Statements

Dienstag, 24. Oktober 2006, Vormittagssitzung

Dr. Frank Ulrich Montgomery, Vorsitzender des Marburger Bundes: Herr Präsident Jörg Hoppe! Herr Vorsitzender Köhler! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind im Moment in einer ganz besonderen, in einer einmaligen und von mir in dieser Weise noch nie erlebten politischen Situation: Da gibt es eine Regierung, die gegen den Rat aller Fachleute, gegen den Rat allen Sachverstands in einer Großen Koalition ein Gesetzesvorhaben einfach durchsetzt. Das ist ein Handeln wider den Verstand.

(Beifall)

Je größer die Reform, je komplexer die Details, je gravierender die Auswirkungen, desto mehr bräuchte eine Regierung doch gerade den Sachverstand derjenigen, die etwas von der Materie verstehen. Diese Regierung aber geht den entgegengesetzten Weg.

Meine Damen und Herren, die Elefanten entscheiden politisch, zurück bleibt eine Schneise der Verwüstung und Zerstörung.

(Beifall)

Zerstört wird ein System von Selbstverwaltung, Wahlfreiheit und Autonomie - ohne dass Verbesserungen auch nur im Ansatz zu erkennen wären.

Und deswegen ist diese Gesundheitsreform für uns alle ein Dokument des politischen Starrsinns. Die Politik handelt wider die Vernunft, wider ihre eigenen Aussagen und wider die Notwendigkeiten. Machterhalt prägt das Denken, nicht Zuwendung zum Patienten und seinen Bedürfnissen.

(Beifall)

Diese Reform ist auch ein Dokument gebrochener Wahlversprechen. Das Gesundheitswesen sollte besser werden. Stattdessen bekommen wir staatliche Bevormundungsmedizin und Chaos in den Organisationen.

Diese Reform ist aber auch ein Dokument der politischen Lüge. Die Koalition war angetreten, die Beitragssätze zu senken und die Gesundheitskosten von den Lohnkosten abzukoppeln. Das Gegenteil geschieht nun. Unverfrorener kann man ein Volk nicht belügen: Die Beitragssätze steigen, abgekoppelt wird gar nichts, der Bürger zahlt den Politikern die Zeche. Jeder Bürger zahlt mit seinen Sozialbeiträgen für den Machterhalt von Merkel und Müntefering.

(Beifall)

Diese Reform, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist auch ein Dokument der Sprachverdrehung. Es erinnert an Orwells Buch "1984". Dort wird die Behördensprache "Neusprech" kreiert. Im "Neusprech" beinhaltet das Wort das Gegenteil seiner bisherigen Bedeutung. Und so ist das "Wettbewerbsstärkungsgesetz" in Wirklichkeit ein Wettbewerbsverhinderungsgesetz. Und so ist die beschworene Stärkung der Eigenverantwortung in Wirklichkeit staatlich-ministerielle Bevormundung und die Beitragsentlastung in Wirklichkeit ein Rollgriff ins Portemonnaie der Bürger.

(Beifall)

Diese Reform ist auch ein Dokument der Verluderung politischer Sitten.

(Beifall)

Da wird, liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Arbeitsentwurf, mit der Leitung des Hauses nicht abgestimmt, aus dem Ministerium an die Öffentlichkeit lanciert und die Ministerin stellt sich breit grinsend hin und behauptet, den Entwurf kenne sie gar nicht. Das Spiel wiederholt sich noch zweimal.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, früher traten Minister zurück, wenn Indiskretionen aus ihrem Hause kamen. Heute wird der politische Vertrauensbruch zum Stilmittel der Politik gemacht. Das ist eine Verluderung der politischen Sitten!

(Beifall)

In einem Satz: Diese Reform ist ein Dokument des Verrats an allen Prinzipien. Wer hätte gedacht, dass in einer großen CDU-SPD-Koalition eine noch leistungs- und patientenfeindlichere Gesundheitspolitik möglich ist als unter Rot-Grün zuvor! Macht korrumpiert eben - und nur darum geht es den politisch Handelnden, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Zuruf: So ist es!)

Der Fortbestand einer Großen Koalition, der Machterhalt von Müntefering und Merkel ist mir egal. Ich will keine Große Koalition um jeden Preis, aber ich will ein funktionsfähiges Gesundheitswesen. Ich will Qualität, Leistung und Gesundheit statt staatlicher Bevormundungsmedizin, Bürokratiegängelung und Politkommissaren - seien sie nun schwarz oder rot, ich will sie beide nicht!

(Beifall)

Aber wir dürfen nicht nur klagen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir müssen endlich auch einmal klar sagen, was wir denn vorzuschlagen hätten. Und da hilft es nicht weiter - das ist meine Erfahrung aus den Debatten der letzten 20 Jahre -, immer nur auf die Korrektur am bestehenden System zu verweisen. Damit begeben wir uns selbst in die Falle der Kostendämpfung durch Feintuning am bestehenden System.

Inzwischen wissen wir: Das System selbst ist das Problem. Das System der umlagefinanzierten Krankenversicherung auf der Basis von in abhängiger Beschäftigung erwirtschafteten Beiträgen ist tot, meine Damen und Herren, mausetot!

(Beifall)

Diese Reform ist nur ein weiterer Versuch der Reanimation einer - zugegeben: noch recht warmen - Leiche. Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen wir selber endlich eigene, bessere Vorschläge machen. Zehn Punkte müssen wir anpacken, zehn Fragen beantworten:

Erstens. Soll es eine Einbeziehung aller Bürger in eine obligate Krankenversicherung geben? Anders ausgedrückt: Wollen wir eine Versicherungspflicht für alle statt einer Pflichtversicherung nur für Arbeitnehmer?

Zweitens. Sollen alle Einkommensarten einbezogen werden? Sicher, ja, aber wie? Soll die Krankenkasse zu einem zweiten Finanzamt werden? Nein, meine Damen und Herren, da helfen nur prämienbasierte Versicherungen.

Drittens. Soll es eine Parität der Arbeitgeber in den Gremien der Krankenkassen geben? Was haben die da zu suchen? Sie sind doch nur an niedrigen Beitragssätzen, nicht aber an Gesundheit interessiert.

Viertens. Soll der Arbeitgeberbeitrag ausgezahlt werden oder weiter als eigener Posten aufgeführt werden? Natürlich soll er ausgezahlt werden. Dann nimmt er an den Steigerungen der Löhne und Gehälter teil und die Arbeitgeber hätten die Legitimation verloren, in den Selbstverwaltungsgremien der Krankenkassen vertreten zu sein.

Fünftens. Soll es eine beitragsfreie Familienmitversicherung geben? Wenn ja, für wen? Für alle Kinder und Ehepartner ohne eigene Arbeitstätigkeit oder nur für Kinder?

Sechstens. Sollen die Beiträge über eine arbeitseinkommensunabhängige Umlage oder über personenorientierte Prämien erhoben werden? Meine Damen und Herren, nur über eine einkommensunabhängige Prämie schaffen wir eine wirkliche Abkopplung von den Lohnkosten.

(Beifall)

Siebtens. Wenn Prämien vorgesehen sind: In welchem Umfang soll versicherungstechnisch und inwieweit "solidarisch" kalkuliert werden? Meine Damen und Herren, niemand kann sich in einem Prämiensystem eine absolut freie Marktwirtschaft vorstellen. Es wird immer staatliche Vorgaben bei der Kalkulation geben müssen, wie beim Kontrahierungszwang für die Krankenkassen.

Achtens. Brauchen wir Elemente der Kapitaldeckung und, wenn ja, in welchem Umfang? Natürlich brauchen wir die Kapitaldeckung, nicht für alles, aber doch für alles Wichtige, vor allem aber für unsere Kinder und Kindeskinder, damit ihnen ein Gesundheitswesen erhalten bleibt, das auch ihren Kindern nutzt und nicht nur ihren alten Eltern.

(Beifall)

Neuntens. Soll der Solidarausgleich über interne Verrechnungswege wie bei der heutigen GKV, die natürlich von Politikern per Gesetz festgelegt werden, erfolgen oder über politisch verantwortete Steuerfinanzierung? Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen die Einheit von Verantwortung und Handeln wiederherstellen. Die gewählten Repräsentanten unseres Volkes müssen wieder direkt verantwortlich gemacht werden für Leistungsentscheidungen und Leistungsverweigerungen. Es muss aufhören, dass es so leicht ist, unbequeme Entscheidungen einfach auf uns Ärzte abzuschieben.

(Beifall)

Zehntens. Findet weiterhin eine Umverteilung zulasten junger Menschen und zugunsten älterer Mitbürger statt? Wir müssen mit diesem Betrug an unserer Jugend aufhören. Wenn es nicht endlich gelingt, die Sozialsysteme zukunftsfest zu machen, werden sich junge Menschen gegen uns und gegen den Staat entscheiden. Dann haben wir alle verloren, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Am Ende wird hoffentlich allen klar - daran sollten wir alle gemeinsam arbeiten -: Wir brauchen den Wechsel zu einem System einer prämienbasierten Volksversicherung. Anders kommen wir nicht weiter.

Schutz, Versicherung und Gesundheit für alle, das brauchen wir; diese Reform brauchen wir nicht!

(Beifall)

Prof. Dr. Dr. h. c. Jörg-Dietrich Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages: Vielen Dank, Frank Ulrich Montgomery. - Die nächste Rednerin ist Frau Sabine Rothe. Sie vertritt das Bündnis Gesundheit 2000, in dem 38 Berufe organisiert sind. Bitte, Frau Rothe.

© Bundesärztekammer 2006