Prof. Dr. Schulte-Markwort, als geladener Gast:
Sehr geehrte Frau Vizepräsidentin! Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Frau
Bühren! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Kleinen kommen immer zum
Schluss. Ich danke Ihnen herzlich, dass Sie mir noch so kurz vor der
Mittagspause Ihr Ohr und auch ein bisschen Ihr Herz öffnen. Ich möchte Ihnen
aus kinder- und jugendpsychiatrischer und kinder- und
jugendpsychotherapeutischer ärztlicher Sicht darlegen, warum die Situation im
Bereich der Kinder und Jugendlichen dramatischer ist als im Bereich der
Erwachsenen. Wir wären froh, wenn wir im Bereich der Kinder und Jugendlichen
schon so weit wären wie die Erwachsenenpsychiatrie, die
Erwachsenenpsychotherapie und die Erwachsenenpsychosomatik.
Wenn man in der Schule untersucht, wie viele Kinder und
Jugendliche unter Symptomen und Beschwerden leiden, kommt man auf eine Zahl von
24 Prozent. Heute Morgen wurde bereits darauf hingewiesen, dass der Lebensmittelpunkt
unserer Patienten in der Regel die Schule ist.
Natürlich sind diese 24 Prozent nicht alle
behandlungsbedürftig, aber sie sind abklärungsbedürftig. Das sind die
Ergebnisse einer repräsentativen Untersuchung, die eine Arbeitsgruppe aus
meiner Abteilung im Jahre 2001 an 2 000 Kindern im Alter zwischen vier und
18 Jahren in Deutschland durchgeführt hat. Eine Menge der Angaben dieser 24
Prozent wie Leistungsprobleme, Konzentrationsprobleme, aber auch Schulangst
oder Ausgrenzungsprobleme sind interpretationsbedürftig. Es geht hier beileibe
nicht um Befindlichkeitsstörungen, wie uns gegenüber manchmal der Verdacht
geäußert wird.
Wenn man die Ergebnisse von diesen knapp 2 000 Kindern
repräsentativ für Deutschland hochrechnet, bedeutet dies, dass 10 Prozent
psychisch auffällig sind, fast 14 Prozent psychosomatische Beschwerden angeben
und dass es einen Überschneidungsbereich zwischen diesen beiden Gruppen von 8
Prozent gibt. Das Risiko - die odds ratio -, dass ein Kind, wenn es sich in
einem der hier gezeigten großen Kreise befindet, sich auch in dem mittleren
Kreis befindet, ist um das 4,3fache gesteigert. Das heißt, wir haben es mit
einer großen Anzahl von Kindern und Jugendlichen zu tun, die wir alle versorgen
müssen.
Im Unterschied zu dieser dramatischen Prävalenz, die in den
letzten 20 Jahren nicht zugenommen hat, aber weiter auf dramatisch hohem Niveau
bleibt, werden nur 4,6 Prozent überhaupt von einem Arzt oder Psychologen
behandelt, die meisten von einem Kinderpsychologen, gefolgt vom Kinderarzt, dem
Allgemeinarzt und dann erst dem Kinder- und Jugendpsychiater.
Das bedeutet, dass den 647 niedergelassenen Kinder- und
Jugendpsychiatern 5 Millionen Menschen unter 18 Jahren gegenüberstehen, die
diagnostiziert und behandelt werden müssten. Die 2 500 Psychologischen
Psychotherapeuten im Kinderbereich und die 1 500 Kinderanalytiker, die es
gibt, die ohne Frage bei entsprechender Indikation gute psychotherapeutische
Arbeit leisten, können dies häufig nicht, weil die psychiatrische und die
somatische Differentialdiagnose, die oft eine Voraussetzung für eine
Psychotherapie ist, von den Kinder- und Jugendpsychiatern gestellt werden muss,
die mit den 700 000 Behandlungen, die sie jedes Jahr ableisten, ein
Vielfaches dessen leisten, was die beiden anderen Berufsgruppen leisten. Aber
das reicht im Vergleich zu den 5 Millionen überhaupt nicht.
Das heißt, die kinder- und jugendpsychiatrische und
psychotherapeutische Vollversorgung in Deutschland ist nicht gewährleistet. Das
ist dramatisch. Jeder Hausarzt, jeder Kinderarzt von Ihnen, der ein Kind
unterbringen möchte, weiß, wie schwierig das häufig ist. Die ärztliche
Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter ist unterrepräsentiert und auch in
Gefahr. Dagegen haben aber - das haben wir heute bereits gehört - 50 Prozent
aller psychischen Störungen ihren Ursprung in der Kindheit. Wenn wir schon früh
suffizient diagnostizieren und behandeln, verhindern wir diese Chronifizierung,
sodass wir auch präventive Arbeit im eigentlichen Sinne leisten können.
Ich möchte Sie herzlich bitten, den Antrag des Vorstands zu
unterstützen.
Ich danke Ihnen herzlich, dass Sie mir noch zugehört haben.
(Beifall)
Vizepräsidentin Dr. Goesmann: Herr Professor
Schulte-Markwort, wir haben Ihnen ebenso wie auch den anderen Vortragenden Ohr
und Herz geöffnet.
Nach diesen vier Referaten, die uns alle auch am Herzen berührt
haben, möchten wir in die Mittagspause eintreten. Sie sind hoffentlich damit
einverstanden, dass wir anschließend weiterdiskutieren. Es liegen 25 Anträge
vor. Ich bitte Sie, pünktlich um 14 Uhr wieder hier zu sein, damit wir in die
Diskussion eintreten können.
Ich möchte Sie noch auf etwas Organisatorisches hinweisen. Es
werden oft längere Anträge gestellt. Wir möchten Sie bitten, das
Delegiertenzentrum zu nutzen; dort stehen PCs und Drucker bereit. Sie müssen
also längere Anträge nicht handschriftlich gefertigt einreichen, sondern
bereits ausgedruckte Texte. Das würde die Arbeit sehr erleichtern. Ich bitte
Sie, dies zu berücksichtigen. Man kann die Texte sogar elektronisch auf den Weg
bringen. Im Delegiertenzentrum ist offensichtlich alles vom Feinsten. Ich bitte
Sie, dieses zu nutzen.
Ich danke noch einmal allen Vortragenden und unterbreche die
Sitzung bis 14 Uhr.
2. Tag: Mittwoch, 24.
Mai 2006
Nachmittagssitzung
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Wir setzen unsere Beratungen fort. Die Gäste von heute Morgen
sind nicht mehr alle anwesend. Diejenigen, die anwesend sind, haben darum gebeten,
an der Diskussion teilnehmen zu dürfen. Das sei ihnen erlaubt.
Bevor wir mit der Diskussion beginnen, möchte ich Ihnen noch
drei Dinge mitteilen. Herr Dr. Peter Hoppe-Seyler aus Baden-Württemberg hat
heute Geburtstag. Wir gratulieren ihm alle ganz herzlich und wünschen, dass ihm
dieser Tag mit uns in angenehmer Erinnerung bleiben wird.
(Beifall)
Falls noch ein Geburtstagskind im Raum sein sollte, sagen Sie
bitte Bescheid. Selbstverständlich wird jeder beglückwünscht.
Beglückwünschen möchten wir auch Herrn Sanitätsrat Dr.
Engelhard, der heute zum 25. Mal an einem Deutschen Ärztetag teilnimmt. Wir
möchten das gebührend erwähnen. Schön, dass Sie da sind.
(Beifall)
Uns allen ist es ein Bedürfnis, folgendes Lob auszusprechen:
Das "Deutsche Ärzteblatt" von dieser Woche liegt Ihnen bereits druckfrisch vor.
Es enthält Berichte und Fotos von gestern. Es ist eine enorme Leistung, dass
Redaktion und Druckerei es geschafft haben, dieses Heft bis heute fertig zu
stellen. Ich bitte Sie, das gebührend zu würdigen. Ein herzliches Dankeschön an
diejenigen, die das vollbracht haben. Ich glaube, das ist ein Applaus wert.
(Beifall)
Meine Damen und Herren, wir kehren jetzt zur Behandlung des
Tagesordnungspunkts II zurück. Wir haben die Referate gehört und kommen nun zu
den Wortmeldungen. Ich darf als ersten Redner Herrn Dr. Menzel aus Berlin ans
Mikrofon bitten.
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