TOP II: Behandlung von Menschen mit psychischen und psychosomatischen Erkrankungen: Gegen Stigmatisierung - Für Stärkung der ärztlichen Psychotherapie

2. Tag: Mittwoch, 24. Mai 2006 Vormittagssitzung

Dr. BührenDr. Bühren, Referentin: Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Vizepräsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich werde aufzeigen, dass psychische und psychosomatische Symptome, Erkrankungen und Komorbidität dramatisch zunehmen. Wir müssen uns fragen: Welche Strukturen hat die deutsche Ärzteschaft bereits, um dieser existenziellen Herausforderung erfolgreich zu begegnen? Welche Schritte müssen wir in Zukunft gehen? Welche wissenschaftlichen Erkenntnisse gibt es? Welche Chancen und Synergieeffekte liegen in der somato-psychischen Kombinationstherapie, welche medikamentösen und technischen Interventionen können dadurch eventuell reduziert werden, welche Versorgungsforschung sollte diesbezüglich erfolgen? Und übergeordnet: Welches Arztbild haben wir heute?

Der scheinbar sperrige Titel meines Vortrags ist bereits Symbol und Ergebnis der Beseitigung von Sperren zwischen psychotherapeutischen Fachgesellschaften und Berufsverbänden.

Unüblicherweise sei den vielen überwiegend psychotherapeutisch oder überwiegend somatisch Tätigen, die an der Vorbereitung dieses Tagesordnungspunkts beteiligt waren, wegen ihres großen Engagements schon hier ganz am Anfang gedankt.

Im Folgenden möchte ich Sie mit Thesen und dem daraus jeweils gezogenen Fazit durch die Thematik führen.

These 1 lautet: Weltweit - so auch in Deutschland - ist eine starke Zunahme psychischer und psychosomatischer Erkrankungen zu verzeichnen.

Zu Beginn möchte ich Sie mit den in dieser Form erstmals erhobenen Daten der WHO vertraut machen. Man kann es als eine - auch für Fachleute - unerwartete Überraschung bezeichnen, was in dem 2001 veröffentlichten World Health Report deutlich wurde: Gemessen an den Lebensjahren, die durch Behinderung beeinträchtigt sind, gehören zu den zehn schwersten Erkrankungen fünf seelische Krankheitsbilder. Mit 12 Prozent führt die unipolare Depression das Gesamtspektrum aller Erkrankungen an, gefolgt von der Alkoholkrankheit an fünfter Stelle, der Schizophrenie an siebter Stelle und den bipolaren Störungen an neunter Stelle. Auf Rang 13 folgen die Demenzerkrankungen.

Noch eklatanter stellt sich die Belastung der zukünftigen Gesundheitssysteme dar, wenn man die Altersgruppe der jetzt 15- bis 44-Jährigen betrachtet. Unter den fünf häufigsten Erkrankungen sind vier psychische Erkrankungen. Nach der Depression liegt die Alkoholerkrankung bereits an zweiter Stelle. Jedem kann damit deutlich werden, dass wir uns hier mit einer massiven und für Volkswirtschaft und Gesundheitswesen sehr teuren Suchterkrankung zu befassen haben.

Die EU-Gesundheitsministerkonferenz hat sich 2005 mit diesen brisanten Daten befasst und die Deklaration von Helsinki unterzeichnet. Sie will aufgrund der immensen sozialen und volkswirtschaftlichen Auswirkungen eine Strategie zur Förderung der psychischen Gesundheit erarbeiten und hat dazu das so genannte Grünbuch verfasst.

Nun zu Deutschland. Schauen wir uns zuerst einmal die 6- bis 12-Monatsprävalenzraten psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen zwischen 6 und 18 Jahren an. Bis zum Alter von etwa 13 Jahren sind diese Störungen bei Jungen doppelt so häufig, danach sind Mädchen zunehmend stärker betroffen. Die Störungen des Sozialverhaltens sind mit 10 Prozent am häufig­sten.

Eine europaweite Studie hat die gesellschaftlichen Kosten summiert, die durch Verhaltensstörungen bei Kindern verursacht werden. Kinder mit Störungen des Sozialverhaltens verursachen siebenmal höhere Kosten als Kinder, die ohne Verhaltensstörungen aufwachsen. Der größte Teil der Kosten wird durch Kriminalität und beispielsweise Erziehungs- und Heimkosten verursacht.

Bei somatischen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter spielen depressive Störungen eine beachtenswerte Rolle, so beispielsweise bei einem Viertel der an Diabetes oder an Epilepsie Erkrankten.

Für die ambulante Therapie der seelischen Erkrankungen stehen deutschlandweit auf ärztlicher Seite nur 647 Kinder- und Jugendpsychiater und -psychia­terinnen zur Verfügung. Zusätzlich haben von den circa 6 000 niedergelassenen Kinder- und Jugendärzten und -ärztinnen nach Aussagen des Berufsverbands 800 - das entspricht einem Anteil von 13 Prozent - den Psychotherapie-Zusatztitel. Warum aber nur ein Viertel von diesen - also 3 Prozent aller Pädiater und Pädiaterinnen - die immerhin kostenträchtig erworbenen psychotherapeutischen Kompetenzen tatsächlich abrechnen, hat vermutlich vielfältige Gründe. An dieser Stelle soll nur kurz angedeutet werden, dass eine der Ursachen davon die schlechte Honorierung derjenigen psychotherapeutisch tätigen Ärzte und Ärztinnen ist, die weniger als 90 Prozent ihrer Leistungen als Richtlinienpsychotherapie erbringen.

Wir kommen nun zu den Prävalenzraten psychischer Störungen bei Erwachsenen. Wie Sie aus der 12-Monatsprävalenz des Bundesgesundheitssurveys von 2001 ersehen, spielen die Angsterkrankungen die größte Rolle. Wenn man zu den 8,5 Millionen mit Phobien noch die 1,6 Millionen mit einer generalisierten Angsterkrankung und die 1,5 Millionen mit Panikstörungen hinzuzählt, kommt man allein bei den Angsterkrankungen insgesamt auf einen Prozentsatz von 17,5 und eine jährliche Anzahl von fast 12 Millionen Menschen.

An zweiter Stelle treten bei 11 Prozent aller Erwachsenen innerhalb eines Jahres somatoforme Störungen auf, bei denen kein den Beschwerden entsprechender körperlicher Befund erhoben werden kann. Diese weiteren circa 7,4 Millionen kranken Menschen binden im ärztlichen Alltag hohe zeitliche und finanzielle Ressourcen und erfordern eine effektive psychosomatische Therapie.

Dementsprechend verwundert es nicht, dass die Zahl der Menschen, die im Laufe eines Jahres wegen einer psychischen Erkrankung vorübergehend krankgeschrieben werden, sich seit 1994 um 80 Prozent erhöht hat. Während also die Arbeitsunfähigkeitstage aufgrund psychischer Erkrankungen permanent angestiegen sind, haben die AU-Tage aufgrund körperlicher Erkrankungen beständig abgenommen.

Zur effektiven Verringerung der Erkrankungshäufigkeiten wird auch die Berücksichtigung der geschlechtsdifferenten Aspekte erforderlich sein.

Das Gleiche gilt für die Frühberentungen. Auch hier sind die psychischen Erkrankungen bei Männern seit 2003 und bei Frauen seit 1997 die Ursache Nummer eins für das vorzeitige Ausscheiden aus dem aktiven Erwerbsleben. Erkrankungen wie Krebs und Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Beeinträchtigungen der Bewegungsorgane sind in den letzten Jahren als Frühberentungsursache entweder gleich häufig geblieben oder haben deutlich abgenommen.

Wir kommen jetzt zur Versorgungssituation psychischer und psychosomatischer Erkrankungen. Die gesundheitspolitische Relevanz in der ambulanten Medizin spiegelt sich in einer Vielzahl von epidemiologischen Untersuchungen wider. Ergebnisse aus hausärztlichen Praxen in Berlin als Teil einer WHO-Studie zeigen, dass 25 Prozent der Patientinnen und Patienten, die ihren Hausarzt oder ihre Hausärztin aufsuchen, alleinige oder komorbide psychische und psychosomatische Erkrankungen aufweisen.

Als Beispiel einer mit enormen Folgekosten behafteten Erkrankung mit meistens sowohl körperlicher als auch psychischer Symptomatik möchte ich die posttramatische Belastungsstörung (PTBS) herausgreifen. Sie kommt scheinbar wie eine Modekrankheit daher, ist aber so alt wie die Menschheit - und wird meist unterschätzt. Nach neueren Untersuchungen leiden circa 10 Prozent der Patienten und Patientinnen einer allgemeinärztlichen/internistischen Praxis an dieser durch existenzielle Erfahrungen verursachten Störung. Die häufigsten Risikosituationen stellen dabei die interpersonelle Gewalt im zum Teil nahen sozialen Umfeld dar, also die häusliche Gewalt gegen Kinder und Frauen und Vergewaltigungen.

Weiterhin kann - das ist noch sehr unberücksichtigt - die PTBS infolge schwerer körperlicher Erkrankungen wie beispielsweise Herzinfarkt, Reanimation, Notfalloperation, Transplantation oder Tumorerkrankung auftreten. Eine Studie mit Unfallopfern zeige ich später.

Diese Patientinnen und Patienten erleben in der Praxis häufig, dass zum Beispiel nach einem wiederholten Myokardinfarkt zwar die Cholesterinwerte und das Belastungs-EKG häufiger kontrolliert und Herzkatheter geschoben werden, dass aber eine spezifische Abklärung und Behandlung ihrer psychischen Leiden wie Schlafstörungen, depressive Verstimmung oder Libidoverlust nicht erfolgt. Dies kann auch als Diskriminierung psychischer Symptome bezeichnet werden.

Wenn der Arzt oder die Ärztin des Vertrauens nicht selbst die seelischen Aspekte als gleichwertig mit den körperlichen anspricht bzw. zur kompetenten Mitbehandlung überweist, wird die häufige Stigmatisierung von seelischer Begleitsymptomatik in der Bevölkerung im Sinne eines Circulus vitiosus verfestigt.

Sie alle kennen auch alte Patientinnen und Patienten, die immer wieder von ihren traumatischen Erlebnissen als Kriegs- und Flüchtlingskinder oder als Soldaten eingeholt werden.

Oft bleibt es aber bei den nicht kontrollierbaren nächtlichen Albträumen, die Einblick in die tiefen Verwundungen geben. Eine Psychotherapie kann hier auch nach so langer Zeit heilsam wirken.

Selbstverständlich sind auch Menschen betroffen, die medienwirksame Großschadensereignisse wie das Zugunglück von Eschede oder Naturkatastrophen wie den Tsunami 2004 durchleben mussten.

In das neue (Muster-)Kursbuch "Notfallmedizin" wurden die Grundzüge der Psychotraumatologie und die Krisenintervention inzwischen aufgenommen.

Wie entscheidend die Beachtung von psychischen Begleiterkrankungen für Therapieerfolge ist, verdeutlicht folgende Tatsache: Nur 5 Prozent der Patienten und Patientinnen mit koronarer Herzerkrankung nehmen ihre Medikamente unzuverlässig bzw. gar nicht ein. Bei einer gleichzeitigen Depression steigt dieser Wert jedoch auf das Dreifache an.

Entsprechende Befunde von abnehmender Compliance gibt es auch für Diabetes mellitus und Depression. Und: Im Zeitalter des AVWG sind unverbrauchte wertvolle Medikamente noch ein gesonderter Diskussionspunkt.

Wie sieht es stationär aus? Mehrere Studien zeigen, dass durchschnittlich etwa ein Drittel der körperlich Kranken in einem Allgemeinen Krankenhaus zusätzlich mit psychischen und psychosomatischen Störungen belastet sind.

Was sind nun die möglichen Gründe für die Zunahme psychischer Erkrankungen?

-        Die Familien sind kleiner geworden und seltener mit Großeltern im Haushalt

-        Die Scheidungsrate ist auf fast 50 Prozent in Städten angestiegen

-        Die erhöhte Mobilität hat zur Abnahme dauerhafter sozialer Beziehungen geführt

-        Das veränderte Rollenverständnis führt insbesondere bei Frauen zu Doppel- und Dreifachbelastungen

-        Angst vor Arbeitslosigkeit und negativer Stress am Arbeitsplatz sind deutlich gestiegen

-        Immer mehr Menschen leben ihre sozialen Kontakte in Chatrooms

-        Wir haben zunehmend eine entseelte Gesellschaft mit einem hohen Ausmaß sozialer Stressfaktoren und weltanschaulicher und spiritueller Orientierungslosigkeit

All diese Faktoren machen es notwendig, speziell Kinder frühzeitig und nachhaltig zu fördern. Das Setting-Projekt "Gesundheit macht Schule" der Ärztekammer Nordrhein und der AOK Rheinland praktiziert dies beispielhaft gemeinsam mit Schülern, Eltern, Lehrern und Ärzteschaft und lädt zur Nachahmung in allen Kammerbereichen ein.

Eine zu einseitig somatisch ausgerichtete Medizin birgt mehrere Gefahren: erstens dass sich Patientinnen und Patienten an uns nur mit ihren somatischen Beschwerden wenden und die psychosozialen Aspekte ihrer Erkrankung entweder unberücksichtigt bleiben oder zweitens sie sich damit an nicht ärztliche Berufsgruppen wenden, was eine Deprofessionalisierung unserer Profession bedeutet. Drittens bleibt der fragmentierte Patient als Ganzes unscharf, fühlt sich nicht ganzheitlich erfasst und wird nicht bestmöglich ärztlich betreut.

Als Fazit ist zu formulieren: Psychische und psychosomatische Erkrankungen sind zu einem zentralen Problem des Gesundheitswesens geworden. Die intensive Befassung der Ärzteschaft mit dieser großen Aufgabe ist erforderlich. Was haben wir denn bereits vorzuweisen? Vor genau 50 Jahren wurde vom Deutschen Ärztetag auf dem Boden der Pionierleistungen zum Beispiel des Nervenarztes Sigmund Freud und später des Internisten Viktor von Weizsäcker die ärztliche Psychotherapie mit der Zusatzbezeichnung in die ärztliche Weiterbildungsordnung integriert. Die Zusatzbezeichnung "Psychoanalyse" folgte 1978. Einen Facharzt für Kinder- und Jugendlichenpsychiatrie gibt es seit 1969 und seit 1970 in der DDR bereits einen Facharzt "Psychotherapie".

1984 bzw. 1987 wurde die "Psychosomatische Grundversorgung" in die Weiterbildungsordnung bzw. in das Vergütungssystem der KVen eingeführt. 1992 schließlich wurde der Facharzt für Psychiatrie in Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie umbenannt. Gleiches erging für die Kinder- und Jugendlichenpsychiatrie und Psychotherapie.

Neu in die (Muster-)Weiterbildungsordnung aufgenommen wurde vor 14 Jahren der Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, der dann vor drei Jahren in Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie umbenannt wurde.

Neu ist seit 2003 neben der bisherigen Zusatzweiterbildung "Psychotherapie" die "Fachgebundene Psychotherapie".

Nun kommen wir zur ambulanten Versorgungssituation. Wir haben 14 700 Psychologische Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendpsychotherapeuten, die sich selbst kurz als PP und KJP bezeichnen. Im Verhältnis dazu gibt es 3 600 überwiegend psychotherapeutisch tätige Ärzte und Ärztinnen. Beide Gruppen behandeln insgesamt circa 650 000 Fälle pro Quartal. Es sind also viermal mehr Psychologische Psychotherapeuten und KJPler als ärztliche Psychotherapeuten im System.

Am umfangreichsten ist die psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung von circa 3,5 Millionen Fällen pro Quartal durch 4 700 Fachärzte und Fachärztinnen für Psychiatrie und Psychotherapie und Fachärzte und Fachärztinnen für Nervenheilkunde. Diese 3,5 Millionen müssen bei einer inzwischen sehr geringen Leistungspauschale von circa 35 bis 40 Euro pro Patient und pro Quartal behandelt werden, unterschiedlich je nach KV. Die geringe Honorierung erlaubt zwei Patientenkontakte zu je zehn Minuten im Quartal. Entsprechend werden viele Leistungen unentgeltlich erbracht. Hier sind derzeit Gespräche mit der KBV im Gange.

Zu erwähnen ist an dieser Stelle, dass zusätzlich zur Richtlinienpsychotherapie und basispsychiatrischen Behandlung natürlich auch abgestuft und bedarfsgerecht milieunahe Beratung zur Anwendung kommt: in Erziehungs- und Suchtberatungsstellen und in der Arbeit mit Straffälligen und Migranten. Nicht zu vernachlässigen ist die in Kirchen und Krankenhäusern geleistete theologische Seelsorge. Bei der Versorgung mit überwiegend psychotherapeutisch tätigen Ärzten und Ärztinnen ist deutlich das West-Ost- und das Süd-Nord-Gefälle zu erkennen. In den neuen Bundesländern ist die Versorgung teilweise um ein Zehnfaches geringer als in den südlichen Bundesländern. Zusätzlich gibt es ein Stadt-Land-Gefälle.

Wie sieht für die nächsten zehn Jahre prognostiziert die ambulante Versorgungslandschaft aus?

Im Gebiet Psychiatrie und Psychotherapie wird die Anzahl der Ärzte und Ärztinnen um die 4 000 stabil bleiben. Berücksichtigt man die aus Altersgründen ausscheidenden Kollegen und Kolleginnen, so sieht man, dass das Absinken der Arztzahlen im vertragsärztlichen Bereich durch den Nachwuchsüberschuss kompensiert werden kann. Das gilt aber nur, wenn eine neue Bedarfsplanung für diese Gruppe eingeführt wird. Zurzeit sind die Möglichkeiten für eine Niederlassung reduziert, weil sich für eine frei werdende Nervenarztpraxis - die Weiterbildung zum Nervenarzt gibt es jetzt nicht mehr - entweder ein Neurologe oder ein Psychiater niederlassen kann, was damit die Niederlassungsmöglichkeiten für psychiatrisch Tätige verringert.

Eine Möglichkeit wäre, für Intensivrichtlinientherapie leistende Psychiater und Psychiaterinnen die Übernahme nicht zu besetzender Praxen für Psychosomatik und Psychotherapie zu eröffnen.

Bislang absehbar wird sich nämlich die Anzahl der niedergelassenen Fachärztinnen und Fachärzte für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in den nächsten zehn Jahren halbieren, wenn dieses Gebiet nicht gefördert wird. Pro Jahr schließen derzeit 90 die Weiterbildung ab.

Viele derer, die sich 1993 per Übergangsregelung niederlassen konnten, werden aus Altersgründen ausscheiden. Das bereits jetzt massive Ungleichgewicht zwischen Psychologischen und ärztlichen Psychotherapeuten wird sich dadurch noch einmal vergrößern. Das heißt, die ärztliche Psychotherapie, die überwiegend Richtlinienpsychotherapie leistet, ist derzeit tatsächlich in Gefahr.

Wichtig ist, dass die so genannte 40-Prozent-Quote, wie sie in § 101 SGB V verankert ist, auch über das Jahr 2008 hinaus Bestand hat. Die Quote besagt, dass ärztlicher und psychologischer Psychotherapie jeweils mindestens 40 Prozent der in der Bedarfsplanung vorgesehenen Sitze zustehen. Um den Bedürfnissen der Menschen nach integrierter seelischer und körperlicher Behandlung gerecht zu werden, sollten deshalb nicht besetzte Sitze innerhalb der ärztlichen Quote vorrangig mit Erwachsenen- und gegebenenfalls auch Kinder- und Jugendpsychiatern und -psychotherapeuten besetzt werden können.

Die gerade besprochenen so genannten PPP-Fächer stellen zusammen insgesamt 6,5 Prozent der Niedergelassenen. Angesichts des genannten Vormarsches der psychischen und psychosomatischen Erkrankungen ist klar, dass diese nicht von ihnen allein therapiert werden können. Es erhebt sich also die Frage, wie viel Psychotherapie im engeren oder weiteren Sinne von den anderen 93,5 Prozent der ambulant tätigen Ärztinnen und Ärzte bereits erbracht wird. Ferner erhebt sich die Frage, wie diese Kompetenzen versorgungsgerecht gestärkt werden könnten.

Die Kassenärztliche Vereinigung Bayern hat mir dazu Daten für das zweite Quartal 2005 zur Verfügung gestellt. Nach Fachgruppen aufgelistet, finden Sie hier den Prozentsatz der Praxen, die Leistungen im Kapitel 35 ab den Ziffern 35111 abrechnen. Das ist nicht die psychosomatische Grundversorgung, sondern Psychotherapie im weiteren Sinne wie Entspannungsverfahren, wie autogenes Training, Jakobsens Muskelrelaxation oder Hypnose und probatorische Psychotherapiesitzungen bis zur Richtlinienpsychotherapie. Berücksichtigt sind die, die dies zwischen 5 bis maximal 90 Prozent erbringen. Nach § 85 Abs. 4 SGB V im Zusammenhang mit Gerichtsurteilen erhalten nur die, die mehr als 90 Prozent Psychotherapie erbringen, einen gestützten Punktwert für ihre Leistungen. Einzige Ausnahme ist das Gebiet Psychiatrie und Psychotherapie.

Das führt dann zu der Situation, dass ärztliche und Psychologische Psychotherapeuten für eine Therapiestunde beispielsweise 75 Euro garantiert erhalten, ein Haus- oder Facharzt hingegen je nach Punktwert der Fachgruppe die Leistung im nicht seltenen Fall für die Hälfte der Summe oder weniger erbringen muss.

Allgemeinärzte rechnen mit 2,6 Prozent bereits den höchsten Anteil ab. Bei den Orthopäden sind es noch 0,1 Prozent. Die Daten der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe sind im Prinzip ähnlich.

Auf einer Folie der Kassenärztlichen Bundesvereinigung zur selben Thematik noch einmal der springende Punkt: Sie sehen zwischen dem Block der Anzahl der Psychologischen Psychotherapeuten und der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten und dem Sockelblock der psychotherapeutisch tätigen Ärztinnen und Ärzte den schmalen Block derjenigen Haus- und Fachärzte, die Richtlinienpsychotherapie erbringen. Insgesamt haben 1 048 Niedergelassene die Zusatzweiterbildung "Psychoanalyse" und 4 648 die Zusatzweiterbildung "Psychotherapie". Das sind zusammen knapp 6 000.

Bei den abgerechneten Leistungen ist der Anteil der Ärztinnen und Ärzte mit Zusatzweiterbildung noch geringer. Das Gleiche gilt für die Kinder- und Erwachsenenpsychiatrie, sodass dadurch der Anteil der psychologischen und pädagogischen Berufsgruppen von 60 Prozent bei der Anzahl auf 70 Prozent bei der Leistungshäufigkeit steigt.

Ein kurzer Schwenk zum gesamten Leistungsanteil der Richtlinienpsychotherapie. Dieser Anteil ist speziell in den neuen Bundesländern mit 1,6 Prozent aller Leistungen extrem niedrig und ist mit 4,4 Prozent in den alten Bundesländern auch gering.

Unter dem massiven Druck der Kostenträger wurden in den psychiatrischen Kliniken in den letzten 30 Jahren die Bettenzahlen halbiert. Inzwischen wurde auch die Verweildauer drastisch reduziert. Durch die massive Reduktion der Kapazitäten hat sich der Versorgungsdruck im ambulanten Bereich verstärkt. Allerdings wurden die im stationären Bereich frei gewordenen Gelder nicht in den ambulanten Sektor transferiert, um die im Durchschnitt schwerer kranken Patienten und Patientinnen auch entsprechend auffangen zu können. Bei dieser Unterfinanzierung ist in der psychiatrischen Basisversorgung eine unhaltbare Situation entstanden. Einerseits wurde innerhalb von sieben Jahren die mittlere Verweildauer von 40 auf circa 28 Tage deutlich gesenkt, andererseits ist die Zahl der Wiederaufnahmen in die Krankenhäuser deutlich gestiegen. Also: Drehtürpsychiatrie!

Für die stationäre Kinder- und Jugendpsychiatrie gilt das Gleiche. Inzwischen sind etwa 50 Prozent der ebenfalls gestiegenen Wiederaufnahmen Kriseninterventionen. Gleichzeitig hat das Gebiet einen großen Nachwuchsbedarf. Aber eine größere Anzahl von Weiterbildungsstellen wird seit langem vergeblich gefordert.

Daneben ist auch die Gerontopsychiatrie, die ja bezüglich der Demenzen zu einem Leuchtturmprojekt der neuen Bundesregierung bestimmt wurde, ein wachsender Aufgabenbereich für die leidgeprüften Angehörigen, die gesamte Ärzteschaft und die Gesellschaft.

Nach jahrzehntelangen Diskussionen gibt es nun mit dem Gesetz über die Berufe des Psychologischen Psychotherapeuten und des Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten zur Änderung des fünften Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze seit 1999 zwei weitere Heilberufe. In § 12 des Gesetzes waren großzügige Übergangsbestimmungen verankert. Die reale Anzahl der neuen KV-Mitglieder ab 1999 war schließlich deutlich höher als ursprünglich diagnostiziert. Gleichzeitig wurde von den Krankenkassen nicht das entsprechende Budget mitgeliefert, was zu vielfältigen Prozessen und zu Auseinandersetzungen innerhalb der KVen geführt hat.

Zweifelsfrei stellt die hohe Zahl der PP und KJP und die von ihnen durchgeführte Richtlinienpsychotherapie eine Entlastung des Versorgungsproblems dar. Die Anzahl der PP und KJP ist vor allem in den Ballungsgebieten und Stadtstaaten relativ hoch. Beispielsweise liegt der Anteil in Berlin mit 50 Therapeuten und Therapeutinnen pro 100 000 Einwohner zehnmal höher als im benachbarten Sachsen-Anhalt mit fünf pro 100 000.

Eine weitere Änderung des Sozialgesetzbuchs V findet sich in § 80 und bezieht sich auf die Kassenärztlichen Vereinigungen. Ich zitiere:

Die Psychotherapeuten . sind . in den Vertreterversammlungen vertreten, höchstens aber zu einem Zehntel der Mitglieder der Vertreterversammlung.

Zur Information: Mit dieser Quote von bis zu 10 Prozent, die auch in den meisten KVen voll zum Tragen kommt, haben die approbierten Diplom-Psychologen, Diplom-Pädagogen und Sozialpädagogen garantierte Stimmenanteile in den Vertreterversammlungen der Kassenärztlichen Vereinigungen, was für Ärztinnen und Ärzte aus keiner ärztlichen Fachgruppe, weder der Psychotherapie noch der Allgemeinmedizin oder zum Beispiel der Inneren oder der Orthopädie/Unfallchirurgie, garantiert ist.

Dem Grundgedanken des Gesetzes - Schutz der Berufsbezeichnung "Psychotherapeut" und kooperatives Zusammenwirken von ärztlichem und psychologischem Bereich in der Patientenversorgung - wird in der konkreten Situation und zum Beispiel auch im "Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie" Rechnung getragen.

Ich komme zum Fazit: Insbesondere aufgrund der unzureichenden Finanzierung, aufgrund des massiven West-Ost- und Stadt-Land-Gefälles sowie einer unzureichenden Integration psychosozialen Denkens in die Gesamtmedizin ist das Gesundheitswesen auf die neuen Aufgaben noch nicht ausreichend eingestellt.

Meine These 3 lautet: Die Ärzteschaft muss zukünftig trotz der enormen Fortschritte in der naturwissenschaftlichen Medizin auf die psychosozialen Bedürfnisse ihrer Patienten und Patientinnen wieder stärker eingehen können. David Sackett, der Stammvater der evidenzbasierten Medizin, macht Mut: "The most powerful therapeutic tool you'll ever have is your own personality".

(Beifall)

Die Resultate einer Untersuchung von Kruse et al. 2004 zeigen tatsächlich, dass die kompetente und umfassende Anamneseerhebung bereits ein wesentliches Instrument für die effektive ärztliche Diagnostik ist. So wird die Verdachtsdiagnose eines psychosomatischen und/oder psychischen Störungsbildes nach einer Gesprächsdauer von unter fünf Minuten nur in 30 Prozent, von fünf bis zehn Minuten in 60 Prozent und bei einer Interaktionsdauer von mehr als zehn Minuten in 75 Prozent der Fälle richtig erkannt. Das heißt, eine ausreichende Gesprächsdauer ist erforderlich, weil sie Patienten und Patientinnen Gelegenheit bietet, ihre wesentlichen Beschwerden und Sorgen zu schildern.

Die Untersuchung zeigt gleichzeitig, wie zielgenau Hausärzte und Hausärztinnen in relativ kurzer Zeit eine wegweisende Verdachtsdiagnose stellen können.

Das Fazit lautet, dass der nicht fragmentiert behandelnde, sondern ganzheitlich bio-psycho-sozial denkende und handelnde Arzt verhindert, dass der Patient fragmentiert wird.

Ich komme zu These 4: Eine Vielzahl von Evidenzen sprechen dafür, dass sich ein ganzheitliches ärztliches Handeln in vielfältiger Weise für alle Beteiligten zum Vorteil auswirkt. Auch die Wirtschaftlichkeit der Patientenbehandlung gewinnt.

Eine neue amerikanische Verlaufsstudie beschäftigt sich mit den Wechselwirkungen zwischen depressiven Müttern und ihren Kindern. Wurden Mütter mit einer Depression über drei Monate medikamentös behandelt, erfolgte in dieser Zeit eine 11-prozentige Reduktion der Verhaltensauffälligkeiten und seelischen Symptome ihrer Kinder. Wurden die depressiven Mütter in der Kontrollgruppe dahin gehend nicht behandelt, erfolgte in derselben Zeit von drei Monaten ein achtprozentiger Anstieg der Symptome bei deren Kindern.

Diese Untersuchung und die bereits anfangs gezeigte zu den immensen Kosten für die Gesellschaft bei schweren Verhaltensauffälligkeiten von Kindern zeigen, wie notwendig und hilfreich es sein kann, auch im familiären Umfeld psychische Störungen zu erkennen und zu behandeln.

Nun das bereits angekündigte Beispiel für eine erfolgreiche psychotherapeutische Kurzintervention bei der posttraumatischen Belastungsstörung. In einer Multicenterstudie in mehreren Unfallkliniken konnte gezeigt werden, dass die chronisch posttraumatische Belastungsstörung, die früher oft als "Rentenneurose" fehlinterpretiert wurde, präventiv vermieden bzw. vermindert werden kann. Durch einen schweren Unfall stark aus dem Gleichgewicht geratene Verletzte wurden mit einer fünfstündigen verhaltenstherapeutischen Kurzintervention behandelt. Damit konnte ein chronischer Verlauf im Sinne einer schweren posttraumatischen Belastungsstörung verhindert werden. Sie zeigten nach einem Jahr nur noch leichte Symptome.

Wie steht es mit den Erwartungen und Wünschen der Patienten und Patientinnen im Hinblick auf ihre Behandlung? Das ist mir bei einem Arzt besonders wichtig.

Drei der vier häufigsten Patientenwünsche fokussieren bei der entsprechenden Allensbach-Umfrage auf einen menschlichen und Vertrauen erweckenden Arzt, der sich viel Zeit für seine Patienten nimmt. Patienten und Patientinnen stimmen mit den Füßen ab, wenn sie die persönliche Zuwendung nicht ausreichend erhalten.

Im weltweiten Vergleich hat Deutschland die "fragwürdige" Spitzenposition in der Häufigkeit der Inanspruchnahme alternativer Maßnahmen inne. In Deutschland gibt es 132 000 niedergelassene Ärztinnen und Ärzte und allein 21 000 Heilpraktiker laut Statistischem Bundesamt. Hier droht oder besteht bereits Deprofessionalisierung für die psychosozialen Anteile der ärztlichen Heilkunst. Dieses Thema hat aber viele Aspekte, die wir einmal zusammenhängend aus dem Blickwinkel aller Fachgebiete in Bezug auf alle nicht ärztlichen Berufsgruppen im Gesundheitswesen diskutieren sollten.

Die gezeigten internationalen Daten können auch so interpretiert werden, dass sich die hervorragende so genannte Schulmedizin in Deutschland zu wenig den psychosozialen Belangen zuwendet. Eine der Ursachen sehe ich in dem geringen zeitlichen Rahmen, der unter den gegenwärtigen Organisations- und Finanzierungsstrukturen sowohl im klinischen als auch im ambulanten Bereich zur Verfügung steht. Andererseits empfinden viele Ärztinnen und Ärzte Fort- und Weiterbildung zum Beispiel in Balint-Gruppen, psychosomatischer Grundversorgung, Entspannungstherapien häufig auch als wichtige Burn-out-Prophylaxe für sich selbst - speziell dann, wenn dies im gesundheitsfördernden Nordseeklima stattfindet.

Der Körper dem Arzt, die Seele dem .? Nein! Sowohl der Körper als auch die Seele als auch das soziale Umfeld gehören mit den Patienten und Patientinnen in das ärztliche Sprechzimmer.

These 5: Ein bio-psycho-soziales ganzheitliches ärztliches Handeln trägt auch zur Arbeitszufriedenheit der Ärzte und Ärztinnen bei.

Die Unzufriedenheit der Ärzteschaft mit ihren beruflichen Rahmenbedingungen - wie wir es ja hautnah alltäglich bei den Demonstrationen und Streiks miterleben - ist keinesfalls ein deutsches Phänomen. Beispielsweise im "British Medical Journal 2004" wurde ausgiebig über die "unhappy doctors" diskutiert. Und wenn wir nicht wollen, dass dieser einsame Arzt im OP als Fazit seiner Grübelei als Unternehmensberater anheuert oder ein Ticket nach Skandinavien löst, müssen wir dafür sorgen, dass es den Ärztinnen und Ärzten wieder möglich wird, selbst ein integriertes Leben mit Beruf, Familie und Freizeit in Balance und mit wertschätzender Honorierung zu führen.

(Beifall)

Nur eine ganzheitliche Vorgehensweise bedingt eine Win-win-win-Situation: sowohl für die Effizienz der ärztlichen Behandlung als auch für die Berücksichtigung der bio-psycho-sozialen Bedürfnisse der Patienten und Patientinnen und last not least für die Arbeitszufriedenheit von Ärzten und Ärztinnen. Ohne sie kann erstens der hohe medizinische Standard nicht gehalten und zweitens auf die zukünftigen Herausforderungen der Medizin nicht gut genug reagiert werden.

Notwendig sind hierzu gezielte Maßnahmen bezüglich Aus-, Weiter- und Fortbildung. In der Ausbildung gilt es, die Inhalte der neuen Approbationsordnung umzusetzen und die Studierenden tatsächlich per Pflichtpraktika in Gesprächsführung und Kommunikation für alle existenziellen Lebensbereiche zu schulen - wie wir von Studierenden hören, wird das oft unter den Tisch fallen gelassen -, zum Beispiel zum Umgang mit Sterben, Tod, Suizidalität, Aufklärungsgespräche bei schwierigen Diagnosen - beispielsweise Krebs - und Umgang mit den eigenen Emotionen und den Emotionen der Patienten und Angehörigen.

Nach welchem Arztbild werden die Universitäten entsprechend der neuen Approbationsordnung eigentlich in Zukunft selbst ihre Studierenden auswählen? Hier wäre aus meiner Sicht eine begleitende Evaluation wichtig.

Herr Professor Loew wird in seinem Redebeitrag über die Umsetzung integrierter Aus- und Weiterbildungskonzepte an Universitäten und anderen Weiterbildungsstätten berichten.

Zum Thema Weiterbildung: In der Inneren und Allgemeinmedizin und in der Frauenheilkunde ist die psychosomatische Grundversorgung bereits fester Bestandteil der Weiterbildung.

Nun wäre zu diskutieren, wie diese grundlegenden Kenntnisse über psychische und psychosomatische Störungen und das Erlernen zum Beispiel von Kommunikationstechniken in alle Weiterbildungen Eingang finden können, ohne die Gesamtanforderungen unzumutbar zu erhöhen und ohne finanzielle Opfer.

Eine Umfrage über die Akademie der Gebietsärzte an Fachgesellschaften und Berufsverbände ergab: Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) befürwortet einerseits die Integration des Weiterbildungsmoduls "psychosomatische Grundversorgung" in alle Fachgebiete und andererseits die Umbenennung in "psychische und psychosomatische Grundversorgung". Der Berufsverband der Augenärzte und die Fachgesellschaften für Dermatologie, HNO-Heilkunde, Neurochirurgie, Phoniatrie und
Pädaudiologie und Urologie sprechen sich dafür aus, dass in ihrem jeweiligen Gebiet diese psychosomatische bzw. psychische und psychosomatische Grundversorgung fester Bestandteil sein sollte.

Nun zur Fortbildung: Die Erkennungsrate von Depressionen in der ärztlichen Praxis ist im Durchschnitt circa 30 Prozent. Im Rahmen des Kompetenznetzes Depressionen wurden gezielt vier Fortbildungsabende angeboten, die zu einer statistisch hoch signifikanten Verdoppelung der Erkennungsrate depressiver Erkrankungen führte, die zudem nach einem Jahr noch Bestand hatte.

Jetzt komme ich zum abschließenden Fazit.

Ist die ärztliche Heilkunst tatsächlich in Gefahr? Nein! Sie hat sich bestens bewährt! Trotz aller Unkenrufe aus der Politik schneidet die deutsche Medizin im internationalen Vergleich sehr gut ab und Ärzte und Ärztinnen haben weiterhin das höchste Sozialprestige in der Bevölkerung.

Das heißt aber andererseits nicht, dass man in statischer Selbstzufriedenheit verharren sollte.

Der Anstieg der Zahl von psychischen und psychosomatischen Erkrankungen mit allen Konsequenzen auch für die Versicherungssysteme ist eine immense Herausforderung! Somatische Medizin und psychosoziale Medizin sind in weiten Bereichen noch getrennt und der Bereich der so genannten PPP-Fächer war, wie allgemein bekannt, in den letzten Jahren von Dissonanzen bestimmt. Die Zusammenarbeit vor diesem Ärztetag und die Erkenntnis der zentralen Position psychischer und psychosomatischer Störungen im Gesundheitswesen haben einen Schulterschluss unter uns psychotherapeutisch tätigen Ärztinnen und Ärzten unter Überwindung historischer Grenzziehung Wirklichkeit werden lassen. Ich hoffe, dass es dabei bleibt.

Eine moderne Medizin kann nur eine ganzheitliche Medizin für den ganzen Menschen sein!

Damit komme ich zu den Abschlussforderungen.

Psychische und psychosomatische Erkrankungen sind auf einem bedrohlichen Vormarsch. Die Ärzteschaft fördert deshalb erstens den sprechenden Anteil der Medizin in allen patientenbezogenen Fachgebieten, zweitens die ärztliche Psychotherapie in allen Facharztgebieten und drittens die Erhöhung der Attraktivität des ärztlichen Berufs durch Reduktion unärztlicher Arbeit und dadurch Stärkung der psychosozialen Zuwendung.

Die Ärzteschaft fordert von Politik und Kassen die Übernahme der finanziellen Verpflichtung für den sehr wesentlich demografisch und gesellschaftlich bedingten Morbiditätsanstieg psychischer und psychosomatischer Erkrankungen.

Ich hoffe, dass Ihnen diese Argumente ermöglichen, dem Vorstandsantrag zuzustimmen.

(Beifall)

Vizepräsident Dr. Goesmann: Herzlichen Dank, Frau Kollegin Bühren, für den hervorragenden und umfassenden Vortrag über die Kunst des Heilens - nicht die verlorene Kunst des Heilens, denn wir haben sie ja noch in unseren Händen.

Wenn es möglich ist, möchten wir vor der Mittagspause noch die drei Korreferate hören.

Ich darf als nächsten Redner Herrn Professor Dr. Hohagen, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde, um seine Ausführungen bitten.

© 2006, Bundesärztekammer.