Prof. Dr. Norbert Klusen, Vorstandsvorsitzender der
Techniker Krankenkasse: Sehr geehrter Herr Hoppe! Meine Damen und Herren!
Ich bedanke mich sehr herzlich für die Einladung. Wenn ein Krankenkassenchef zu
einer derartigen Veranstaltung wie einem außerordentlichen Deutschen Ärztetag
eingeladen wird, muss die Lage wirklich ernst sein.
(Beifall)
Ich darf Ihnen bestätigen: Es ist ernst. Ob es für Sie oder
für meine Krankenkasse ernst ist, spielt nicht die entscheidende Rolle, sondern
die Tatsache, dass es ernst ist für die Menschen, für die Patienten in diesem
System.
Wenn ich heute gern hierher gekommen bin, dann nicht deshalb,
um mich anzubiedern, um zu kumpeln. Das wäre auch unglaubwürdig, das passt gar
nicht in die Rolle, die wir ständig, in welchem System auch immer, zu spielen
haben. Wir werden immer miteinander verhandeln müssen. Wir werden immer weniger
bezahlen wollen, als Sie haben wollen. Die Lösung ist das Ergebnis von Verhandlungen
und einer kritischen, hartnäckigen Auseinandersetzung. Am Ende steht ein
Vertrag und der muss eingehalten werden. Er gibt Ihnen die Möglichkeit, zu
arbeiten, und uns die Möglichkeit, unseren Versicherten, den Patienten, die
Versorgung bezahlen zu können.
Es ist wichtig, dass wir uns in einer solchen Zeit auf eine
gemeinsame Basis besinnen. Gemeinsam ist uns, dass wir keine Staatsmedizin
wollen. Auch wenn der eine oder andere Politiker sagt, er wisse gar nicht, was
das ist - Herr Hoppe hat recht: Die Konstruktion dieses Gesundheitsfonds und
diese Reform führen in die Staatsmedizin, führen zu einer stärkeren
Rationierung. Was sind denn staatlich festgelegte Beitragssätze, ein Modell,
das sich bei der Rentenversicherung in den vergangenen Jahrzehnten sehr stark
"bewährt" hat? Das ist Staat, mehr Staat.
Stolz sagt man: Wir nehmen den Krankenkassen die
Finanzautonomie weg. Die Politiker sagen: Wir machen es besser als
Organisationen, die in einem Wettbewerb, die unter Druck stehen. Vielleicht
behandeln sie letztendlich auch die Patienten, weil sie meinen, auch das
könnten sie besser. Das ist ja diese Überheblichkeit, die hier immer wieder
durchklingt.
(Beifall)
Dieser Fonds mit dem Ventil der kleinen Prämie führt aus der
ökonomischen Rationalität heraus dazu - es geht gar nicht anders, weil wir
sonst unsere Existenz gefährden würden -, dass wir einen gewissen Betrag aus
diesem Fonds bekommen und darüber liegt ein gigantischer
Risikostrukturausgleich, in den meine Kasse schon heute 4 Milliarden Euro
einzahlt, später noch mehr. Dann müssen wir schauen, dass wir keine oder nur eine
möglichst geringe Prämie erheben, weil bei einem Unterschied von auch nur
1 Euro die Versicherten die Krankenkasse wechseln würden. Wir werden nur
noch darauf fixiert sein und gar kein Interesse an einer guten und damit auch
teureren Versorgung mehr haben können. Diese können wir den Gesunden, die
bezahlen müssen, nicht verkaufen. Die Kranken wollen mit Recht eine gute
Versorgung haben und die Gesunden - so ist es nun einmal - wollen möglichst
wenig Beitrag zahlen. Deshalb ist dieser Schritt ein ganz starker Weg in die
Staatsmedizin.
Wir wollen keine Rationierung von medizinisch notwendigen
Leistungen. Aus dem, was ich eben erklärt habe, folgt aber, dass wir diese
Rationierung vornehmen müssen. Die Entwicklung wird in diese Richtung gehen.
Die ökonomischen Paradigmen sind genau so eingestellt. Die Politiker müssen ja
keine Leistungskürzungen vorsehen, sondern dieses Geschäft müssen wir für sie erledigen.
Man wird mit dem Finger auf uns zeigen und sagen: Wie schrecklich, was die so
machen, jetzt müssen wir vielleicht wieder gesetzgeberisch eingreifen!
Wir wollen ein finanzierbares Gesundheitssystem. Das bedeutet
ein System, in dem sich Leistung lohnt, in dem es auch Eigenverantwortung gibt.
Dazu stehe ich auch als Krankenkassenchef. Die Reform beginnt mit dem Entzug
von über 4 Milliarden Euro aus Steuermitteln, die man uns aus richtigen
ordnungspolitischen Gründen einmal gegeben hat. Gleichzeitig führt man eine
Diskussion darüber, dass man im Gesundheitssystem stärker über Steuern
finanzieren will.
Auch wenn es gerechtfertigt wäre, die Kinderbeiträge über
Steuern zu finanzieren, kann ich davor nur warnen; dann wird nämlich in diesem
System erst recht Politik nach Kassenlage gemacht, nach Lage des staatlichen
Haushalts betrieben. Dass dieser besonders seriös wäre, kann man ja nicht
sagen.
Bei "seriös" fällt mir ein: Es gibt nicht 250 Krankenkassen,
die verschuldet sind. Keine Krankenkasse darf sich verschulden; das wäre
rechtswidrig. Ein Teil der Krankenkassen ist unter politischem Druck in diese
Situation hineingerutscht, was an sich schon ein Skandal ist. Ich hätte mein
Amt lieber zur Verfügung gestellt, als auch nur 1 Euro Schulden zur
Finanzierung des laufenden Geschäfts der Techniker Krankenkasse aufzunehmen.
Das täte ich auch heute noch, wenn ich in diese Situation käme.
(Beifall)
Auch von höchsten Stellen wird mit platten Argumenten
gearbeitet. Die Bundeskanzlerin sagte kürzlich: Wir haben die Reform nicht für
die Krankenkassen gemacht - ich füge hinzu: Das habe ich auch nicht erwartet -,
sondern für die Menschen. Die Menschen aber lehnen diese Reform ab. Für welche
Menschen hat man denn diese Reform gemacht? Für die Patienten? - Die
Verbesserung der Palliativversorgung hätte man auch anders regeln können. Für
die Versicherten? - Billiger wird es nicht, sondern es wird teurer. Es wird
Beitragserhöhungswellen geben. Für die Menschen in der Großen Koalition? -
Schon eher.
(Beifall)
Wofür hat man diese Reform eigentlich gemacht? Sicher nicht
für das Volk und nicht für die Menschen im Lande. Es gibt in diesem Gesetzentwurf
auch ein paar gute Dinge, aber das hätte man auch anders regeln können.
Diese Reform ist zum Teil leider auf Stammtischniveau gemacht
worden, wer immer das zu verantworten hat. Piercings und Tattoos sind nicht
unser Problem. Was soll das denn? Wenn sich jemand beim Tätowieren eine
Hepatitis C zuzieht, wird er anschließend nicht auf Kosten der Kasse behandelt,
sondern das muss er privat liquidieren. Er muss sehen, ob er von dieser Seite
etwas bekommt.
Wenn sich einer vollfrisst oder säuft, bekommt er alles
bezahlt. Aber wenn sich jemand ein Tattoo machen lässt, weil es dem Zeitgeist
entspricht, und dadurch eine Infektion entsteht, oder wenn er es wieder
entfernt haben will, bezahlt es die Kasse schon heute nicht. Das sind also
keine Kostenfaktoren.
Die Prämie von 8 Euro konnte sich nur jemand einfallen
lassen, der nicht einmal die Grundrechenarten beherrscht.
(Beifall)
Anderenfalls hätte man gewusst, dass das überhaupt nicht
funktioniert. Das sagen mir auch Politiker, das sagen mir auch Beamte, aber sie
dürfen es natürlich nicht laut sagen. Jeder, der die "Brillanz" dieser
großartigen Reform kritisiert, vor allem wenn es ein Krankenkassenchef ist,
wird anschließend sehr heftig kritisiert, oft auch mit sehr platten Argumenten.
Trotzdem: Auch wenn die Kritik polemisch vorgetragen wird, sie ist sachlich
richtig.
Das Gesundheitssystem ist das größte Problem, das wir in
Deutschland haben. Nicht, dass es nicht reformbedürftig wäre -
selbstverständlich ist es das -, aber das darf doch nicht auf diese Art und
Weise geschehen.
Die Situation wurde von manchen Politikern, von Menschen, die
anderes im Sinne hatten, gut vorbereitet, indem seit Jahren zu meinem großen
Bedauern die medizinische Versorgung in Deutschland schlechtgeredet wurde. Ich
kann Ihnen hier einen Vorwurf nicht ersparen: Sie hätten sich mehr dagegen
wehren müssen.
(Beifall)
Ich habe dies Ärztevertretern oft gesagt, auch vor Kurzem
Herrn Hoppe, Ärztekammerpräsidenten und anderen wichtigen Personen aus Ihrer
Sphäre. Da ist man vielleicht zu vornehm und zu anständig gewesen. Man hätte
auch vieles widerlegen können. Ständig gibt es Studien, wonach im Vergleich zu
uns Schweden ein tolles Gesundheitssystem hat, wonach Großbritannien hervorragende
Ergebnisse im Vergleich zu uns liefert. Sogar Sansibar hat uns irgendwo einmal
überholt.
Da kommt immer dieses saudumme Beispiel vom Golf und dem
Mercedes: dass wir einen Golf erhalten, aber einen Mercedes bezahlen. Manchmal
sind Wissenschaftler dabei, die das mit unsäglichen Untersuchungen
unterstützen, die aber falsche Kriterien anwenden, falsch rechnen, die nicht
das gesamte System beispielsweise auch hinsichtlich des Zugangs zu ihm werten.
(Beifall)
Sie haben ständig auf den Lippen: Golf statt Mercedes. Jeder
Politiker, der das erste Mal über das Gesundheitswesen spricht und lernt, dass
das vorne mit einem großen G geschrieben wird, hat dieses Beispiel parat. Es
ist immer verfügbar: Golf und Mercedes. Niemand von diesen käme auf die Idee,
sein Kind, wenn es krank würde und ins Krankenhaus müsste, in ein Krankenhaus nach
Schweden, Großbritannien oder Sansibar zu schicken.
(Beifall)
Vor allem Schweden wird beispielsweise von unserem
Finanzminister immer als Vorbild erwähnt.
Wir brauchen eine neue Dialogkultur, auch zwischen Ärzten und
uns Krankenkassen. So wie bisher geht es nicht weiter. Wir sind immer
miteinander im Gespräch gewesen. Es hat nicht immer nur die harten
Verhandlungen gegeben, nicht nur die öffentlichen Anfeindungen und
Beschimpfungen.
Ich kann niemanden behandeln; dafür brauchen wir Sie. Wir
müssen mit Ihnen Verträge machen. Nicht eine Krankenkasse versorgt die Menschen
- ich mag diesen Begriff "Versorgerkasse" nicht, obschon er auch auf uns
zutreffen würde -, sondern diejenigen, die in diesem Gesundheitssystem die
kranken Menschen heilen, pflegen und behandeln: die Ärzte, die Krankenhäuser.
Vielen Dank.
(Beifall)
Prof. Dr. Dr. h. c. Jörg-Dietrich Hoppe, Präsident
der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages: Vielen Dank, Herr
Professor Klusen, für Ihre Ausführungen, auch zu der Gegenwehr, die wir immer
versucht haben, die aber zu dem Zeitpunkt keine großen Chancen hatte.
Mittlerweile hat ein zumindest in der Szene sehr Bekannter gesagt, dass wir das
Gefühl hätten, einen Golf zu fahren, während wir in Wirklichkeit einen Mercedes
hätten und nur für einen Golf bezahlten. So ist es nun umgekehrt, nachdem eine
entsprechende Studie veröffentlicht wurde. So ändern sich die Zeiten.
Wir treten nunmehr in die Mittagspause ein. Wir treffen uns um
15 Uhr wieder.
Die Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung
kann sich im ersten Stock treffen.
Bisher vielen Dank.
(Unterbrechung)
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