab 1999 war schließlich deutlich höher als ursprünglich
diagnostiziert. Gleichzeitig wurde von den Krankenkassen nicht das entsprechende
Budget mitgeliefert, was zu vielfältigen Prozessen und zu Auseinandersetzungen
innerhalb der KVen geführt hat.
Zweifelsfrei stellt die hohe Zahl der PP und KJP und die von
ihnen durchgeführte Richtlinienpsychotherapie eine Entlastung des
Versorgungsproblems dar. Die Anzahl der PP und KJP ist vor allem in den
Ballungsgebieten und Stadtstaaten relativ hoch. Beispielsweise liegt der Anteil
in Berlin mit 50 Therapeuten und Therapeutinnen pro 100 000 Einwohner
zehnmal höher als im benachbarten Sachsen-Anhalt mit fünf pro 100 000.
Eine weitere Änderung des Sozialgesetzbuchs V findet sich in §
80 und bezieht sich auf die Kassenärztlichen Vereinigungen. Ich zitiere:
Die Psychotherapeuten . sind . in den Vertreterversammlungen
vertreten, höchstens aber zu einem Zehntel der Mitglieder der
Vertreterversammlung.
Zur Information: Mit dieser Quote von bis zu 10 Prozent, die
auch in den meisten KVen voll zum Tragen kommt, haben die approbierten
Diplom-Psychologen, Diplom-Pädagogen und Sozialpädagogen garantierte
Stimmenanteile in den Vertreterversammlungen der Kassenärztlichen
Vereinigungen, was für Ärztinnen und Ärzte aus keiner ärztlichen Fachgruppe,
weder der Psychotherapie noch der Allgemeinmedizin oder zum Beispiel der
Inneren oder der Orthopädie/Unfallchirurgie, garantiert ist.
Dem Grundgedanken des Gesetzes - Schutz der Berufsbezeichnung
"Psychotherapeut" und kooperatives Zusammenwirken von ärztlichem und psychologischem
Bereich in der Patientenversorgung - wird in der konkreten Situation und zum
Beispiel auch im "Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie" Rechnung getragen.
Ich komme zum Fazit: Insbesondere aufgrund der unzureichenden
Finanzierung, aufgrund des massiven West-Ost- und Stadt-Land-Gefälles sowie
einer unzureichenden Integration psychosozialen Denkens in die Gesamtmedizin
ist das Gesundheitswesen auf die neuen Aufgaben noch nicht ausreichend eingestellt.
Meine These 3 lautet: Die Ärzteschaft muss zukünftig trotz der
enormen Fortschritte in der naturwissenschaftlichen Medizin auf die
psychosozialen Bedürfnisse ihrer Patienten und Patientinnen wieder stärker
eingehen können. David Sackett, der Stammvater der
evidenzbasierten Medizin, macht Mut: "The most powerful therapeutic tool you'll
ever have is your own personality".
(Beifall)
Die Resultate einer Untersuchung von Kruse et al. 2004 zeigen
tatsächlich, dass die kompetente und umfassende Anamneseerhebung bereits ein
wesentliches Instrument für die effektive ärztliche Diagnostik ist. So wird die
Verdachtsdiagnose eines psychosomatischen und/oder psychischen Störungsbildes
nach einer Gesprächsdauer von unter fünf Minuten nur in 30 Prozent, von fünf
bis zehn Minuten in 60 Prozent und bei einer Interaktionsdauer von mehr als
zehn Minuten in 75 Prozent der Fälle richtig erkannt. Das heißt, eine ausreichende
Gesprächsdauer ist erforderlich, weil sie Patienten und Patientinnen
Gelegenheit bietet, ihre wesentlichen Beschwerden und Sorgen zu schildern.
Die Untersuchung zeigt gleichzeitig, wie zielgenau Hausärzte
und Hausärztinnen in relativ kurzer Zeit eine wegweisende Verdachtsdiagnose
stellen können.
Das Fazit lautet, dass der nicht fragmentiert behandelnde,
sondern ganzheitlich bio-psycho-sozial denkende und handelnde Arzt verhindert, dass
der Patient fragmentiert wird.
Ich komme zu These 4: Eine Vielzahl von Evidenzen sprechen
dafür, dass sich ein ganzheitliches ärztliches Handeln in vielfältiger Weise
für alle Beteiligten zum Vorteil auswirkt. Auch die Wirtschaftlichkeit der
Patientenbehandlung gewinnt.
Eine neue amerikanische Verlaufsstudie beschäftigt sich mit
den Wechselwirkungen zwischen depressiven Müttern und ihren Kindern. Wurden
Mütter mit einer Depression über drei Monate medikamentös behandelt, erfolgte
in dieser Zeit eine 11-prozentige Reduktion der Verhaltensauffälligkeiten und
seelischen Symptome ihrer Kinder. Wurden die depressiven Mütter in der
Kontrollgruppe dahin gehend nicht behandelt, erfolgte in derselben Zeit von
drei Monaten ein achtprozentiger Anstieg der Symptome bei deren Kindern.
Diese Untersuchung und die bereits anfangs gezeigte zu den
immensen Kosten für die Gesellschaft bei schweren Verhaltensauffälligkeiten von
Kindern zeigen, wie notwendig und hilfreich es sein kann, auch im familiären
Umfeld psychische Störungen zu erkennen und zu behandeln.
Nun das bereits angekündigte Beispiel für eine erfolgreiche
psychotherapeutische Kurzintervention bei der posttraumatischen
Belastungsstörung. In einer Multicenterstudie in mehreren Unfallkliniken konnte
gezeigt werden, dass die chronisch posttraumatische Belastungsstörung, die
früher oft als "Rentenneurose" fehlinterpretiert wurde, präventiv vermieden
bzw. vermindert werden kann. Durch einen schweren Unfall stark aus dem
Gleichgewicht geratene Verletzte wurden mit einer fünfstündigen
verhaltenstherapeutischen Kurzintervention behandelt. Damit konnte ein
chronischer Verlauf im Sinne einer schweren posttraumatischen Belastungsstörung
verhindert werden. Sie zeigten nach einem Jahr nur noch leichte Symptome.
Wie steht es mit den Erwartungen und Wünschen der Patienten
und Patientinnen im Hinblick auf ihre Behandlung? Das ist mir bei einem Arzt
besonders wichtig.
Drei der vier häufigsten Patientenwünsche fokussieren bei der
entsprechenden Allensbach-Umfrage auf einen menschlichen und Vertrauen
erweckenden Arzt, der sich viel Zeit für seine Patienten nimmt. Patienten und
Patientinnen stimmen mit den Füßen ab, wenn sie die persönliche Zuwendung nicht
ausreichend erhalten.
Im weltweiten Vergleich hat Deutschland die "fragwürdige"
Spitzenposition in der Häufigkeit der Inanspruchnahme alternativer Maßnahmen
inne. In Deutschland gibt es 132 000 niedergelassene Ärztinnen und Ärzte
und allein 21 000 Heilpraktiker laut Statistischem Bundesamt. Hier droht
oder besteht bereits Deprofessionalisierung für die psychosozialen Anteile der
ärztlichen Heilkunst. Dieses Thema hat aber viele Aspekte, die wir einmal
zusammenhängend aus dem Blickwinkel aller Fachgebiete in Bezug auf alle nicht
ärztlichen Berufsgruppen im Gesundheitswesen diskutieren sollten.
Die gezeigten internationalen Daten können auch so
interpretiert werden, dass sich die hervorragende so genannte Schulmedizin in
Deutschland zu wenig den psychosozialen Belangen zuwendet. Eine der Ursachen
sehe ich in dem geringen zeitlichen Rahmen, der unter den gegenwärtigen
Organisations- und Finanzierungsstrukturen sowohl im klinischen als auch im
ambulanten Bereich zur Verfügung steht. Andererseits empfinden viele Ärztinnen
und Ärzte Fort- und Weiterbildung zum Beispiel in Balint-Gruppen, psychosomatischer
Grundversorgung, Entspannungstherapien häufig auch als wichtige
Burn-out-Prophylaxe für sich selbst - speziell dann, wenn dies im
gesundheitsfördernden Nordseeklima stattfindet.
Der Körper dem Arzt, die Seele dem .? Nein! Sowohl der Körper
als auch die Seele als auch das soziale Umfeld gehören mit den Patienten und
Patientinnen in das ärztliche Sprechzimmer.
These 5: Ein bio-psycho-soziales ganzheitliches ärztliches
Handeln trägt auch zur Arbeitszufriedenheit der Ärzte und Ärztinnen bei.
Die Unzufriedenheit der Ärzteschaft mit ihren beruflichen
Rahmenbedingungen - wie wir es ja hautnah alltäglich bei den Demonstrationen
und Streiks miterleben - ist keinesfalls ein deutsches Phänomen. Beispielsweise
im "British Medical Journal 2004" wurde ausgiebig über die "unhappy doctors"
diskutiert. Und wenn wir nicht wollen, dass dieser einsame Arzt im OP als Fazit
seiner Grübelei als Unternehmensberater anheuert oder ein Ticket nach
Skandinavien löst, müssen wir dafür sorgen, dass es den Ärztinnen und Ärzten
wieder möglich wird, selbst ein integriertes Leben mit Beruf, Familie und
Freizeit in Balance und mit wertschätzender Honorierung zu führen.
(Beifall)
Nur eine ganzheitliche Vorgehensweise bedingt eine
Win-win-win-Situation: sowohl für die Effizienz der ärztlichen Behandlung als
auch für die Berücksichtigung der bio-psycho-sozialen Bedürfnisse der Patienten
und Patientinnen und last not least für die Arbeitszufriedenheit von Ärzten und
Ärztinnen. Ohne sie kann erstens der hohe medizinische Standard nicht gehalten
und zweitens auf die zukünftigen Herausforderungen der Medizin nicht gut genug
reagiert werden.
Notwendig sind hierzu gezielte Maßnahmen bezüglich Aus-,
Weiter- und Fortbildung. In der Ausbildung gilt es, die Inhalte der neuen
Approbationsordnung umzusetzen und die Studierenden tatsächlich per
Pflichtpraktika in Gesprächsführung und Kommunikation für alle existenziellen
Lebensbereiche zu schulen - wie wir von Studierenden hören, wird das oft unter
den Tisch fallen gelassen -, zum Beispiel zum Umgang mit Sterben, Tod,
Suizidalität, Aufklärungsgespräche bei schwierigen Diagnosen - beispielsweise
Krebs - und Umgang mit den eigenen Emotionen und den Emotionen der Patienten
und Angehörigen.
Nach welchem Arztbild werden die Universitäten entsprechend
der neuen Approbationsordnung eigentlich in Zukunft selbst ihre Studierenden
auswählen? Hier wäre aus meiner Sicht eine begleitende Evaluation wichtig.
Herr Professor Loew wird in seinem Redebeitrag über die
Umsetzung integrierter Aus- und Weiterbildungskonzepte an Universitäten und
anderen Weiterbildungsstätten berichten.
Zum Thema Weiterbildung: In der Inneren und Allgemeinmedizin
und in der Frauenheilkunde ist die psychosomatische Grundversorgung bereits
fester Bestandteil der Weiterbildung.
Nun wäre zu diskutieren, wie diese grundlegenden Kenntnisse
über psychische und psychosomatische Störungen und das Erlernen zum Beispiel
von Kommunikationstechniken in alle Weiterbildungen Eingang finden können, ohne
die Gesamtanforderungen unzumutbar zu erhöhen und ohne finanzielle Opfer.
Eine Umfrage über die Akademie der Gebietsärzte an
Fachgesellschaften und Berufsverbände ergab: Die Arbeitsgemeinschaft der
Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) befürwortet
einerseits die Integration des Weiterbildungsmoduls "psychosomatische
Grundversorgung" in alle Fachgebiete und andererseits die Umbenennung in
"psychische und psychosomatische Grundversorgung". Der Berufsverband der
Augenärzte und die Fachgesellschaften für Dermatologie, HNO-Heilkunde,
Neurochirurgie, Phoniatrie und
Pädaudiologie und Urologie sprechen sich dafür aus, dass in ihrem jeweiligen
Gebiet diese psychosomatische bzw. psychische und psychosomatische
Grundversorgung fester Bestandteil sein sollte.
Nun zur Fortbildung: Die Erkennungsrate von Depressionen in
der ärztlichen Praxis ist im Durchschnitt circa 30 Prozent. Im Rahmen des
Kompetenznetzes Depressionen wurden gezielt vier Fortbildungsabende angeboten,
die zu einer statistisch hoch signifikanten Verdoppelung der Erkennungsrate
depressiver Erkrankungen führte, die zudem nach einem Jahr noch Bestand hatte.
Jetzt komme ich zum abschließenden Fazit.
Ist die ärztliche Heilkunst tatsächlich in Gefahr? Nein! Sie
hat sich bestens bewährt! Trotz aller Unkenrufe aus der Politik schneidet die
deutsche Medizin im internationalen Vergleich sehr gut ab und Ärzte und
Ärztinnen haben weiterhin das höchste Sozialprestige in der Bevölkerung.
Das heißt aber andererseits nicht, dass man in statischer
Selbstzufriedenheit verharren sollte.
Der Anstieg der Zahl von psychischen und psychosomatischen
Erkrankungen mit allen Konsequenzen auch für die Versicherungssysteme ist eine
immense Herausforderung! Somatische Medizin und psychosoziale Medizin sind in
weiten Bereichen noch getrennt und der Bereich der so genannten PPP-Fächer war,
wie allgemein bekannt, in den letzten Jahren von Dissonanzen bestimmt. Die
Zusammenarbeit vor diesem Ärztetag und die Erkenntnis der zentralen Position
psychischer und psychosomatischer Störungen im Gesundheitswesen haben einen
Schulterschluss unter uns psychotherapeutisch tätigen Ärztinnen und Ärzten
unter Überwindung historischer Grenzziehung Wirklichkeit werden lassen. Ich
hoffe, dass es dabei bleibt.
Eine moderne Medizin kann nur eine ganzheitliche Medizin für
den ganzen Menschen sein!
Damit komme ich zu den Abschlussforderungen.
Psychische und psychosomatische Erkrankungen sind auf einem
bedrohlichen Vormarsch. Die Ärzteschaft fördert deshalb erstens den sprechenden
Anteil der Medizin in allen patientenbezogenen Fachgebieten, zweitens die
ärztliche Psychotherapie in allen Facharztgebieten und drittens die Erhöhung
der Attraktivität des ärztlichen Berufs durch Reduktion unärztlicher Arbeit und
dadurch Stärkung der psychosozialen Zuwendung.
Die Ärzteschaft fordert von Politik und Kassen die Übernahme
der finanziellen Verpflichtung für den sehr wesentlich demografisch und
gesellschaftlich bedingten Morbiditätsanstieg psychischer und psychosomatischer
Erkrankungen.
Ich hoffe, dass Ihnen diese Argumente ermöglichen, dem
Vorstandsantrag zuzustimmen.
(Beifall)
Vizepräsident Dr. Goesmann: Herzlichen Dank, Frau
Kollegin Bühren, für den hervorragenden und umfassenden Vortrag über die Kunst
des Heilens - nicht die verlorene Kunst des Heilens, denn wir haben sie ja noch
in unseren Händen.
Wenn es möglich ist, möchten wir vor der Mittagspause noch die
drei Korreferate hören.
Ich darf als nächsten Redner Herrn Professor Dr. Hohagen,
Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und
Nervenheilkunde, um seine Ausführungen bitten.
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