Prof. Dr. Dr. h. c. Jörg-Dietrich Hoppe, Präsident der
Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages: Damit sind die
Präliminarien abgehandelt. Wir treten in die Abwicklung der Tagesordnung ein.
Als erster Redner bin ich zu einem kurzen Grundsatzreferat vorgesehen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren Bundestagsabgeordneten!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich heiße Sie hier am
Fuße des Funkturms, des Wahrzeichens des freien Berlins, herzlich willkommen.
Der Funkturm war lange das Symbol für Freiheit und Demokratie in der geteilten
Stadt. Im Gegensatz zur Verlautbarungs- und Verkündungspolitik des Ostens stand
der Sender Freies Berlin für kritischen Journalismus und Meinungsfreiheit, er
stand für Tatsachen und nicht für Täuschung, Verschleierung oder Irreführung.
(Beifall)
Meine Damen und Herren, vor uns liegt nun ein
Gesetzesreformentwurf, der sich zwar "GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz" nennt,
der aber alles, aber wirklich auch alles, festschreibt, um genau das Gegenteil
zu erreichen, nämlich unser Gesundheitswesen mit Volldampf in die Staatsmedizin
zu führen.
(Lebhafter Beifall)
Da, liebe Kolleginnen und Kollegen, erlaube ich mir zu fragen,
ob das nicht Täuschung, Verschleierung und Irreführung ist.
(Beifall)
Eigentlich hatte ich gehofft, dass diese Zeiten endlich vorbei
sind. Aber da habe ich mich täuschen lassen, da haben sich offensichtlich viele
täuschen lassen. Umso größer ist die mittlerweile eingetretene Verbitterung bei
uns allen.
Wie anders lässt es sich erklären, dass unsere Kolleginnen und
Kollegen, die sonst eher dafür bekannt sind, in Klinik und Praxis Überstunden
zu kloppen, wie man so schön sagt, immer wieder, und zwar tausendfach auf die
Straße gehen? Wie anders ist es zu erklären, dass über 80 Prozent der deutschen
Bevölkerung gegen diese Reform votiert? Wie anders ist es zu erklären, dass all
die Menschen, die im Gesundheitswesen arbeiten und damit das Gesundheitswesen
ausmachen, diese Reform ausnahmslos ablehnen?
Ich denke, so kann man und so darf man nicht an den Menschen
vorbeiregieren, meine Damen und Herren.
(Anhaltender lebhafter Beifall)
Da wird ein ehemals freiheitliches Gesundheitssystem in eine
staatsmedizinische Form mit Einheitsversicherung gepresst und dann auch noch
mit dem Etikett "Wettbewerbsstärkung" versehen. Da wird Selbstverwaltung durch
Staatsbürokratie ersetzt und Therapiefreiheit durch Zuteilungsmedizin. Das
Ganze, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist nichts anderes als eine
zentralistisch gesteuerte Rationierungsmedizin!
(Beifall)
Was man davon zu halten hat, ist vor dreieinhalb Jahren auf
dem außerordentlichen Deutschen Ärztetag 2003 hier in Berlin wie folgt
formuliert worden - ich bitte Sie, jetzt genau zuzuhören -:
Wer versucht, von oben und durch Zentralismus das System
zu steuern, wird immer wieder Schiffbruch erleiden und letztlich bei einer
Zuteilung unten bei Ihnen
- gemeint sind wir -
enden. Deshalb gibt es keine Alternative zur Therapiefreiheit,
zur freien Arztwahl, zum Wettbewerb der Krankenkassen. In der Konstellation der
Kräfte zwischen Krankenkassen, Kassenärztlicher Vereinigung, Krankenhäusern und
Pharmaindustrie darf auch nicht ein einziger Teilnehmer am Wettbewerb mit
Überverantwortung ausgestattet werden, der alle anderen Teilnehmer am
Wettbewerb knebeln kann. In diesem Feld muss vielmehr ein Gleichgewicht der
Kräfte herrschen.
Soweit die damalige Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion
und heutige Bundeskanzlerin Frau Dr. Angela Merkel.
(Zurufe - Pfiffe)
Eigentlich, meine Damen und Herren, müsste man dem nichts mehr
hinzufügen, wären dem in der Gesundheitspolitik auch Taten gefolgt. Aber statt
- wie in der Regierungserklärung versprochen - "mehr Freiheit zu wagen", heißt
es nun: Der Staat hat das Sagen.
Die Fundamente eines bürgernahen Gesundheitswesens werden
zerschlagen, um darauf eine oligarchisch geprägte Ministerialbürokratie auf
Bundesebene zu errichten, die dann offensichtlich einen nationalen
Gesundheitsdienst nach britischem Vorbild mit Wartelistenmedizin und
Leistungsausschlüssen aufbauen soll.
(Zuruf: Hört! Hört!)
Aber wollen das die Bürgerinnen und Bürger? Alle Umfragen in
diesem Land bestätigen, dass sie keine Medizin nach Gutdünken des
Finanzministers wollen. Die Menschen wollen eine gute Medizin haben, sie wollen
gute Ärztinnen und Ärzte haben und sie wollen am medizinischen Fortschritt
teilhaben können. Deshalb auch brauchen wir ärztliche Fortbildung und
Qualitätssicherung nach medizinischen Notwendigkeiten und nicht nach
staatlichen Begehrlichkeiten.
(Beifall)
Wir sind keine Staatsmediziner und wir sind auch keine
Rationierungsassistenten!
Gemeinsam mit den Pflegeberufen, den Physiotherapeuten, den
Arzthelferinnen und den anderen überaus engagierten Gesundheitsberufen stehen
wir ein für ein bedarfsgerechtes Gesundheitswesen. Und deshalb wollen wir diese
Reform nicht. Denn diese Reform löst keine Probleme - diese Reform schafft
Probleme, ja, sie ist das Problem!
(Beifall)
Ich glaube jeder spürt, dass hier aus reinem machtpolitischen
Kalkül etwas auf dem Altar der Großen Koalition geopfert werden soll, dem nichts
Besseres folgen wird.
Meine Damen und Herren, es sind bei Weitem nicht nur die
Oppositionsparteien im Deutschen Bundestag, die diese Reform ablehnen. Viele
Abgeordnete der Regierungskoalition selbst haben höchste Zweifel, ob sie damit
ihrer Verantwortung für die Zukunft unseres Gesundheitswesens gerecht werden.
Aber wie es aussieht, soll die Fraktionsdisziplin sie zwingen, Entscheidungen
vielleicht sogar wider besseres Wissen mitzutragen. Aus ethischer Sicht, meine
Damen und Herren, grenzt das eigentlich an Gewissensnötigung.
(Beifall)
Ich appelliere deshalb an die verantwortlichen Politikerinnen
und Politiker der Großen Koalition: Nehmen Sie die Sorgen und Nöte der
Mitmenschen in unserem Lande ernst, kehren Sie zu den Sachfragen zurück und
drücken Sie endlich, wie man heute so schön sagt, den Resetknopf im
Gesundheitswesen - denn diese Reform braucht keiner, sie schadet allen!
(Beifall)
Meine Damen und Herren, ein Gesetz, insbesondere ein Gesetz
von dieser Tragweite, mit dem Themenkomplex, der so hoch emotional besetzt ist,
kann nicht sachgerecht diskutiert werden, wenn es in einem solchen, wie ich
sagen darf, Schweinsgalopp durchgepeitscht wird. Es sind Fristen gesetzt
worden, die eine kritische Analyse nicht zugelassen haben. Das war politischer
Aktionismus pur nach der Devise: Bloß kein Sachverstand. Das Ergebnis ist
dementsprechend niederschmetternd.
(Beifall)
Die Selbstverwaltung im Gesundheitswesen wird, wie gesagt,
zerstört, um eine staatsmedizinische Bürokratie aufzubauen. Aber diese
Selbstverwaltung ist nie Selbstzweck gewesen. Sie hat Sachverstand in die
Entwicklung unseres Gesundheitswesens gebracht und war Garant dafür, dass das
Gesundheitssystem sich immer wieder mit den tatsächlichen Prioritäten und den
Problemen der Betroffenen und dem tatsächlichen Bedarf der Patientinnen und
Patienten auseinandersetzen musste. In Zukunft aber wird der Staat allein und
im Wesentlichen nach Haushaltslage den Beitragssatz ausrufen und ein
sogenannter Spitzenverband Bund die Verantwortung für Mangelversorgung in einem
ruinösen Preiswettbewerb an uns Ärztinnen und Ärzte abgeben. Ist es das, meine
Damen und Herren von der Politik, was Sie unter Wettbewerb verstehen? Wir jedenfalls
nicht.
(Beifall)
Sie schaffen auf der einen Seite mit diesem Spitzenverband
einen absoluten Monopolisten, atomisieren aber zugleich die andere Seite, indem
Sie die Kassenärztlichen Vereinigungen beschädigen. Glauben Sie allen Ernstes,
dass Sie damit den Wettbewerb stärken? Wir Ärztinnen und Ärzte werden auf
diesen politisch gewollten Systemwechsel reagieren und unsererseits die
Systemfrage stellen. Man muss ja nicht unbedingt Vertragsärztin oder
Vertragsarzt sein.
(Lebhafter Beifall - Zuruf: Ab nach Mallorca!)
Und dann haben Sie noch eine unterstaatliche
Regulierungsbehörde errichtet, die zwar noch Gemeinsamer Bundesausschuss heißt,
de facto aber als Behörde für Zuteilungsmedizin fungiert.
(Beifall)
Er wird maßgeblich über die Verteilung sich verringernder
Ressourcen entscheiden und über Maßnahmen der Qualitätskontrolle die
Leistungsmenge steuern. Das ist dann keine Selbstverwaltung mehr, das ist
tatsächlich durchgereichter Staatsdirigismus pur, den wir eben kategorisch
ablehnen.
(Beifall)
Diese geplante staatsmedizinische Abwicklung unseres
Gesundheitswesens wird die flächendeckende Versorgung der Patientinnen und
Patienten - bisher ein weltweit hoch anerkanntes und unbestrittenes
Qualitätsmerkmal des deutschen Gesundheitswesens - nachhaltig zerstören. Wenn
das System ambulanter Versorgung zerschlagen wird, wird sich die Patientin und
der Patient wie vor 50 Jahren - daran kann ich mich sogar noch erinnern - vor
einer Behandlung erkundigen müssen, ob der Arzt oder die Ärztin des Vertrauens
einen Vertrag mit der eigenen Krankenkasse besitzt.
(Zuruf: Hört! Hört!)
Geradezu perfide ist das Täuschungsmanöver mit einer
vermeintlich festen Euro-Gebührenordnung für die Vertragsärztinnen und
Vertragsärzte.
(Beifall)
Hatte man zunächst noch den Eindruck, das sei ein ernsthafter
Versuch, aus der chronischen Unterfinanzierung des ambulanten Bereichs von 30 Prozent
herauszukommen, so wurde doch sehr schnell klar, dass die Budgets de facto
fortgeschrieben werden. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat schon irgendwie
den Geschmack einer politischen Intrige.
(Beifall)
Um die Marktbereinigung im stationären Sektor zu beschleunigen
- Krankenhausschließungen sind ja offensichtlich ein Markenzeichen des
Wettbewerbs -, wird den Krankenhäusern ein Sonderopfer von einer halben
Milliarde Euro abverlangt, pro Jahr wohlgemerkt. Mit dieser Zwangsabgabe aber
wird die Zahl der Entlassungen von Personal aus den Krankenhäusern steigen und
werden die Versorgungskapazitäten weiter abgebaut.
War in der Begründung zum
Referentenentwurf noch von der großen Herausforderung angesichts des
demografischen Wandels zu lesen, so folgt dem im eigentlichen Gesetzestext die
Anleitung zum Kahlschlag in der Krankenhauslandschaft. Das hat mit
Zukunftssicherung unseres Gesundheitswesens nichts, aber auch gar nichts mehr
zu tun und zeigt mit erschreckender Deutlichkeit, welchen Stellenwert die Politik
künftig der Versorgung älterer Menschen beimisst - oder sie merkt es nicht. Und
das halten wir für schlichtweg skandalös.
(Beifall)
Es ist schon bittere Ironie, meine Damen und Herren, wenn nun
gerade mit einem sogenannten Wettbewerbsstärkungsgesetz der Wettbewerb zwischen
den Krankenversicherungen aufgehoben werden soll. Denn de facto - da darf man
sich trotz aller Verschleierungs- und Täuschungsversuche nichts vormachen
lassen - soll die private Vollversicherung auf Dauer abgeschafft und in eine Bürgerversicherung
überführt werden. Alle Linien sind gelegt, um dieses Ziel zu erreichen. Ein
Blick nach Holland reicht aus, um zu wissen, wie man so etwas macht und wie das
bei uns auch genau eingestielt ist. Dann werden wir das in fünf bis sieben
Jahren bei uns genauso haben.
(Beifall)
Diesem Zweck dienen der Basistarif mit Kontrahierungszwang und
das Verbot der Risikoprüfung, zu dem das Gesetz alle PKV-Unternehmen
verpflichtet. Das Alternativmodell einer auf Kapitaldeckung basierenden
Krankenversicherung wird demontiert, um den Weg freizumachen für eine staatlich
kontrollierte Einheitszwangsversicherung.
Wenn das Wettbewerb ist, meine Damen und Herren, dann bin ich
auch bereit, zu glauben, dass alle Gesetzentwürfe, die es zuvor als
Arbeitsentwürfe gegeben hat, zuvor tatsächlich nicht mit der Leitung des Hauses
abgestimmt waren.
(Beifall)
Aber wer glaubt das schon?
Meine Damen und Herren von der Großen Koalition, Sie haben
sich da in eine Sackgasse hineinmanövriert. Besser wäre es, ehrlich zu sagen:
So geht's nicht, wir gehen noch einmal zurück und wir versuchen, mit allen
Beteiligten und Betroffenen das jetzige System konstruktiv weiterzuentwickeln
und zukunftssicher zu machen.
(Beifall)
Ich möchte hier nur einige Punkte nennen, über die man
durchaus diskutieren könnte, etwa über die Verbreiterung der Einnahmebasis der
GKV nach der tatsächlichen Leistungsfähigkeit des Versicherten, die
sozialverträgliche Erweiterung der Eigenbeteiligungsformen oder auch die
kostenfreie Familienversicherung nur noch für erziehende Elternteile. Man
müsste diskutieren, ob es nicht sinnvoll ist, auch innerhalb der GKV ein System
der Alterungsrückstellungen etwa durch einen Gesundheitssoli sowie einen
demografiebezogenen Ausgleichsfaktor über die Krankenversicherung der Rentner
einzuführen. Vor allem ist die Politik selbst gefordert, den Missbrauch der GKV
durch Ausweitung versicherungsfremder Leistungen sowie durch die sogenannten
Verschiebebahnhöfe endlich zu beenden.
(Beifall)
Das alles sind Projekte, die Sie gemeinsam mit uns entwickeln
könnten. Da haben Sie uns, da haben Sie alle im Gesundheitswesen Beschäftigten
und die Kranken an Ihrer Seite. Wir sind bereit, uns einzubringen, konstruktiv
und vor allem sachgerecht, damit wir die Probleme offen und ehrlich diskutieren
- wir verschweigen sie ja nicht - und dann auch gemeinsam handeln können. Zum
Beispiel in einem Bundesgesundheitsrat, den es früher schon einmal gegeben hat,
könnten wir sachgerecht und transparent politische Entscheidungen im
vorpolitischen Raum vorbereiten, Prioritäten unter sozialen, ethischen, ärztlichen
sowie medizinisch-gesundheitswissenschaftlichen Kriterien entwickeln und dann
mit allen betroffenen Gruppen öffentlich diskutieren.
Das, meine Damen und Herren, wäre die Dialogkultur, die wir im
Gesundheitswesen brauchen statt einer zentralistischen Kommandomedizin!
(Beifall)
Haben Sie den Mut, einen Neuanfang zu wagen - mit uns und
nicht gegen uns.
Denn auch das sollten Sie bedenken: Sie werden mit diesem
Gesetz keine neue Rechtswirklichkeit erzwingen können. Das Gehirn der Menschen
kann man nicht durch Gesetz ausschalten.
(Beifall)
Sie brauchen Akzeptanz, um die Rahmenbedingungen ändern zu
können, und Sie brauchen das Engagement der Gesundheitsberufe, um die Prozesse
der Gesundheitsversorgung aufrechterhalten zu können. Deshalb appelliere ich an
Sie als verantwortliche Politiker der Regierungskoalition: Zerstören Sie nicht
das Vertrauen in unser Gesundheitswesen und stoppen Sie diese Reform aus
Verantwortung für Deutschland!
Vielen Dank.
(Anhaltender lebhafter Beifall - Zurufe: Bravo! -
Die Delegierten erheben sich)
- Vielen herzlichen Dank.
Ich begrüße jetzt auch den Herrn stellvertretenden
Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion des Deutschen Bundestages, Herrn
Wolfgang Zöller. Herzlich willkommen!
(Beifall)
Ich darf Ihnen auch gleich das Wort erteilen und Sie um Ihre
Ausführungen bitten. Bitte schön, Herr Abgeordneter Zöller.
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