Eröffnungsveranstaltung

Dienstag, 15. Mai 2007, Vormittagssitzung

Prof. Dr. Bruno Müller-Oerlinghausen: Verehrte Frau Bundesministerin! Sehr geehrter Herr Minister Laumann! Sehr geehrter Herr Präsident, lieber Herr Hoppe! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Für die uns zuteil gewordene hohe Auszeichnung darf ich mich im Namen der heute von Ihnen so großzügig Geehrten sehr herzlich bei Ihnen allen bedanken. Dieter Hildebrandt, der deutsche Kabarettist, hat bei einer solchen Gelegenheit einmal gesagt: Wie soll man sich nach einer Preisverleihung schon fühlen? - Ausgezeichnet.

Das gilt natürlich auch für uns; denn Sie, die Vertreter der verfassten Ärzteschaft, sprechen damit allen unseren ganz unabhängig voneinander entstandenen langjährigen Bemühungen um eine verbesserte Qualität, das heißt optimierte Wirksamkeit und Sicherheit der ärztlichen Tätigkeit - heute sagt man, glaube ich, in der Sprache der Leistungserbringer und -verbraucher: des ärztlichen Angebots -, Ihre Anerkennung aus - und das tut gut, täte jedem gut. Es gibt nämlich nur wenige Menschen, die nicht den Wunsch haben, von Zeit zu Zeit ihrer vermeintlichen Verdienste versichert zu werden. Deswegen danken wir Ihnen, Herr Hoppe, ganz besonders für Ihre ehrenden Worte.

Jemand hat einmal gesagt: Eine Laudatio ist eine Rede, die den Preisträger, sein Leben und Werk erklärt. Sie haben unsere narzisstischen Persönlichkeitsanteile sehr wirksam gestreichelt,
Herr Hoppe. Wir konnten uns in Ihrer Darstellung - zumindest partiell - selber wiederfinden.

Unser Dank gilt Ihnen allen, meine Damen und Herren, stellvertretend für die vielen ärztlichen Organisationen, die uns in unserer Arbeit nicht nur praktisch unterstützt, sondern vor allem immer wieder motiviert haben; denn jeder von uns kennt doch angesichts der zahlreichen Widerstände, die sich, wie ich sagen darf, Dynamikern wie uns notwendigerweise extern, aber auch intern entgegenstellen, dieses Gefühl des Ehrenamtlers: Wozu mache ich das überhaupt? Warum denke ich nicht einmal an meine Freiheit, an meine Freizeit, an meine Gesundheit und meine Familie?

Ich weiß nicht, ob Sie den Song von Judith Holofernes "Müssen nur wollen" kennen, in dem es heißt: Aber wenn ich könnte, wie ich wollte, würde ich gar nichts wollen; ich weiß aber, dass alle etwas wollen sollen.

Auch für den Motivationsschub, den Sie uns in solchen Depolarisationsmomenten gegeben haben, danken wir Ihnen. Wir sind uns natürlich auch bewusst, dass man, wie es Johann Gottfried Seume in seinem "Spaziergang nach Syrakus" ausdrückte, auf Billigung der Menschen nicht rechnen muss. "Sie errichten heute Ehrensäulen und brauchen morgen den Ostrazismus für den nämlichen Mann und für die nämliche Tat."

Ganz besonders haben wir unseren Lebenspartnern dankbar zu sein, die uns in unseren beruflichen und ehrenamtlichen Obsessionen, die ja wohl an den Rand von Persönlichkeitsstörungen reichen können,

(Heiterkeit - Beifall)

mit Geduld und Empathie ertragen haben, bis zum heutigen Tag. Meine Frau sagte jedenfalls vor ein paar Tagen spontan: Den Orden hätten sie eigentlich mir geben müssen!

(Beifall)

Meine Damen und Herren, Qualitätsmanagement erscheint per se gut. Da fühlt man sich alleweil auf dem rechten Weg. Aber in einer stillen Stunde wird auch dem Dynamiker klar, dass dieser eigentlich selbstverständliche Weg in Richtung einer weiteren Therapieoptimierung - in Zukunft hoffentlich auch mithilfe einer elektronischen Gesundheitskarte, die den derzeitigen Bedenken der Ärzteschaft hinsichtlich Sicherheit und Handhabbarkeit Rechnung trägt, die ich aber im Prinzip, wie Sie, Frau Ministerin, aus unserer diesbezüglichen Kooperation wissen, für eine unverzichtbare Innovation innerhalb der EU halte und auch für eine unabdingbare Voraussetzung für eine verbesserte Arzneitherapiesicherheit in der Zukunft -, dass also unsere so scheinbar selbstverständlichen Aktivitäten auch ihre immanenten Gefahren beinhalten, zum Beispiel die Gefahr der zunehmenden Abhängigkeit von standardisierten technischen Abläufen, die uns von unserer eigentlichen Aufgabe und Bestimmung entfernen lassen, die von der Liebe zum Patienten, zum realen Patienten definiert ist - Paracelsus hat das klar ausgesprochen - und die auch ohne eine spirituelle Ebene nicht mehr verbindlich definierbar erscheint.

Ich darf kurz Viktor von Weizsäcker aus seinem Buch "Arzt und Kranker" aus dem Jahre 1941 zitieren:

Unzweifelhaft ist eine Generation im Entstehen, welche einen Grad von Sachlichkeit und Technisierung erträgt, der die Jugend meiner und älterer Generationen um ihren Glauben an Geist und Liebe gebracht hätte. Der Gegensatz von Sachlichkeit und Liebe ist kein Widerspruch, aber ich halte ihn doch für eine immerwährende Gefahr und eine nie besiegte Aufgabe. Ich persönlich glaube nicht an die Liebe zur Sache, sondern ich glaube an die Liebe zum Menschen.

Hinzu kommt, meine Damen und Herren, dass in unserer globalisierten, neokapitalistischen Gesellschaft jede Technisierung und Standardisierung ein zusätzliches Gefahrenmoment impliziert, nämlich die Kontamination unserer ärztlichen Tätigkeit und unserer Motivationen mit sozioökonomischen und mit industriellen Interessen,

(Beifall)

insbesondere den Interessen der Aktionäre der pharmazeutischen Großindustrie. Sie mögen, meine Damen und Herren, vielleicht unter Bezug auf das heutige Ende der Eisheiligen sagen, das sei kein echtes Problem mehr, das sei eine abgestandene paranoide Marotte des Herrn Müller-Oerlinghausen, nachdem doch allgemein jetzt eine große Sensibilität für die nötige Transparenz potenzieller Interessenkonflikte entstanden sei.

Aber, meine Damen und Herren, mit unserer gefühlten Unabhängigkeit machen wir es uns doch, glaube ich, zu einfach. Wir müssen zur Kenntnis nehmen - auch hier auf einem Deutschen Ärztetag -, dass der Einfluss von "Big Pharma" weiter zunimmt und zunehmend raffinierter und subtiler und auf immer mehr gesellschaftlichen Ebenen, insbesondere auf der Patientenebene, realisiert wird. Nur ein Beispiel aus den USA, weil es auf diesem Ärztetag auch um die Kinder geht, über das die "New York Times" gerade berichtet hat: Mehr als eine halbe Million Kinder in den USA erhalten inzwischen atypische Neuroleptika, meist ohne zugelassene Indikation, zum Beispiel bei Essstörungen. In fünf Jahren haben die finanziellen Zuwendungen der entsprechenden Hersteller an Psychiater in Minnesota um das Sechsfache zugenommen. In diesen fünf Jahren sind die Verordnungen dieser Substanzen an Kinder um das Neunfache gestiegen.

Das geht einher mit dem Versuch, ständig neue, angeblich behandlungsbedürftige Krankheiten zu erfinden. Klaus Dörner schreibt dazu sinngemäß: Der Fortschritt in der Medizin erzeugt geradezu eine irrationale Angst vor jeder Art vor Krankheit, bis wir anfangen, unter unserer Gesundheit zu leiden. Während wir die echten Gefahren immer mehr in den Griff bekommen, wandeln sich jenseits einer gewissen Schwelle die Instrumente unserer Befreiung in Hilfsmittel unserer Erniedrigung.

Ich meine, meine Damen und Herren, wir müssen uns hier als Ärzteschaft noch offensiver, noch vernehmbarer zur Wehr setzen, auch um unsere Glaubwürdigkeit an anderen Orten der Auseinandersetzung zu bewahren.

Vor drei Jahren hat bei dieser Gelegenheit eine Preisträgerin auf den Freiheitsdrang von Paracelsus hingewiesen, der dies so formuliert hat: Keines anderen Knecht sein, der eigener Herr sein kann.

(Beifall)

Deshalb meine ich, dass sich weder Universitätsvertreter noch Funktionsträger der verfassten Ärzteschaft an repräsentativer Stelle in engem Schulterschluss mit Vertretern oder Ghostwritern von "Big Pharma" darstellen sollten,

(Beifall)

weder in Veranstaltungen noch in Publikationen; denn das ist das falsche Signal.

Peter Sloterdijk sagte in seinem Interview in der "Spiegel"-Ausgabe zum Gedenken an Hegel vor Kurzem mit Bezug auf die Attac-Kämpfer:

Sie begreifen mehr oder weniger explizit, dass nicht der Zweck die Mittel heiligt, sondern dass die Mittel die Wahrheit über den Zweck sagen.

Ich meine, in diesem Sinne, meine Damen und Herren, sollten wir den chronischen Anbiederungen von "Big Pharma", wir säßen doch angeblich in einem Boot - nein, wir sitzen nicht in einem Boot -, die Stirn bieten. Ich wünschte mir in diesem Kontext auch noch mehr Anstrengungen, um zu einer wirklich pharmaunabhängigen - heute würde man sagen: gecleanten - ärztlichen Fortbildung zu kommen, die nämlich die Voraussetzung ist für ein Qualitätsmanagement in der Praxis und im Krankenhaus, das wirklich nur einem dient: dem Wohl der uns vertrauenden Patienten.

Nochmals, meine Damen und Herren, Dank an Sie alle. Nietzsche schrieb einmal: Die einen werden durch Lob schamhaft, die anderen frech. Ich hoffe, ich war nicht zu frech, sonst bitte ich um Ihre Nachsicht. Wir, die vier Geehrten, fühlen uns eher leicht beschämt ob der unerwarteten großen Ehrungen.

Vielen Dank.

(Beifall)

(Musikalisches Intermezzo: Bona Sera (Louis Prima);
Let's Get Loud (Gloria Estefan))

© Bundesärztekammer 2007