TOP III: Gesundheitsversorgung in Europa

2. Tag: Mittwoch, 24. Mai 2006 Nachmittagssitzung

Dr. JeszenszkyDr. Jeszenszky, Referent: Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Es ist für mich eine große Ehre, hier und heute vor dem höchsten Forum der deutschen Ärzteschaft für die wertvolle Hilfe der Bundesärztekammer zu danken, mit der sie bei der Durchführung der Reformen des Gesundheitssystems in Rumänien beigetragen hat.

Wegen einiger Kommunikationsschwierigkeiten wird mein erster Teil des Referats verbal vorgetragen, der zweite Teil als PowerPoint-Präsentation.

Mein Thema lautet: Gesundheitsversorgung in Rumänien. Zunächst ein historischer Überblick: Anfänge einer "Krankenversicherung" finden wir in Timişoara (Temeschburg) schon aus dem Jahre 1857 als "Gesellschaft für die Unterstützung der Bergwerker bei Krankheiten und Tod". 1886 gab es schon in 13 Städten aus Siebenbürgen Sozialversicherungsanfänge. Mit dem Gesetz vom 8. April 1933 wurde für das ganze Land eine Pflichtversicherung als "Zentrale Kasse der Sozialversicherung" eingeführt. 1947 wurde diese Versicherung durch das sowjetische Gesundheitssystem (Semaschko) ersetzt, das bis 1994 gültig war.

Ich komme damit zu den Bemühungen um die Anpassung des Gesundheitsversorgungssystems an die neuen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Strukturen mit der Unterstützung der Bundesärztekammer. Nach der Wende gab es eine große Euphorie, aber leider wurden die Erwartungen nicht so schnell erfüllt wie erhofft. Die Industrie des Landes bestand aus Großbetrieben der Schwerindustrie und der chemischen Industrie, die unwirtschaftlich produzierten. Die Landwirtschaft war zu 100 Prozent in staatlichen Betrieben und LPGs konzentriert. Die Infrastruktur war sehr schwach entwickelt und veraltet. Das Gesundheitssystem war vom Staat organisiert und finanziert. Die Krankenhäuser waren alle Staatseigentum und ärmlich ausgestattet. Die Ärzte und das Krankenhauspersonal waren staatlich angestellt. Das ganze Gesundheitssystem war bürokratisch, uneffektiv und ineffizient.

Der Versuch der Weltbank, das Gesundheitssystem zu reformieren, geriet bald in eine Sackgasse. Es kamen viele Finanzhilfen und Sachspenden ins Land, aber die Korruption wuchs zu einem "Staatsgeschäft".

Damit komme ich zur deutsch-rumänischen Arbeitsgruppe. Die Arbeitsgruppe aus Deutschland unter der Leitung von Professor Dr. Karsten Vilmar, dem damaligen Präsidenten der Bundesärztekammer, und Dr. Otmar Kloiber, Leiter der Abteilung für Internationale Zusammenarbeit in der Bundesärztekammer, hat im Herbst 1992 die Arbeit in Bukarest mit folgenden Aufgaben begonnen: 1. Beratung der Regierung, sich für eines der zwei Gesundheitssysteme - nationales Gesundheitssystem oder Sozialversicherungssystem - zu entscheiden; 2. die Ausarbeitung der Strategie für die Reform - eine neue Gesetzgebung, die Schaffung der institutionellen Strukturen und eines Finanzierungsmodells, um die Leistungen und die Leistungserbringer neu zu organisieren -; 3. finanzielle Ressourcen für die Reisen der Experten nach Rumänien bereitzustellen; 4. Informationsmaterial für die rumänischen Partner vorzubereiten; 5. die Ausbildung von rumänischen Fachleuten zu organisieren; 6. Kontakte mit Personen herzustellen, die Entscheidungen treffen können - Parlament, Gesundheitsministerium, Arbeitsministerium, Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Bukarest, Ständige Vertretung der EU in Bukarest usw. -, und 7. Lobbyarbeit in Deutschland für die Unterstützung der Arbeit in Rumänien beim Bundesgesundheitsministerium, bei der Regierung des Landes Nordrhein-Westfalen, im Bundestag, in Landes- und Kommunalbehörden sowie bei Stiftungen und Vereinen.

Wie lief diese Arbeit ab? Die Arbeit hat im Oktober 1992 begonnen. Ein- bis zweimal im Monat hat die Gruppe am Wochenende in Bukarest zwölf bis 14 Stunden am Tag gearbeitet. Es wurden die wichtigsten Gesetzentwürfe ausgearbeitet, mit denen man die Reform beginnen und durchführen konnte: Gesetz für die Einführung einer Gesundheitssozialversicherung, Gesetz für die Gründung eines Ärztekollegiums - Ärztekammer -, Gesetz für die Einführung einer Berufsordnung für die Ärzte und die Neuordnung der ambulanten hausärztlichen und fachärztlichen Versorgung, Krankenhausgesetz, Gesetz für die Versorgung mit Medikamenten, Gesetz für das öffentliche Gesundheitswesen sowie Gesetz für Gerätesicherheit. Mit diesen Gesetzen konnten wir die Reform beginnen.

Diese Arbeit zog sich über vier bis fünf Jahre hin. Die Gruppe der Experten aus Deutschland hat sich auch an dem Pilotprojekt in acht Kreisen für die Implementierung der neuen Gesetze beteiligt.

In dieser Zeit wurden fünf Gesundheitsminister und 36 Parlamentarier nach Deutschland eingeladen, um das deutsche Gesundheitssystem kennen zu lernen und sich bei der Reform in Rumänien aktiv beteiligen zu können.

Auch die zwei Bundesärztekammerpräsidenten Professor Dr. Vilmar und Professor Dr. Hoppe sind nach Rumänien gekommen, um Gespräche mit den zuständigen Ministern, Parlamentariern und den neu gewählten Mitarbeitern des Nationalen Ärztekollegiums zu führen.

Heute und hier möchte ich nochmals der Bundesärztekammer für die Hilfsbereitschaft und die Unterstützung danken, die wir für die Planung und Durchführung der Reform des Gesundheitssystems in Rumänien erhalten haben.

Wie ist der heutige Stand der Reform in Rumänien?

Der gesetzliche und institutionelle Rahmen für das neue Gesundheitssystem ist geschaffen. Wir haben ein Pflichtversicherungssystem, das aber noch nicht ganz nach demokratischen Normen funktioniert. Die Grundprinzipien dieses Systems sind: Der Leistungsanspruch gründet sich auf die Bezahlung von Sozialbeiträgen und abgeleitete Ansprüche - leider sind viele von diesen politisch begründet -; Beitragssolidarität und Gewährung von Gesundheitsleistungen unabhängig von der Höhe der Beiträge, die bezahlt werden; die Leistungen werden von den Kreiskrankenkassen gewährt und werden durch Einzelverträge mit öffentlichen und privaten Leistungsanbietern sichergestellt. Die Struktur und die Organisation der Kassen sind noch sehr zentralistisch. Die Beiträge werden vom Finanzministerium in einen zentralen Fonds eingezogen und monatlich wird eine gewisse Summe der Nationalkasse überwiesen, die für die Kreiskassen - 42 plus Bukarest - eine vereinbarte Summe überweist. Die Selbstverwaltung der Nationalkasse sowie die der Kreiskassen ist stark eingeschränkt. Die Führungskräfte werden nach politischen Kriterien ausgewählt und eingesetzt.

Die wichtigsten Leistungsanbieter sind die Familienärzte für die Grundversorgung der Bevölkerung. Es gibt eine freie Arztwahl. Das Arbeitsentgelt wird nach Kopfpauschalen und für bestimmte Einzelleistungen bezahlt. Der Familienarzt hat auch die Torhüterfunktion.

Fachärzte für die ambulante Versorgung gibt es in Einzelpraxen, Gruppenpraxen oder Gesundheitszentren. Das Arbeitsentgelt wird nach Einzelleistungen mit einem Punktesystem berechnet oder es wird ein Monatsgehalt bezahlt.

Die Finanzierung der Krankenhäuser ist nach dem DRG-System gewährleistet und das Krankenhauspersonal ist nach einem einheitlichen Tarifsystem mit einem Monatsgehalt bezahlt. Medikamentenanbieter sind Apotheken, Herstellerketten und Verteilerketten. Die aus Deutschland oder der Schweiz importierten Medikamente sind in Rumänien teurer als in den Herstellerländern.

Laboratoriumsuntersuchungen erfolgen durch öffentliche und private Dienste. Hilfsmittel- und Heilmittelanbieter sind private und öffentliche Dienste.

Wir erwarten von der Europäischen Union und von der Bundesrepublik, besonders von der Bundesärztekammer, weitere Unterstützung. Die Bundesärztekammer ist der Taufpate unseres Gesundheitssystems. Wir brauchen weitere Unterstützung für das Ärztekollegium, damit es eine autonome Organisation wird und die wahren Interessen der rumänischen Ärzteschaft kompetent vertreten kann. Jetzt ist es ein Anhängsel des Gesundheitsministeriums. Wir benötigen eine Erweiterung der Zusammenarbeit zwischen den rumänischen und den deutschen Fachgesellschaften in gemeinsamen und verschiedenen internationalen Projekten.

Wichtig ist auch der Austausch von Fachleuten und wissenschaftlichen Mitarbeitern für die Verbesserung des Gesundheitszustands der Bevölkerung in unserem Lande. Hier nenne ich die Stichworte Säuglingssterblichkeit, Müttersterblichkeit und Krankenhausmanagement.

Erforderlich ist eine Verstärkung der Lobbyarbeit in der Europäischen Union für eine bessere Harmonisierung der Ausbildung, der Weiterbildung und der Fortbildung der Ärzte und für die Anerkennung der Diplome und eine Erleichterung der Beschäftigung von Ärzten auch aus den ost- und mitteleuropäischen Ländern in der Europäischen Union - und vice versa, sofern das möglich ist.

Erforderlich ist auch noch die Erweiterung der Kooperation zwischen deutschen und rumänischen Medizinischen Universitäten und Forschungsinstituten, um die Annäherung der Qualität unserer medizinischen Leistungen an die Standards der EU zu beschleunigen.

In den nachfolgenden Tabellen und Grafiken werde ich für die vergangenen 30 Jahre die wichtigsten Parameter des Gesundheitszustands der rumänischen Bevölkerung verdeutlichen.

Rumänien hat rund 22 Millionen Einwohner. Die Landesfläche beträgt knapp 240 Quadratkilometer. Die Bevölkerungsdichte beträgt rund 98 Einwohner pro Quadratkilometer. Die Verteilung der Einwohner auf Stadt und Land hat sich seit 1970 nur wenig verändert. Im Jahre 2000 lebten über 45 Prozent der Bevölkerung auf dem Land. Das Durchschnittsalter hat sich zwischen 1970 und 2000 kaum verändert. Die Zahlen für 2005 konnte ich nicht darstellen, weil die bereinigten Zahlen noch nicht vorliegen. Das Durchschnittsalter der Frauen lag im Jahre 2000 bei 73 Jahren, das der Männer bei knapp 66 Jahren. Die Ausgaben für Gesundheit, gemessen in Prozent des Bruttoinlandsprodukts, haben sich von 2,8 Prozent im Jahre 1970 auf 3,4 Prozent im Jahre 2000 erhöht. 2004 lagen die durchschnittlichen Gesundheitsausgaben pro Person und Jahr bei etwa 111 Euro.

Die Natalität ist von 1970 mit rund 21 Promille bis zum Jahre 2000 mit 10,5 Promille stark gesunken. Die Fertilität hat sich von 1970 bis 2000 ungefähr halbiert. 1970 gab es pro 1 000 Lebendgeborene rund 685 Fehlgeburten. Diese Zahl hat sich bis 2004 auf 1 050 erhöht. Zu Zeiten von Ceauşescu war die Fehlgeburtenrate klein. Die Müttersterblichkeitsrate pro 100 000 Geborene ging von 1,17 im Jahr 1970 auf 0,34 im Jahr 2000 zurück. Nur zwei Länder in Europa haben eine höhere Müttersterblichkeitsrate. Die Rate der Säuglingssterblichkeit pro 1 000 Geborene betrug im Jahr 2000 noch immer 18,6.

Die häufigste Todesursache sind Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems, gefolgt von Lungen- und Atemwegskrankheiten. Auf 100 000 Einwohner kommen 47 Todesfälle durch Tuberkulose. An dritter Stelle hinsichtlich der häufigsten Todesursachen steht der Schlaganfall, gefolgt von Neoplasien, Unfällen bzw. Vergiftungen, Erkrankungen des Verdauungssystems und Infektionskrankheiten.

Hinsichtlich der angeborenen Krankheiten ist zu berücksichtigen, dass wir nur 300 Kilometer von Tschernobyl entfernt liegen.

Hinsichtlich der Zahl der Ärzte ist von 1970 bis 2000 eine 40-prozentige Steigerung zu verzeichnen. Bei den Zahnärzten sind es 100 Prozent, ebenso bei den Apothekern.

Unsere Ärzte wandern nicht nach Großbritannien oder Norwegen aus, sondern - auch wegen der Sprache - nach Ungarn.

1900 kamen 782 Einwohner auf einen Arzt. Im Jahre 2000 waren es 490. Derzeit sind es 432. In Rumänien gab es im Jahre 2000  180 Ärzte pro 1 000 Einwohner. In der Bundesrepublik sind es derzeit ungefähr 380.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und lade Sie ein, nach Rumänien zu kommen - nicht nur, um das Gesundheitssystem zu studieren, sondern auch um das Land und seine Schönheiten zu entdecken.

(Beifall)

Vizepräsident Dr. Crusius: Vielen Dank, Herr Kollege Jeszenszky, für Ihre beeindruckende Darstellung. Es ist noch viel zu tun, aber Sie sind auf einem positiven Weg. Schon die Veränderungen hinsichtlich der Säuglings- und der Müttersterblichkeit lassen positiv in die Zukunft schauen. Sie haben eben ein schönes Bild vom Donaudelta gezeigt. Wir haben noch die Bilder aus dem Frühjahr von der katastrophalen Überschwemmung vor Augen. Durch ein solches Naturereignis steigt natürlich beispielsweise auch die Rate der Infektionskrankheiten.

Nochmals vielen Dank für Ihre Darstellung.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie wissen, unser Präsident und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Auslandsabteilung der Bundesärztekammer sind in allen ehemaligen Ostblockstaaten unterwegs gewesen, um das Kammerwesen auch im Osten zu etablieren. Insofern haben wir gute Beziehungen zu diesen Ländern.

Wir kommen jetzt zur Diskussion. Der erste Redner ist Herr Dr. Voigt aus Niedersachsen.

© 2006, Bundesärztekammer.