Prof. Dr. Dr. Nagel, Referent: Sehr geehrter Herr
Vorsitzender! Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Mittwoch, 9. Mai 2007, San Francisco: Der amerikanische
Transplantationskongress, das internationale Ereignis wissenschaftlicher
Fachgesellschaften, um sich über Fortschritte im Bereich der Stammzellforschung
und Organtransplantation auszutauschen. Bei strahlendem Sonnenschein werden die
Besucher des Convention Center aber nicht von einem freundlichen "How are you?"
begrüßt, sondern von bedrückenden Bildern auf Transparenten, gehalten von einer
großen Gruppe traurig und verstört dreinblickender Menschen, die anklagen: die
vermeintliche illegale Organentnahme in China bei verfolgten Bürgern, die als
Anhänger der Falun-Gong-Bewegung festgenommen worden sein sollen. Es geht dabei
nicht um die Religionsfreiheit, sondern konkret um den Missbrauch menschlicher
körperlicher Integrität, um den Missbrauch menschlichen Lebens zum Zwecke eines
weltweit verbotenen, aber doch wohl immer wieder praktizierten Organhandels.
Diese Szenerie habe ich vor einem Jahr schon einmal auf einer
internationalen Transplantationstagung erlebt. Das Thema stand auch beim
Weltbioethikkongress im Sommer 2006 in Peking im Mittelpunkt.
Die Botschaften der Europäischen Union sind den Vorwürfen
nachgegangen, ohne konkrete Beweise für die erhobenen Klagen eruieren zu
können. Aber keiner der Besucher in San Francisco geht unbeeindruckt an diesen
Bildern vorbei, weiß er doch, dass auf den Philippinen, in Kolumbien, in China
oder anderen Ländern durchaus Organhandel vorkommt und dass trotz der internationalen
und nationalen Gesetzgebung ein Missbrauch der potenziell segensreichen
medizinischen Behandlungsmöglichkeit nicht verhindert werden konnte.
So sind die Themen auf diesem Kongress, die sich neben den
spezifischen wissenschaftlichen Beiträgen vor allem auch mit der
Organtransplantation als gesellschaftlicher Aufgabe beschäftigen, kaum anders
als jene, die heute hier zur Diskussion stehen: Was kann getan werden gegen
einen persistierenden Organmangel? Etwa 6 200 Patienten auf den
US-amerikanischen Wartelisten sterben jährlich; die Lebendspende hat in den
letzten Jahren deutlich zugenommen; es gibt alle Formen der möglichen Spende,
selbst in einen anonymen Pool - aber auch hier ist festzustellen, dass die
Zahlen rückläufig sind.
Die "New York Times" zeichnet einen Fall nach, in dem ein
Empfänger aus New York einen Spender aus Brasilien in Südafrika zur Operation
getroffen hat, vermittelt durch eine Institution in Israel.
Im Bundesstaat South Carolina wurde gerade eine
Gesetzesinitiative abgelehnt, die im Parlament ernsthaft diskutiert wurde: Für
Inhaftierte sollte es 180 Tage Reduktion ihrer Gefängnisstrafe geben, wenn
sie bereit wären, sich für eine anonyme Nierenspende testen zu lassen, sechs
Monate sogar in dem Fall, dass die Organentnahme stattgefunden hätte.
In diesem Kontext ist klar: Auch in einem Land wie den USA
hängt der Zugang zur Organtransplantation von der Frage der Zahlungsfähigkeit
ab, also vom Versicherungsstatus, von der Region, in der man erkrankt, und
davon, inwieweit die Ärzte Erfahrung haben mit der Indikation zur
Transplantation. Neueste Untersuchungen zeigen, dass der Wohnort den größten
Effekt auf die Chance zur Aufnahme auf die Warteliste und zur Transplantation -
und damit zum Überleben - hat. Im Hinblick auf die Zahlungsfähigkeit und den
Versicherungsstatus wird noch angefügt, dass einige Krankenversicherungen
überlegen, die teureren Operationen im Ausland durchführen zu lassen, natürlich
unter dem Aspekt der Qualitätssicherung, aber im Hinblick auf das Organ
vielleicht dann doch mit einer Akzeptanz eines zu zahlenden Betrags an den
Organspender, was in den USA verboten ist.
So wird der Ruf auch in den USA nach dem Gesetzgeber laut.
Gleichzeitig aber bleiben viele Fragen offen, deren Klärung der
wissenschaftlichen Gemeinschaft nur schwer möglich ist.
Mittwoch, 16. Mai 2007, Münster: Deutscher Ärztetag.
Diskutiert werden soll über die aktuellen Fragen in der Transplantationsmedizin
zehn Jahre nach der Verabschiedung des Transplantationsgesetzes und angesichts
der schon in San Francisco zur Sprache gekommenen Aspekte.
Zuerst einmal und im Nachgang zum Referat von Herrn Professor
Lilie könnte man meinen, im Rückblick auf die Gesetzgebung in unserem Land und
die Praxis der Organtransplantation sollten wir uns freuen können: Die
festgeschriebenen Strukturen des Transplantationsgesetzes haben sich ganz
offensichtlich bewährt. Es besteht Rechtssicherheit in diesem Land, es besteht
eine bundeseinheitliche Warteliste, die es jedem Mitbürger ermöglicht, ganz
unabhängig von dem Ort seines Wohnens, mit dem Anrecht auf die Vorstellung bei
einem Transplantationszentrum ausgestattet, eine faire Chance zur Evaluation
und schlussendlich zu einer möglichen Transplantation zu erhalten.
Das Verbot des Organhandels ist nach aller Kenntnis in diesem
Land sowohl vor dem Inkrafttreten des Gesetzes wie auch danach zu 100 Prozent
eingehalten worden. Es besteht durch die Berichtspflicht der verantwortlichen
Institutionen eine Transparenz, die ihresgleichen im Medizinbetrieb sucht. Das
gilt auch für die Qualitätssicherung und das Qualitätsmanagement.
Und doch: Es mag keine rechte Freude aufkommen. Das hat wohl
weniger zu tun mit generellen Bedenken gegenüber dem medizinisch-technischen
Fortschritt, wie er in anderen Kontexten immer wieder einmal geäußert wird.
Bertolt Brecht hat es einmal mit dem Satz auf den Punkt gebracht: "Es weiß seit
langer Zeit niemand mehr, was ein Mensch ist." Unsere gängige Vorstellung des Lebens,
des Menschseins, wurde sicherlich durch den medizinisch-technischen Fortschritt
und nicht zuletzt durch die Transplantationsmedizin infrage gestellt. Aber
verändert die Möglichkeit des Klonens, der Stammzellforschung, der Beschreibung
der biochemischen Struktur des menschlichen Genoms, der Chance der
Intensivmedizin, der Interventionsmöglichkeit für moderne Medikamente auch
unsere Weltanschauungen und Wertvorstellungen?
Sicher kann eine solche Frage zuerst einmal eindeutig mit Nein
beantwortet werden. Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, die Anwendung
unseres Wissens unter spezifischen Zielsetzungen ändert unter Umständen doch
unsere Wertvorstellung. Diese Zielsetzungen sind immer Ausdruck dessen, was wir
erreichen wollen, was wir zu schützen gedenken, was wir für wertvoll halten. Im
Hinblick auf unser Menschsein stehen wir, wie in allen anderen Bereichen des
Lebens, immer stärker unter der Frage einer Wertvorstellung: Ist der Mensch ein
Individuum, das aus seiner Natur heraus einen spezifischen, nicht
quantifizierbaren Wert in sich trägt, oder aber ist es erlaubt, vom
Humankapital zu sprechen, so wie wir es in anderen Kontexten immer wieder tun?
Inwieweit ist der medizinische Fortschritt primär unter dem Aspekt der
Kostenentwicklung zu sehen? Inwieweit neigen wir dazu, in einem Klima
sogenannter Kostenexplosion den medizinischen Fortschritt insgesamt infrage zu
stellen?
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, wo ist die Freude geblieben, die Freude über die erfolgreiche
Behandlung eines kranken Menschen, über die Weiterentwicklung von
diagnostischen Möglichkeiten durch technischen Fortschritt, über die
Faszination, mit einem herz-lungen-transplantierten Kind im Rehabilitationszentrum
Ederhof in Stronach über den Berg laufen zu können und sich selbst zu fragen,
inwieweit man ausreichend trainiert ist, um mit diesem zehnjährigen Buben
mitzukommen?
Als ein wesentliches Argument für die Steigerung der Zahl von
Nierentransplantationen wird der Vergleich mit den höheren Kosten der
Dialysebehandlung herangezogen - ein trauriges Beispiel, dass finanzieller
Fortschritt - oder besser gesagt: die Optimierung der Bilanzen - wichtiger zu
sein scheint als das individuelle lebensqualitätsgeprägte Ergebnis:
existenzielle Not im Nutzenkalkül - menschliche Existenz unter materieller
Bewertung.
(Beifall)
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es scheint evident zu
sein, dass die Mischung aus einer zunehmenden Ökonomisierung der Lebenswelten
und die nicht abreißenden Berichte über den Missbrauch technologischer
Entwicklungen, zum Beispiel im Kontext des Organhandels und der
Transplantation, längst fruchtbaren Nährboden für Ängste und Sorgen in der
Öffentlichkeit gefunden haben. Dabei haben sich durch die mit großer Mehrheit
erfolgten Vereinbarungen zum deutschen Transplantationsgesetz die von Herrn
Lilie angesprochenen Institutionen wie die Ständige Kommission
"Organtransplantation" bei der Bundesärztekammer, die Deutsche Stiftung
Organtransplantation oder Eurotransplant in Leiden etabliert, die einen
sinnvollen und vernünftigen Rahmen unterschiedlichster Kompetenz bilden und als
ein gelungenes Beispiel für ärztliche Verantwortung in gesellschaftlichem
Kontext angesehen werden können.
Die jederzeit nachvollziehbaren, transparent dargestellten
Aktivitäten im gesamten klinischen Bereich - all das hat diese Ängste und
Sorgen aber nicht vertreiben, Vertrauen nicht ausreichend begründen können. Wer
nur effektheischenden journalistischen Voyeurismus oder schlicht die Angst vor
der Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod verantwortlich macht für den
geringen Grad an Organspendeausweisen in diesem Lande oder für die beachtliche
Quote an Ablehnungen durch Angehörige nach erfolgter Hirntoddiagnostik, der
macht es sich wohl zu einfach. Denn das zeigen eine ganze Reihe von
Untersuchungen: Es gibt zahlreiche andere Gründe dafür, dass die Organspende in
Deutschland sich nicht so entwickelt hat, wie es in anderen Ländern
feststellbar ist.
Zuallererst - speziell vor diesem Auditorium - muss die Frage
gestellt werden, ob durch die hauptverantwortliche Berufsgruppe, dass heißt
durch die Ärztinnen und Ärzte, also durch uns, alles dafür getan wird, dass die
Organspende so intensiv wie möglich umgesetzt wird.
Immer wieder wird davon berichtet, dass nach der
Todesursachenstatistik weit mehr potenzielle Organspender in unseren
Krankenhäusern sterben, als zur Evaluation gemeldet werden. Trotz aller
gesetzlichen Grundlagen und Ausführungsgesetze in einer Reihe von Bundesländern
- man kann ja fragen, warum es in Hessen, Mecklenburg-Vorpommern oder Bremen
Ausführungsgesetze gibt, in anderen Bundesländern aber nicht - bleibt dieses
Manko bestehen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ist es nicht ein Teil
des ärztlichen Behandlungsauftrags, eine Pflicht von uns handelnden Ärztinnen
und Ärzten, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um potenzielle Organspender zu
identifizieren oder zumindest zu eruieren, wie sie sich in dieser Situation
hätten entscheiden wollen? Die Statistiken zeigen deutlich die Möglichkeit
einer Verdoppelung einer Organspende allein durch eine solche umfassende
ärztliche Tätigkeit. Wäre es dementsprechend nicht notwendig, dass wir uns zur
laufenden Fort- und Weiterbildung verpflichten, damit offensichtliche inhaltliche
und organisatorische Mängel abgestellt werden können?
Wie kann es sein, dass ein etabliertes Fortbildungsprogramm,
das sogenannte European Donor Hospital Education Program, zu Beginn des Jahres
2007 einfach eingestellt wird, weil ungeklärt ist, wer für die Finanzierung der
Ausbildung von Ärztinnen und Ärzten, Schwestern und Pflegern auf der
Intensivstation aufkommt? In allen Leitlinien wird unmissverständlich
festgestellt, dass ökonomische Zwänge bei der Entscheidung über existenzielle
Not keine Berücksichtigung finden dürfen. Gleichzeitig werden aber immer wieder
Argumente vorgetragen, dass eine mangelnde finanzielle Aufwandsentschädigung
unter Umständen dafür ausschlaggebend sei, dass ein potenzieller Organspender
gar nicht erst evaluiert oder gemeldet wird.
Professionelle und organisatorische Problemstellungen nicht zu
lösen, bedeutet, den Konsequenzen keinen Wert beizumessen. Die Konsequenzen
sind aber bekannt: drei Patienten pro Tag sterben auf bundesdeutschen Wartelisten.
Die Zahlen der Organspender entwickeln sich nur schleppend - wenn überhaupt -
im positiven Sinne, und der Ruf nach dem Gesetzgeber wird laut, ohne dass ganz
offensichtlich die professionelle Verantwortung des Einzelnen ausreichend
übernommen worden ist.
So sind Ängste und Sorgen auch ein Korrelat zur Unsicherheit
und Unklarheit im ärztlichen Miteinander. Vielleicht werden auch deshalb gerade
dieser Tage Fragen besonders laut, die nach Gerechtigkeit oder Verteilung des
knappen Gutes "Organ" fragen und die thematisieren, ob unter Federführung der
deutschen Ärzteschaft Verteilungskriterien entwickelt und entschieden werden dürfen.
Wer, meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn nicht die Profession selbst,
kann über die Umsetzung der vorgegebenen Gerechtigkeitskriterien urteilen?
Ist der im Gesetz vorgeschriebene utilitaristische
Gedankengang - größtmöglicher Nutzen versus größtmögliche Gefährdung - und
damit die Zielsetzung, einen aggregierten Nutzen auf einzelne Individuen zu
verteilen, der einzig möglich denkbare? Sicher nicht, und insofern finden wir
heute eben eine intensive Diskussion über Egalitarismus, das heißt
Einmal-pro-Patient-Transplantation - was im Konflikt mit dem ärztlichen
Behandlungsauftrag zu einer unterlassenen Hilfeleistung führen könnte -, oder
aber über einen Libertarianismus, das heißt den Tausch von Organen mit
finanziellen Anreizsystemen.
Vorausgesetzt, man ändert den Standpunkt seiner
Wertvorstellungen hin zu einem materialistischen Welt- und Menschenbild, dann
gibt es durchaus Argumente, die einen sogenannten "geregelten Markt" zu einem
ethisch vertretbaren, theoretisch auszugestaltenden Modell bei der
Organverteilung werden lassen. Eine solche Veränderung in den Werturteilen hat
aber eindeutig Konsequenzen, beispielsweise beim Thema der aktiven Sterbehilfe.
Die zentrale Frage im Hinblick auf den Organmangel aber heißt für die Gegner
wie für die Befürworter solcher Gedankenspiele: Wie können die Ängste und
Sorgen verringert werden, wie kann die Bereitschaft zur Organspende gesteigert
werden?
Meine Damen und Herren, diese Frage sollte durchaus auch
andersherum gestellt werden: Was kann man tun, um die
Transplantationsnotwendigkeit zu reduzieren? Die Krankheiten, die die
Indikation für eine Transplantation zur Folge haben, gilt es präventiv
anzugehen und damit die Indikation so weit es geht zu reduzieren,
beispielsweise durch eine Impfung gegen Hepatitis oder Prävention vor
Alkoholmissbrauch, insbesondere der Jugend. Ein wirklich eindeutiges
Rauchverbot in der Öffentlichkeit hätte sicher auch eine positive Auswirkung auf
die Zahl der Indikationen zur Herztransplantation. Aber wir dürfen annehmen,
dass der medizinisch-technische Fortschritt auch diejenigen Patienten, die früher
nicht als transplantabel galten, in Zukunft zu potenziellen Organempfängern
macht - im positiven Sinne.
Heute profitieren auch über 65-jährige Dialysepatienten von
einer Nierentransplantation in aller Regel von einem Spender der gleichen
Altersgruppe. Die Zeiten, in denen man meinte, ein Organspender dürfe nicht
älter als 45 Jahre sein, sind lange vorbei. Der schlichte Ruf nach einer
Vermehrung der Lebendspende oder gar einer Gesetzgebungsmaßnahme, die
ungerichtete Lebendspenden möglich macht, scheint dementsprechend auch kein
probates Mittel unter ethischen Gesichtspunkten, um die Organknappheit dauerhaft
zu reduzieren.
Die Posteriorisierung der Lebendspende im
Transplantationsgesetz war 1997 unter ethischen Gesichtspunkten getroffen
worden, und zwar nicht unter der Maßgabe, dass dadurch unter Umständen der
Organhandel besonders gut kontrolliert werden könnte, sondern weil es dem
ärztlichen Behandlungsauftrag im Grundsatz widerspricht, an einem gesunden
Menschen einen mit Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko behafteten Eingriff
durchzuführen. Auch wenn die Zahlen gering sind - ohne Frage -, so bleibt das
potenzielle Risiko bei jedem einzelnen Spender. Dementsprechend sollte ein
solcher Eingriff ausschließlich dann durchgeführt werden, wenn kein geeignetes
postmortal zu entnehmendes Organ vorhanden ist.
Das bedeutet aber sehr wohl, dass es sinnvoll sein kann, sich
für eine Lebendspende zu engagieren und die Menschen darüber aufzuklären, dass
eine solche möglich und unter Umständen auch wünschenswert ist. Inwieweit dabei
eine persönliche Verbundenheit vorhanden sein sollte und dies von einer ungerichteten,
aber altruistischen Empfindungen folgenden anonymen Spende abgegrenzt werden
muss, ist nicht ethisch entscheidbar. Vielmehr ist die Sorge um den
potenziellen Missbrauch im Sinne einer Kommerzialisierung der Organspende das
wesentliche ethische Argument, den Kreis der Lebendspender transparent und
begrenzt zu halten.
Das ergibt sich auch aus den Leitlinien für die psychosoziale
Evaluation von lebenden, nicht verwandten Nierenspendern in den Vereinigten
Staaten, so wie sie in diesem Monat im "American Journal of Transplantation"
publiziert wurden. Ein geringeres Risiko für den Spender selbst ergibt sich
immer dann, wenn er eine Krankenversicherung hat, in gesicherten finanziellen
Verhältnissen lebt, etwas über die Risiken und die Vorteile für den Organempfänger
weiß, klar in seiner Vorstellung ist und keine Anamnese von schweren
persönlichen Verlusten aufweist, sondern im Gegenteil eine starke Unterstützung
aus der Familie genießt, und schlussendlich, wenn seine Motivation eine
altruistische ist.
Mit der altruistischen Motivation verbunden ist im originären
Sinne das Wort "Spende". Das Wort "Spende" wiederum charakterisiert das
Menschenbild, das hinter den Anfängen der Organtransplantation stand. Die
Wurzeln des ärztlichen Behandlungsauftrags im abendländischen Denken lassen
sich hier wiedererkennen: Es sind die hippokratischen und christlichen
Traditionen, die davon ausgehen, dass ärztliche Verordnungen niemals zum
Schaden, sondern immer zum Nutzen des Kranken angewandt werden, die ihn vor
Unrecht bewahren, sowie die Zuspitzung im mittelalterlichen Abendland, dass die
Sorge für die Kranken vor und über allem stehen muss. Der Kranke wird zum leidenden
Christus selbst, "denn was ihr einem dieser Geringsten getan habt, das habt ihr
ihm getan".
Nicht nur die Stellungnahmen der deutschen Kirchen machen dann
auch deutlich, dass Organspende eine Tat der Nächstenliebe über den Tod hinaus
sein kann. Dies entspringt der Wahrnehmung, dass der Mensch sein Organ nicht
erworben, sondern als Gabe und gleichzeitig als Aufgabe geschenkt bekommen hat.
Das, was man geschenkt bekommen hat, kann man wohl nach allgemein landläufigem
Verständnis auch nicht verkaufen.
Herr Lilie, hier haben wir einen deutlichen Dissens: Die
spanischen Bischöfe, die die wesentlichen Unterstützer der Organspende in ihrem
Land sind, und denen es wahrscheinlich zu danken ist, dass Spanien - auf die
Einwohnerzahl bezogen - die meisten Spenden in der Welt realisiert, haben es
dann auch auf den Punkt gebracht mit ihrer Wahrnehmung der Organspende, sie sei
der sichtbare Beweis, dass der menschliche Körper sterben, dass aber die Liebe,
die ihn hält, niemals sterben kann.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, eine solche Motivation
mag in einer säkularen Gesellschaft prima vista hinfällig werden. So ist es
wohl nicht verwunderlich, dass die Forderung nach einem moderierten Organhandel
auch in Deutschland von unterschiedlichen Stellen aufgenommen wurde; zuerst
natürlich unter dem liberalen Gesichtspunkt, jeder müsse doch selbst
entscheiden und selbst bestimmen können, was aus seinem Körper wird und was mit
ihm geschieht.
Aber: Organhandel in dem angesprochenen Sinne folgt der
bereits erwähnten ökonomischen Logik, stellt in den Mittelpunkt die
Beeinflussbarkeit menschlichen Handelns durch finanzielle Anreizsysteme, ist
überzeugt davon, dass lukrative Anreize in einem durch Mangel gekennzeichneten
Markt Probleme lösen können. Sie gehen am Ende davon aus, dass ein Organ einen
Warenwert hat. Aber was ist der wahre Wert? Wem gehört ein entnommenes Organ?
Wer darf daraus unter Umständen einen Nutzen erzielen?
Durch dieses ökonomische Kalkül, das sich letztendlich des
Utilitarismus und damit der Erzielung des größtmöglichen Nutzens durch ein
transplantiertes Organ bedient, sind Ängste und Sorgen bzw. mangelndes
Vertrauen in der Öffentlichkeit besonders gegründet. Es scheint in einer
ökonomisch ausgerichteten Welt geradezu undenkbar, dass die handelnden Personen
im Zusammenhang mit der Transplantation von lebenswichtigen Organen bei
bestehender Organknappheit nicht die lukrative Lücke schließen wollen, sondern
mit bestem Wissen und Gewissen demjenigen helfen, der nach den geltenden
Verteilungsregeln das Organ bekommen soll.
Dieses Misstrauen kommt auch zum Ausdruck in den zum Teil
heftigen Reaktionen gegen den kürzlich veröffentlichten Vorschlag des
Nationalen Ethikrats, ein Erklärungsmodell, unter Umständen gekoppelt mit einer
Widerspruchslösung, solle das jetzt gültige Transplantationsgesetz ablösen. Die
aufgeregten Stellungnahmen bezogen sich auf die Sorge, die bestehende Lücke
könnte ohne Zustimmung des Einzelnen geschlossen werden. Davon war niemals die
Rede. Ganz im Gegenteil: Die Stellungnahme des Nationalen Ethikrats beschreibt
es als eine ethisch relevante Aufgabe und Pflicht jedes Einzelnen in dieser
Gemeinschaft, sich mit den Konsequenzen des Organmangels auseinanderzusetzen -
nicht nur mit den Konsequenzen des Organmangels, sondern auch mit dem
medizinisch-technischen Fortschritt insgesamt, so wie er in das Leben von uns
allen eingreift.
Sorge, Ängste und Misstrauen sind auch dadurch bedingt, dass
eben dieser Fortschritt neue Aufgaben und Erschwernisse in unser Leben
hineintragen kann, beispielsweise wenn eben ein geliebter Angehöriger auf der
Intensivstation am Hirntod stirbt und damit unweigerlich die Frage verbunden sein
kann: Hat er bzw. sie sich einer Organspende gegenüber positiv geäußert, oder
stand er bzw. sie dem eher negativ gegenüber? Eine so schwere Frage in einer so
aussichtslosen Situation! Dennoch muss sie innerhalb kürzester Zeit beantwortet
werden. Das ist eine zusätzliche Belastung in einem Moment des Lebens, in dem
man die Last kaum tragen kann. Das kann doch kein Fortschritt sein? Da müssen
doch andere Interessen dahinterstehen, als nur einem anderen helfen zu wollen,
wo man doch meinem Angehörigen nicht mehr hat helfen können. Da scheint doch
dieser, der transplantiert werden soll, mehr wert zu sein als mein geliebtes
Gegenüber, das nun tot ist.
Wenn die moderne Medizin solche schwierigen Fragen stellt,
dann ist es notwendig, alle Menschen darauf vorzubereiten und ihnen klar und
eindeutig mitzuteilen: Ja, es kann sein, dass diese Frage gestellt wird, und es
ist gut, sich dann über diese Situation schon einmal Gedanken gemacht zu haben,
dann eine Antwort zu wissen oder zu ahnen, die die Kernfrage des Abschieds
nicht überdeckt oder aus dem Mittelpunkt nimmt.
Das, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist
Selbstbestimmung, die als solche empfunden werden kann. Darauf gründen sich die
Zunahme von Vertrauen und die Lösung von Ängsten. Konkretion ist nötig in einer
von Information überfluteten Gesellschaft, und es besteht die Chance, deutlich
zu machen, dass es tatsächlich noch andere Beweggründe gibt als finanzielle,
dass der menschliche Körper einen anderen Status hat als die Materie, dass das
Leben nicht bepreisbar ist. Dies sollte auch allen Ökonomen und Kollegen
eingängig sein, die sich an dieser Stelle mit ihren Vorschlägen zu finanziellen
Anreizsystemen nicht durch Querdenken oder Innovation, sondern durch eine
Verödung des Denkens auszeichnen.
Das Vertrauen kann also da geschaffen werden, wo auf die
Divergenz zwischen Utilitarismus und Nächstenliebe hingewiesen wird und sich
die Ärzteschaft in diesem Fall eindeutig positioniert: Eindeutigkeit nicht nur
im Hinblick auf die historischen Gesichtspunkte ihres Behandlungsauftrags,
sondern für eine bessere Zukunft. Dann spielt es auch keine Rolle, ob hinter
einem Erklärungsmodell eine erweiterte Zustimmungs- oder eine
Widerspruchslösung steht. Ohnehin wird von einer solchen gesetzlichen Regelung
kein wesentlicher Input für den Bereich der Organspende zu erwarten sein.
Mittwoch, 12. Mai 2010: Berlin, Deutscher Bundestag. Wieder
eine dieser wichtigen Debatten über die Grundlagen des Umgangs mit dem
medizinischen Fortschritt in unserer Gesellschaft durch den Gesetzgeber. Die
Europäische Union wünscht eine Gleichbehandlung aller Bürger unter
vergleichbaren Sicherheitsstandards mit menschlichen Organen. Es bleibt nur zu
hoffen, dass die Wirtschaftsgemeinschaft noch zur Wertegemeinschaft wird.
Der Prozess gestaltet sich schwierig, auch in diesem Fall. Die
Forderung scheint unrealistisch, auch an diesem Tag. Die meisten Abgeordneten
des Deutschen Bundestags sind sich weiter darüber einig, dass menschliche Organe
keine Ware sind und werden dürfen, dass Fairness und gleicher Zugang zuallererst
im überschaubaren Rahmen transparent geregelt und umgesetzt werden muss. In den
Redebeiträgen wird darauf hingewiesen, dass die positive Entwicklung der
Organspende und der Transplantation in der Bundesrepublik weitere Unterstützung
durch Aufklärungsarbeit und Transparenz braucht und dass es ein Zeugnis des
gemeinschaftlichen Demokratieverständnisses unseres Landes ist, denjenigen, die
in existenzieller Not sind, ohne Frage nach Herkunft, finanziellen
Möglichkeiten und persönlicher Weltanschauung beizutreten und sich als
Gemeinschaft für das Individuum einzusetzen, soweit es die
Selbstbestimmungsrechte jedes einzelnen Bürgers nicht konterkariert: Die
Feststellung, dass ein Patient pro Tag auf einer deutschen Warteliste
stirbt, motiviert alle Abgeordneten dazu, in den Anstrengungen der
Aufklärungsarbeit zur Prävention von schweren Organstörungen und zur Motivation
zur Organspende nicht nachzulassen.
Das würde ich mir wünschen für Mittwoch, den 12. Mai 2010.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall)
Vizepräsident Dr. Crusius: Vielen Dank, lieber
Herr Nagel, für die umfassende Darstellung aus ethischer, philosophischer und
chirurgischer Sicht. Danke auch für den Ausblick in die Zukunft. Sie haben
nicht gesagt, welche Koalition oder welche Partei dann an der Macht ist; das
wäre vielleicht etwas zu hellseherisch gewesen. Vielleicht gibt es auch einen
Gruppenantrag aller Abgeordneten im Deutschen Bundestag, sodass etwas
beschlossen wird, was wir uns erhoffen.
Meine Damen und Herren, wir kommen jetzt - wie angekündigt -
zu Herrn Dr. Liese und sein Statement zur Einschätzung der Organ- und
Gewebetransplantation aus Sicht des Europäischen Parlaments. Herr Dr. Liese,
bitte.
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