TOP III: Gesundheitsversorgung in Europa

2. Tag: Mittwoch, 24. Mai 2006 Nachmittagssitzung

Dr. Montgomery, Hamburg: Herr Vizepräsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein Dank an Klaus Wurche für dieses Referat, in dem er uns umfassend dargestellt hat, wie sich Europa aufstellt. Ich möchte versuchen, ergänzend dazu die emotionalen Komponenten hier vor Augen zu führen.

Europa ist ein unbeschreiblich großes Gebilde geworden. Europa wird von vielen von uns als Gefahr empfunden, weil wir uns inzwischen zusätzlich zur deutschen Bürokratie, die wir zum Teil handeln können, mit einer europäischen Bürokratie konfrontiert sehen, die uns mit vielen Fallstricken beglückt, die viele Probleme schafft. Wir müssen uns auseinander setzen mit einem angelsächsischen Denken in bürokratischen Fragen, mit einem französischen Denken in bürokratischen Fragen. Ich will Sie mit meinem Redebeitrag dafür gewinnen, dass wir uns alle viel mehr in Europa engagieren, denn wir tun in Europa zu wenig, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Wenn man, wie ich das seit 15 Jahren tue, in den europäischen Gremien tätig ist, stellt man geradezu mit Entsetzen fest, wie wenige Deutsche man dort trifft. Man trifft dort niemanden, der wie Sie oder wie ich versucht, auf die europäischen Entwicklungen Einfluss zu nehmen, sondern wir werden in Europa von Menschen dominiert, die aus dem angelsächsischen oder aus dem französischen Raum kommen. So ist denn auch vieles von dem, was uns in Europa begegnet, sehr von deren Denken geprägt und wenig von unserem Denken beeinflusst.

Das will ich ändern, mit Ihnen zusammen. Europa ist nämlich im Grunde genommen keine Gefahr, sondern Europa ist im Kern eine ganz große Chance. Diese Chance müssen wir ergreifen. Dazu müssen wir auf diesen Gebieten aktiv werden. Mein Plädoyer an Sie lautet: Engagieren Sie sich in Ihren Fachgesellschaften, in der Bundesärztekammer, in den internationalen Delegationen, damit sich Deutschland, das immerhin das größte Land der Europäischen Union ist, auch in der Gesetzgebung wiederfindet. Es kommen eine Fülle von Dingen auf uns zu. Klaus-Dieter Wurche hat eingangs seines Referats die Dienstleistungsrichtlinie angesprochen. Meine Damen und Herren, wir haben es über den Ständigen Ausschuss der Europäischen Ärzte und über die guten Verbindungen zum Europäischen Parlament geschafft, dass die uns als völlig inakzeptabel erscheinenden Regelungen hinsichtlich des Herkunftsprinzips usw. beseitigt sind, sodass völlig klar ist, dass unser Berufsfeld aus der Dienstleistungsrichtlinie nunmehr heraus ist.

Aber es wäre brandgefährlich, sich jetzt zurückzulehnen und zu glauben, dass wir ein für allemal von ähnlichen Dingen verschont bleiben. Nein, die Europäische Union wird eine eigene Richtlinie erlassen, welche die Dienstleistungen der Heilberufe regelt. Wir sind nur aus der großen Richtlinie heraus, aber wir werden so sicher wie das Amen in der Kirche eine eigene Richtlinie bekommen. Entscheidend ist, dass der Oberbegriff nicht etwa Arztmobilität lautet, sondern Patientenmobilität. Dieses reziproke Verhalten von Patienten und Ärzten oder anderen medizinischen Berufen wird von der Kommission wieder nur unter der Überschrift Patientenmobilität gesehen.

Deswegen ist es so wichtig, dass wir uns in Europa engagieren und dass wir ganz klar dafür eintreten, dass wir Prinzipien des Arztrechts, der Berufsordnung, wie wir sie kennen, in diese Dienstleistungsrichtlinie für Ärzte bekommen. Anderenfalls geschehen solche Dinge, wie Herr Voigt sie eben völlig zu Recht geschildert hat, dass ein Arzt, der zu dreieinhalb Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wurde, weil eine Patientin gestorben ist, mit einer belgischen Approbation versucht, bei uns wieder zu arbeiten. Das ist grotesk, liebe Kolleginnen und Kollegen. So etwas können wir aber nur verhindern, wenn wir dort mitarbeiten.

Oder nehmen Sie die Arbeitszeitrichtlinie. Sie alle wissen, dass sie sich noch immer im Abstimmungsprozess befindet. Es ist für uns Deutsche außerordentlich wichtig, dass wir hier aufpassen. Ich war der Bundesgesundheitsministerin gestern für einen einzigen Satz während der Eröffnungsveranstaltung dankbar, nämlich für ihre Aussage: Es wird über den 31. Dezember 2006 hinaus mit Sicherheit keine Verlängerung der Übergangsbestimmungen des deutschen Arbeitszeitgesetzes mehr geben, sondern dann gilt das Arbeitszeitgesetz in seiner jetzigen Fassung pur.

(Beifall)

Das ist ein wichtiger Satz, Kolleginnen und Kollegen, denn die Europäische
Union versucht längst schon wieder, die Standards zurückzuschrauben. Das liegt gar nicht mehr allein an Deutschland, sondern das liegt auch an anderen Ländern. Wenn wir das vorher in trockenen Tüchern haben, wenn wir das vorher in Deutschland festgemauert in der Erden haben, dann kann uns das nichts ausmachen.

Ich glaube sogar: Das wird unter deutscher Regie geschehen. Die österreichische Ratspräsidentschaft ist sehr mit Fragen der Erweiterung der Europäischen Union beschäftigt. Sie wird diese Fragen nicht anpacken. Es folgt die finnische Präsidentschaft. Sie hat hier ihre eigene Meinung und wird das Problem ebenfalls nicht anpacken. Aber im ersten Halbjahr 2007 hat Deutschland die Ratspräsidentschaft inne. Ich kann mir vorstellen, dass es dann gelingt, eine Einigung im Ministerrat herbeizuführen.

Deswegen ist es wichtig, dass wir uns in Europa engagieren, um das so lange wie möglich hinauszuzögern und um sicherzugehen, dass in unserem Lande diese Dinge gut geregelt werden.

Schließlich möchte ich den Bereich E-Health ansprechen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das, was wir uns hier an Debatte über die Patientenkarte leisten, können Sie, in der europäischen Dimension noch um die elektronische Patientenakte erweitert, und das unter dem Blickwinkel von 25 Staaten, erleben. Das Chaos ist total. Hier bedient sich die Europäische Union immer häufiger des Verfahrens, das Klaus-Dieter Wurche richtig geschildert hat, nämlich der Offenen Methode der Koordinierung. Das heißt nichts weiter als ein Verfahren der brutalen Beschleunigung dieser Prozesse. Das, was Sie aus deutschen Gesetzgebungsverfahren kennen, läuft dort jetzt auch. Wir bekommen schlicht und einfach die Mitteilung, in kürzester Zeit sollen wir uns zu irgendwelchen hochkomplexen Dingen äußern. Man erhält zwei Beratungstermine, dann geht es in den Ministerrat. Dann steht die Richtlinie vor der Tür.

Wir müssen uns mehr und verstärkt organisieren, damit so etwas nicht geschieht. Dazu müssen wir erst einmal dafür sorgen, dass Deutsche in diese Gremien gelangen.

Ein letztes Beispiel. Die Europäische Union bereitet gegenwärtig eine Generalrenovierung des gesamten Pharmamarktes vor. Dazu sind drei Arbeitsgruppen gebildet worden. Die eine Arbeitsgruppe versucht, eine Patienteninformation über Pharmaka zu erstellen. Die zweite Arbeitsgruppe versucht, die Pharmakovigilanzsysteme, also die Monitoringsysteme für unerwünschte Nebenwirkung von Arzneimitteln, zu koordinieren. Da ist es einfach wichtig, dass wir es schaffen, die von der Ärzteschaft aufgebauten funktionierenden Systeme der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft in die europäische Ebene zu bringen, weil die Engländer und Franzosen eine staatliche Lösung vor Augen haben, weil sie in diesem Bereich nur staatliche Lösungen kennen.

Wir haben im Ständigen Ausschuss der Europäischen Ärzte eine Dachorgani­sation, mit der wir berechtigterweise oft unzufrieden sind. Es ist nämlich unendlich mühsam, die Meinungen von 25 Staaten zu koordinieren. Wir müssen diesen Problemen dadurch begegnen, dass wir uns noch mehr in diesen Gremien engagieren, indem wir noch mehr dafür tun, auch dadurch, dass wir beispielsweise beim Haushalt dafür sorgen, dass der deutsche Beitrag zu diesen Gremien ausreichend hoch ist.

Ich wäre froh, wenn ich mit diesem Plädoyer, das in seiner Emotionalität vielleicht etwas stärker war als das, was Sie sonst von mir gewohnt sind, erreicht hätte, mehr Menschen dazu zu bewegen, sich in Europa zu engagieren.

Vielen Dank.

(Beifall)

Vizepräsident Dr. Crusius: Vielen Dank, Monti, für das klare Statement pro Europa. Diese Emotionalität sind wir von dir durchaus gewöhnt. Die Patientensicherheit wäre ein weiteres Thema gewesen. Das ist ja in Europa en vogue. Dies nur als kleine Ergänzung.

Als nächster Redner bitte Herr Thierse.

© 2006, Bundesärztekammer.