Dr. Jeszenszky, Referent: Herr Präsident!
Verehrte Damen und Herren! Es ist für mich eine große Ehre, hier und heute vor
dem höchsten Forum der deutschen Ärzteschaft für die wertvolle Hilfe der
Bundesärztekammer zu danken, mit der sie bei der Durchführung der Reformen des
Gesundheitssystems in Rumänien beigetragen hat.
Wegen einiger Kommunikationsschwierigkeiten wird mein erster
Teil des Referats verbal vorgetragen, der zweite Teil als
PowerPoint-Präsentation.
Mein Thema lautet: Gesundheitsversorgung in Rumänien. Zunächst
ein historischer Überblick: Anfänge einer "Krankenversicherung" finden wir in
Timişoara (Temeschburg) schon aus dem
Jahre 1857 als "Gesellschaft für die Unterstützung der Bergwerker bei
Krankheiten und Tod". 1886 gab es schon in 13 Städten aus Siebenbürgen
Sozialversicherungsanfänge. Mit dem Gesetz vom 8. April 1933 wurde für das
ganze Land eine Pflichtversicherung als "Zentrale Kasse der Sozialversicherung"
eingeführt. 1947 wurde diese Versicherung durch das sowjetische
Gesundheitssystem (Semaschko) ersetzt, das bis 1994 gültig war.
Ich komme damit zu den Bemühungen um die Anpassung des
Gesundheitsversorgungssystems an die neuen politischen, wirtschaftlichen und
sozialen Strukturen mit der Unterstützung der Bundesärztekammer. Nach der Wende
gab es eine große Euphorie, aber leider wurden die Erwartungen nicht so schnell
erfüllt wie erhofft. Die Industrie des Landes bestand aus Großbetrieben der
Schwerindustrie und der chemischen Industrie, die unwirtschaftlich
produzierten. Die Landwirtschaft war zu 100 Prozent in staatlichen Betrieben
und LPGs konzentriert. Die Infrastruktur war sehr schwach entwickelt und
veraltet. Das Gesundheitssystem war vom Staat organisiert und finanziert. Die
Krankenhäuser waren alle Staatseigentum und ärmlich ausgestattet. Die Ärzte und
das Krankenhauspersonal waren staatlich angestellt. Das ganze Gesundheitssystem
war bürokratisch, uneffektiv und ineffizient.
Der Versuch der Weltbank, das Gesundheitssystem zu
reformieren, geriet bald in eine Sackgasse. Es kamen viele Finanzhilfen und
Sachspenden ins Land, aber die Korruption wuchs zu einem "Staatsgeschäft".
Damit komme ich zur deutsch-rumänischen Arbeitsgruppe. Die
Arbeitsgruppe aus Deutschland unter der Leitung von Professor Dr. Karsten
Vilmar, dem damaligen Präsidenten der Bundesärztekammer, und Dr. Otmar Kloiber,
Leiter der Abteilung für Internationale Zusammenarbeit in der
Bundesärztekammer, hat im Herbst 1992 die Arbeit in Bukarest mit folgenden
Aufgaben begonnen: 1. Beratung der Regierung, sich für eines der zwei
Gesundheitssysteme - nationales Gesundheitssystem oder
Sozialversicherungssystem - zu entscheiden; 2. die Ausarbeitung der Strategie
für die Reform - eine neue Gesetzgebung, die Schaffung der institutionellen
Strukturen und eines Finanzierungsmodells, um die Leistungen und die
Leistungserbringer neu zu organisieren -; 3. finanzielle Ressourcen für die Reisen
der Experten nach Rumänien bereitzustellen; 4. Informationsmaterial für die
rumänischen Partner vorzubereiten; 5. die Ausbildung von rumänischen Fachleuten
zu organisieren; 6. Kontakte mit Personen herzustellen, die Entscheidungen
treffen können - Parlament, Gesundheitsministerium, Arbeitsministerium,
Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Bukarest, Ständige Vertretung der
EU in Bukarest usw. -, und 7. Lobbyarbeit in Deutschland für die Unterstützung
der Arbeit in Rumänien beim Bundesgesundheitsministerium, bei der Regierung des
Landes Nordrhein-Westfalen, im Bundestag, in Landes- und Kommunalbehörden sowie
bei Stiftungen und Vereinen.
Wie lief diese Arbeit ab? Die Arbeit hat im Oktober 1992
begonnen. Ein- bis zweimal im Monat hat die Gruppe am Wochenende in Bukarest
zwölf bis 14 Stunden am Tag gearbeitet. Es wurden die wichtigsten
Gesetzentwürfe ausgearbeitet, mit denen man die Reform beginnen und durchführen
konnte: Gesetz für die Einführung einer Gesundheitssozialversicherung, Gesetz
für die Gründung eines Ärztekollegiums - Ärztekammer -, Gesetz für die
Einführung einer Berufsordnung für die Ärzte und die Neuordnung der ambulanten
hausärztlichen und fachärztlichen Versorgung, Krankenhausgesetz, Gesetz für die
Versorgung mit Medikamenten, Gesetz für das öffentliche Gesundheitswesen sowie
Gesetz für Gerätesicherheit. Mit diesen Gesetzen konnten wir die Reform
beginnen.
Diese Arbeit zog sich über vier bis fünf Jahre hin. Die Gruppe
der Experten aus Deutschland hat sich auch an dem Pilotprojekt in acht Kreisen
für die Implementierung der neuen Gesetze beteiligt.
In dieser Zeit wurden fünf Gesundheitsminister und 36
Parlamentarier nach Deutschland eingeladen, um das deutsche Gesundheitssystem
kennen zu lernen und sich bei der Reform in Rumänien aktiv beteiligen zu
können.
Auch die zwei Bundesärztekammerpräsidenten Professor Dr.
Vilmar und Professor Dr. Hoppe sind nach Rumänien gekommen, um Gespräche mit
den zuständigen Ministern, Parlamentariern und den neu gewählten Mitarbeitern
des Nationalen Ärztekollegiums zu führen.
Heute und hier möchte ich nochmals der Bundesärztekammer für
die Hilfsbereitschaft und die Unterstützung danken, die wir für die Planung und
Durchführung der Reform des Gesundheitssystems in Rumänien erhalten haben.
Wie ist der heutige Stand der Reform in Rumänien?
Der gesetzliche und institutionelle Rahmen für das neue
Gesundheitssystem ist geschaffen. Wir haben ein Pflichtversicherungssystem, das
aber noch nicht ganz nach demokratischen Normen funktioniert. Die
Grundprinzipien dieses Systems sind: Der Leistungsanspruch gründet sich auf die
Bezahlung von Sozialbeiträgen und abgeleitete Ansprüche - leider sind viele von
diesen politisch begründet -; Beitragssolidarität und Gewährung von
Gesundheitsleistungen unabhängig von der Höhe der Beiträge, die bezahlt werden;
die Leistungen werden von den Kreiskrankenkassen gewährt und werden durch
Einzelverträge mit öffentlichen und privaten Leistungsanbietern sichergestellt.
Die Struktur und die Organisation der Kassen sind noch sehr zentralistisch. Die
Beiträge werden vom Finanzministerium in einen zentralen Fonds eingezogen und
monatlich wird eine gewisse Summe der Nationalkasse überwiesen, die für die
Kreiskassen - 42 plus Bukarest - eine vereinbarte Summe überweist. Die
Selbstverwaltung der Nationalkasse sowie die der Kreiskassen ist stark
eingeschränkt. Die Führungskräfte werden nach politischen Kriterien ausgewählt
und eingesetzt.
Die wichtigsten Leistungsanbieter sind die Familienärzte für
die Grundversorgung der Bevölkerung. Es gibt eine freie Arztwahl. Das
Arbeitsentgelt wird nach Kopfpauschalen und für bestimmte Einzelleistungen
bezahlt. Der Familienarzt hat auch die Torhüterfunktion.
Fachärzte für die ambulante Versorgung gibt es in
Einzelpraxen, Gruppenpraxen oder Gesundheitszentren. Das Arbeitsentgelt wird
nach Einzelleistungen mit einem Punktesystem berechnet oder es wird ein
Monatsgehalt bezahlt.
Die Finanzierung der Krankenhäuser ist nach dem DRG-System
gewährleistet und das Krankenhauspersonal ist nach einem einheitlichen
Tarifsystem mit einem Monatsgehalt bezahlt. Medikamentenanbieter sind
Apotheken, Herstellerketten und Verteilerketten. Die aus Deutschland oder der
Schweiz importierten Medikamente sind in Rumänien teurer als in den
Herstellerländern.
Laboratoriumsuntersuchungen erfolgen durch öffentliche und
private Dienste. Hilfsmittel- und Heilmittelanbieter sind private und
öffentliche Dienste.
Wir erwarten von der Europäischen Union und von der
Bundesrepublik, besonders von der Bundesärztekammer, weitere Unterstützung. Die
Bundesärztekammer ist der Taufpate unseres Gesundheitssystems. Wir brauchen
weitere Unterstützung für das Ärztekollegium, damit es eine autonome
Organisation wird und die wahren Interessen der rumänischen Ärzteschaft
kompetent vertreten kann. Jetzt ist es ein Anhängsel des
Gesundheitsministeriums. Wir benötigen eine Erweiterung der Zusammenarbeit
zwischen den rumänischen und den deutschen Fachgesellschaften in gemeinsamen
und verschiedenen internationalen Projekten.
Wichtig ist auch der Austausch von Fachleuten und wissenschaftlichen
Mitarbeitern für die Verbesserung des Gesundheitszustands der Bevölkerung in unserem
Lande. Hier nenne ich die Stichworte Säuglingssterblichkeit, Müttersterblichkeit
und Krankenhausmanagement.
Erforderlich ist eine Verstärkung der Lobbyarbeit in der
Europäischen Union für eine bessere Harmonisierung der Ausbildung, der
Weiterbildung und der Fortbildung der Ärzte und für die Anerkennung der Diplome
und eine Erleichterung der Beschäftigung von Ärzten auch aus den ost- und
mitteleuropäischen Ländern in der Europäischen Union - und vice versa, sofern
das möglich ist.
Erforderlich ist auch noch die Erweiterung der Kooperation
zwischen deutschen und rumänischen Medizinischen Universitäten und
Forschungsinstituten, um die Annäherung der Qualität unserer medizinischen
Leistungen an die Standards der EU zu beschleunigen.
In den nachfolgenden Tabellen und Grafiken werde ich für die
vergangenen 30 Jahre die wichtigsten Parameter des Gesundheitszustands der
rumänischen Bevölkerung verdeutlichen.
Rumänien hat rund 22 Millionen Einwohner. Die Landesfläche
beträgt knapp 240 Quadratkilometer. Die Bevölkerungsdichte beträgt rund 98
Einwohner pro Quadratkilometer. Die Verteilung der Einwohner auf Stadt und Land
hat sich seit 1970 nur wenig verändert. Im Jahre 2000 lebten über 45 Prozent
der Bevölkerung auf dem Land. Das Durchschnittsalter hat sich zwischen 1970 und
2000 kaum verändert. Die Zahlen für 2005 konnte ich nicht darstellen, weil die
bereinigten Zahlen noch nicht vorliegen. Das Durchschnittsalter der Frauen lag
im Jahre 2000 bei 73 Jahren, das der Männer bei knapp 66 Jahren. Die Ausgaben
für Gesundheit, gemessen in Prozent des Bruttoinlandsprodukts, haben sich von
2,8 Prozent im Jahre 1970 auf 3,4 Prozent im Jahre 2000 erhöht. 2004 lagen die
durchschnittlichen Gesundheitsausgaben pro Person und Jahr bei etwa 111 Euro.
Die Natalität ist von 1970 mit rund 21 Promille bis zum Jahre
2000 mit 10,5 Promille stark gesunken. Die Fertilität hat sich von 1970
bis 2000 ungefähr halbiert. 1970 gab es pro 1 000 Lebendgeborene rund 685
Fehlgeburten. Diese Zahl hat sich bis 2004 auf 1 050 erhöht. Zu Zeiten von
Ceauşescu war die Fehlgeburtenrate klein. Die
Müttersterblichkeitsrate pro 100 000 Geborene ging von 1,17 im Jahr 1970
auf 0,34 im Jahr 2000 zurück. Nur zwei Länder in Europa haben eine höhere
Müttersterblichkeitsrate. Die Rate der Säuglingssterblichkeit pro 1 000
Geborene betrug im Jahr 2000 noch immer 18,6.
Die häufigste Todesursache sind
Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems, gefolgt von Lungen- und Atemwegskrankheiten.
Auf 100 000 Einwohner kommen 47 Todesfälle durch Tuberkulose. An dritter
Stelle hinsichtlich der häufigsten Todesursachen steht der Schlaganfall,
gefolgt von Neoplasien, Unfällen bzw. Vergiftungen, Erkrankungen des
Verdauungssystems und Infektionskrankheiten.
Hinsichtlich der angeborenen
Krankheiten ist zu berücksichtigen, dass wir nur 300 Kilometer von Tschernobyl
entfernt liegen.
Hinsichtlich der Zahl der Ärzte ist
von 1970 bis 2000 eine 40-prozentige Steigerung zu verzeichnen. Bei den Zahnärzten
sind es 100 Prozent, ebenso bei den Apothekern.
Unsere Ärzte wandern nicht nach
Großbritannien oder Norwegen aus, sondern - auch wegen der Sprache - nach
Ungarn.
1900 kamen 782 Einwohner auf einen
Arzt. Im Jahre 2000 waren es 490. Derzeit sind es 432. In Rumänien gab es im
Jahre 2000 180 Ärzte pro 1 000 Einwohner. In der
Bundesrepublik sind es derzeit ungefähr 380.
Ich danke Ihnen für Ihre
Aufmerksamkeit und lade Sie ein, nach Rumänien zu kommen - nicht nur, um das
Gesundheitssystem zu studieren, sondern auch um das Land und seine Schönheiten
zu entdecken.
(Beifall)
Vizepräsident Dr. Crusius: Vielen Dank, Herr
Kollege Jeszenszky, für Ihre beeindruckende Darstellung. Es ist noch viel zu
tun, aber Sie sind auf einem positiven Weg. Schon die Veränderungen hinsichtlich
der Säuglings- und der Müttersterblichkeit lassen positiv in die Zukunft
schauen. Sie haben eben ein schönes Bild vom Donaudelta gezeigt. Wir haben noch
die Bilder aus dem Frühjahr von der katastrophalen Überschwemmung vor Augen.
Durch ein solches Naturereignis steigt natürlich beispielsweise auch die Rate
der Infektionskrankheiten.
Nochmals vielen Dank für Ihre Darstellung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie wissen, unser Präsident
und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Auslandsabteilung der
Bundesärztekammer sind in allen ehemaligen Ostblockstaaten unterwegs gewesen,
um das Kammerwesen auch im Osten zu etablieren. Insofern haben wir gute
Beziehungen zu diesen Ländern.
Wir kommen jetzt zur Diskussion. Der erste Redner ist Herr Dr.
Voigt aus Niedersachsen.
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