TOP II: Ethische Aspekte der Organ- und Gewebetransplantation

Mittwoch, 16. Mai 2007, Vormittagssitzung

Prof. Dr. Dr. Nagel, Referent: Sehr geehrter Herr Vorsitzender! Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mittwoch, 9. Mai 2007, San Francisco: Der amerikanische Transplantationskongress, das internationale Ereignis wissenschaftlicher Fachgesellschaften, um sich über Fortschritte im Bereich der Stammzellforschung und Organtransplantation auszutauschen. Bei strahlendem Sonnenschein werden die Besucher des Convention Center aber nicht von einem freundlichen "How are you?" begrüßt, sondern von bedrückenden Bildern auf Transparenten, gehalten von einer großen Gruppe traurig und verstört dreinblickender Menschen, die anklagen: die vermeintliche illegale Organentnahme in China bei verfolgten Bürgern, die als Anhänger der Falun-Gong-Bewegung festgenommen worden sein sollen. Es geht dabei nicht um die Religionsfreiheit, sondern konkret um den Missbrauch menschlicher körperlicher Integrität, um den Missbrauch menschlichen Lebens zum Zwecke eines weltweit verbotenen, aber doch wohl immer wieder praktizierten Organhandels.

Diese Szenerie habe ich vor einem Jahr schon einmal auf einer internationalen Transplantationstagung erlebt. Das Thema stand auch beim Weltbioethikkongress im Sommer 2006 in Peking im Mittelpunkt.

Die Botschaften der Europäischen Union sind den Vorwürfen nachgegangen, ohne konkrete Beweise für die erhobenen Klagen eruieren zu können. Aber keiner der Besucher in San Francisco geht unbeeindruckt an diesen Bildern vorbei, weiß er doch, dass auf den Philippinen, in Kolumbien, in China oder anderen Ländern durchaus Organhandel vorkommt und dass trotz der internationalen und nationalen Gesetzgebung ein Missbrauch der potenziell segensreichen medizinischen Behandlungsmöglichkeit nicht verhindert werden konnte.

So sind die Themen auf diesem Kongress, die sich neben den spezifischen wissenschaftlichen Beiträgen vor allem auch mit der Organtransplantation als gesellschaftlicher Aufgabe beschäftigen, kaum anders als jene, die heute hier zur Diskussion stehen: Was kann getan werden gegen einen persistierenden Organmangel? Etwa 6 200 Patienten auf den US-amerikanischen Wartelisten sterben jährlich; die Lebendspende hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen; es gibt alle Formen der möglichen Spende, selbst in einen anonymen Pool - aber auch hier ist festzustellen, dass die Zahlen rückläufig sind.

Die "New York Times" zeichnet einen Fall nach, in dem ein Empfänger aus New York einen Spender aus Brasilien in Südafrika zur Operation getroffen hat, vermittelt durch eine Institution in Israel.

Im Bundesstaat South Carolina wurde gerade eine Gesetzesinitiative abgelehnt, die im Parlament ernsthaft diskutiert wurde: Für Inhaftierte sollte es 180 Tage Reduktion ihrer Gefängnisstrafe geben, wenn sie bereit wären, sich für eine anonyme Nierenspende testen zu lassen, sechs Monate sogar in dem Fall, dass die Organentnahme stattgefunden hätte.

In diesem Kontext ist klar: Auch in einem Land wie den USA hängt der Zugang zur Organtransplantation von der Frage der Zahlungsfähigkeit ab, also vom Versicherungsstatus, von der Region, in der man erkrankt, und davon, inwieweit die Ärzte Erfahrung haben mit der Indikation zur Transplantation. Neueste Untersuchungen zeigen, dass der Wohnort den größten Effekt auf die Chance zur Aufnahme auf die Warteliste und zur Transplantation - und damit zum Überleben - hat. Im Hinblick auf die Zahlungsfähigkeit und den Versicherungsstatus wird noch angefügt, dass einige Krankenversicherungen überlegen, die teureren Operationen im Ausland durchführen zu lassen, natürlich unter dem Aspekt der Qualitätssicherung, aber im Hinblick auf das Organ vielleicht dann doch mit einer Akzeptanz eines zu zahlenden Betrags an den Organspender, was in den USA verboten ist.

So wird der Ruf auch in den USA nach dem Gesetzgeber laut. Gleichzeitig aber bleiben viele Fragen offen, deren Klärung der wissenschaftlichen Gemeinschaft nur schwer möglich ist.

Mittwoch, 16. Mai 2007, Münster: Deutscher Ärztetag. Diskutiert werden soll über die aktuellen Fragen in der Transplantationsmedizin zehn Jahre nach der Verabschiedung des Transplantationsgesetzes und angesichts der schon in San Francisco zur Sprache gekommenen Aspekte.

Zuerst einmal und im Nachgang zum Referat von Herrn Professor Lilie könnte man meinen, im Rückblick auf die Gesetzgebung in unserem Land und die Praxis der Organtransplantation sollten wir uns freuen können: Die festgeschriebenen Strukturen des Transplantationsgesetzes haben sich ganz offensichtlich bewährt. Es besteht Rechtssicherheit in diesem Land, es besteht eine bundeseinheitliche Warteliste, die es jedem Mitbürger ermöglicht, ganz unabhängig von dem Ort seines Wohnens, mit dem Anrecht auf die Vorstellung bei einem Transplantationszentrum ausgestattet, eine faire Chance zur Evaluation und schlussendlich zu einer möglichen Transplantation zu erhalten.

Das Verbot des Organhandels ist nach aller Kenntnis in diesem Land sowohl vor dem Inkrafttreten des Gesetzes wie auch danach zu 100 Prozent eingehalten worden. Es besteht durch die Berichtspflicht der verantwortlichen Institutionen eine Transparenz, die ihresgleichen im Medizinbetrieb sucht. Das gilt auch für die Qualitätssicherung und das Qualitätsmanagement.

Und doch: Es mag keine rechte Freude aufkommen. Das hat wohl weniger zu tun mit generellen Bedenken gegenüber dem medizinisch-technischen Fortschritt, wie er in anderen Kontexten immer wieder einmal geäußert wird. Bertolt Brecht hat es einmal mit dem Satz auf den Punkt gebracht: "Es weiß seit langer Zeit niemand mehr, was ein Mensch ist." Unsere gängige Vorstellung des Lebens, des Menschseins, wurde sicherlich durch den medizinisch-technischen Fortschritt und nicht zuletzt durch die Transplantationsmedizin infrage gestellt. Aber verändert die Möglichkeit des Klonens, der Stammzellforschung, der Beschreibung der biochemischen Struktur des menschlichen Genoms, der Chance der Intensivmedizin, der Interventionsmöglichkeit für moderne Medikamente auch unsere Weltanschauungen und Wertvorstellungen?

Sicher kann eine solche Frage zuerst einmal eindeutig mit Nein beantwortet werden. Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, die Anwendung unseres Wissens unter spezifischen Zielsetzungen ändert unter Umständen doch unsere Wertvorstellung. Diese Zielsetzungen sind immer Ausdruck dessen, was wir erreichen wollen, was wir zu schützen gedenken, was wir für wertvoll halten. Im Hinblick auf unser Menschsein stehen wir, wie in allen anderen Bereichen des Lebens, immer stärker unter der Frage einer Wertvorstellung: Ist der Mensch ein Individuum, das aus seiner Natur heraus einen spezifischen, nicht quantifizierbaren Wert in sich trägt, oder aber ist es erlaubt, vom Humankapital zu sprechen, so wie wir es in anderen Kontexten immer wieder tun? Inwieweit ist der medizinische Fortschritt primär unter dem Aspekt der Kostenentwicklung zu sehen? Inwieweit neigen wir dazu, in einem Klima sogenannter Kostenex­plosion den medizinischen Fortschritt insgesamt infrage zu stellen?

Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wo ist die Freude geblieben, die Freude über die erfolgreiche Behandlung eines kranken Menschen, über die Weiterentwicklung von diagnostischen Möglichkeiten durch technischen Fortschritt, über die Faszination, mit einem herz-lungen-transplantierten Kind im Rehabilitationszentrum Ederhof in Stronach über den Berg laufen zu können und sich selbst zu fragen, inwieweit man ausreichend trainiert ist, um mit diesem zehnjährigen Buben mitzukommen?

Als ein wesentliches Argument für die Steigerung der Zahl von Nierentransplantationen wird der Vergleich mit den höheren Kosten der Dialysebehandlung herangezogen - ein trauriges Beispiel, dass finanzieller Fortschritt - oder besser gesagt: die Optimierung der Bilanzen - wichtiger zu sein scheint als das individuelle lebensqualitätsgeprägte Ergebnis: existenzielle Not im Nutzenkalkül - menschliche Existenz unter materieller Bewertung.

(Beifall)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, es scheint evident zu sein, dass die Mischung aus einer zunehmenden Ökonomisierung der Lebenswelten und die nicht abreißenden Berichte über den Missbrauch technologischer Entwicklungen, zum Beispiel im Kontext des Organhandels und der Transplantation, längst fruchtbaren Nährboden für Ängste und Sorgen in der Öffentlichkeit gefunden haben. Dabei haben sich durch die mit großer Mehrheit erfolgten Vereinbarungen zum deutschen Transplantationsgesetz die von Herrn Lilie angesprochenen Institutionen wie die Ständige Kommission "Organtransplantation" bei der Bundesärztekammer, die Deutsche Stiftung Organtransplantation oder Eurotransplant in Leiden etabliert, die einen sinnvollen und vernünftigen Rahmen unterschiedlichster Kompetenz bilden und als ein gelungenes Beispiel für ärztliche Verantwortung in gesellschaftlichem Kontext angesehen werden können.

Die jederzeit nachvollziehbaren, transparent dargestellten Aktivitäten im gesamten klinischen Bereich - all das hat diese Ängste und Sorgen aber nicht vertreiben, Vertrauen nicht ausreichend begründen können. Wer nur effektheischenden journalistischen Voyeurismus oder schlicht die Angst vor der Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod verantwortlich macht für den geringen Grad an Organspendeausweisen in diesem Lande oder für die beachtliche Quote an Ablehnungen durch Angehörige nach erfolgter Hirntoddiagnostik, der macht es sich wohl zu einfach. Denn das zeigen eine ganze Reihe von Untersuchungen: Es gibt zahlreiche andere Gründe dafür, dass die Organspende in Deutschland sich nicht so entwickelt hat, wie es in anderen Ländern feststellbar ist.

Zuallererst - speziell vor diesem Auditorium - muss die Frage gestellt werden, ob durch die hauptverantwortliche Berufsgruppe, dass heißt durch die Ärztinnen und Ärzte, also durch uns, alles dafür getan wird, dass die Organspende so intensiv wie möglich umgesetzt wird.

Immer wieder wird davon berichtet, dass nach der Todesursachenstatistik weit mehr potenzielle Organspender in unseren Krankenhäusern sterben, als zur Evaluation gemeldet werden. Trotz aller gesetzlichen Grundlagen und Ausführungsgesetze in einer Reihe von Bundesländern - man kann ja fragen, warum es in Hessen, Mecklenburg-Vorpommern oder Bremen Ausführungsgesetze gibt, in anderen Bundesländern aber nicht - bleibt dieses Manko bestehen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ist es nicht ein Teil des ärztlichen Behandlungsauftrags, eine Pflicht von uns handelnden Ärztinnen und Ärzten, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um potenzielle Organspender zu identifizieren oder zumindest zu eruieren, wie sie sich in dieser Situation hätten entscheiden wollen? Die Statistiken zeigen deutlich die Möglichkeit einer Verdoppelung einer Organspende allein durch eine solche umfassende ärztliche Tätigkeit. Wäre es dementsprechend nicht notwendig, dass wir uns zur laufenden Fort- und Weiterbildung verpflichten, damit offensichtliche inhaltliche und organisatorische Mängel abgestellt werden können?

Wie kann es sein, dass ein etabliertes Fortbildungsprogramm, das sogenannte European Donor Hospital Education Program, zu Beginn des Jahres 2007 einfach eingestellt wird, weil ungeklärt ist, wer für die Finanzierung der Ausbildung von Ärztinnen und Ärzten, Schwestern und Pflegern auf der Intensivstation aufkommt? In allen Leitlinien wird unmissverständlich festgestellt, dass ökonomische Zwänge bei der Entscheidung über existenzielle Not keine Berücksichtigung finden dürfen. Gleichzeitig werden aber immer wieder Argumente vorgetragen, dass eine mangelnde finanzielle Aufwandsentschädigung unter Umständen dafür ausschlaggebend sei, dass ein potenzieller Organspender gar nicht erst evaluiert oder gemeldet wird.

Professionelle und organisatorische Problemstellungen nicht zu lösen, bedeutet, den Konsequenzen keinen Wert beizumessen. Die Konsequenzen sind aber bekannt: drei Patienten pro Tag sterben auf bundesdeutschen Wartelisten. Die Zahlen der Organspender entwickeln sich nur schleppend - wenn überhaupt - im positiven Sinne, und der Ruf nach dem Gesetzgeber wird laut, ohne dass ganz offensichtlich die professionelle Verantwortung des Einzelnen ausreichend übernommen worden ist.

So sind Ängste und Sorgen auch ein Korrelat zur Unsicherheit und Unklarheit im ärztlichen Miteinander. Vielleicht werden auch deshalb gerade dieser Tage Fragen besonders laut, die nach Gerechtigkeit oder Verteilung des knappen Gutes "Organ" fragen und die thematisieren, ob unter Federführung der deutschen Ärzteschaft Verteilungskriterien entwickelt und entschieden werden dürfen. Wer, meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn nicht die Profession selbst, kann über die Umsetzung der vorgegebenen Gerechtigkeitskriterien urteilen?

Ist der im Gesetz vorgeschriebene utilitaristische Gedankengang - größtmöglicher Nutzen versus größtmögliche Gefährdung - und damit die Zielsetzung, einen aggregierten Nutzen auf einzelne Individuen zu verteilen, der einzig möglich denkbare? Sicher nicht, und insofern finden wir heute eben eine intensive Diskussion über Egalitarismus, das heißt Einmal-pro-Patient-Transplantation - was im Konflikt mit dem ärztlichen Behandlungsauftrag zu einer unterlassenen Hilfeleistung führen könnte -, oder aber über einen Libertarianismus, das heißt den Tausch von Organen mit finanziellen Anreizsystemen.

Vorausgesetzt, man ändert den Standpunkt seiner Wertvorstellungen hin zu einem materialistischen Welt- und Menschenbild, dann gibt es durchaus Argumente, die einen sogenannten "geregelten Markt" zu einem ethisch vertretbaren, theoretisch auszugestaltenden Modell bei der Organverteilung werden lassen. Eine solche Veränderung in den Werturteilen hat aber eindeutig Konsequenzen, beispielsweise beim Thema der aktiven Sterbehilfe. Die zentrale Frage im Hinblick auf den Organmangel aber heißt für die Gegner wie für die Befürworter solcher Gedankenspiele: Wie können die Ängste und Sorgen verringert werden, wie kann die Bereitschaft zur Organspende gesteigert werden?

Meine Damen und Herren, diese Frage sollte durchaus auch andersherum gestellt werden: Was kann man tun, um die Transplantationsnotwendigkeit zu reduzieren? Die Krankheiten, die die Indikation für eine Transplantation zur Folge haben, gilt es präventiv anzugehen und damit die Indikation so weit es geht zu reduzieren, beispielsweise durch eine Impfung gegen Hepatitis oder Prävention vor Alkoholmissbrauch, insbesondere der Jugend. Ein wirklich eindeutiges Rauchverbot in der Öffentlichkeit hätte sicher auch eine positive Auswirkung auf die Zahl der Indikationen zur Herztransplantation. Aber wir dürfen annehmen, dass der medizinisch-technische Fortschritt auch diejenigen Patienten, die früher nicht als transplantabel galten, in Zukunft zu potenziellen Organempfängern macht - im positiven Sinne.

Heute profitieren auch über 65-jährige Dialysepatienten von einer Nierentransplantation in aller Regel von einem Spender der gleichen Altersgruppe. Die Zeiten, in denen man meinte, ein Organspender dürfe nicht älter als 45 Jahre sein, sind lange vorbei. Der schlichte Ruf nach einer Vermehrung der Lebendspende oder gar einer Gesetzgebungsmaßnahme, die ungerichtete Lebendspenden möglich macht, scheint dementsprechend auch kein probates Mittel unter ethischen Gesichtspunkten, um die Organknappheit dauerhaft zu reduzieren.

Die Posteriorisierung der Lebendspende im Transplantationsgesetz war 1997 unter ethischen Gesichtspunkten getroffen worden, und zwar nicht unter der Maßgabe, dass dadurch unter Umständen der Organhandel besonders gut kontrolliert werden könnte, sondern weil es dem ärztlichen Behandlungsauftrag im Grundsatz widerspricht, an einem gesunden Menschen einen mit Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko behafteten Eingriff durchzuführen. Auch wenn die Zahlen gering sind - ohne Frage -, so bleibt das potenzielle Risiko bei jedem einzelnen Spender. Dementsprechend sollte ein solcher Eingriff ausschließlich dann durchgeführt werden, wenn kein geeignetes postmortal zu entnehmendes Organ vorhanden ist.

Das bedeutet aber sehr wohl, dass es sinnvoll sein kann, sich für eine Lebendspende zu engagieren und die Menschen darüber aufzuklären, dass eine solche möglich und unter Umständen auch wünschenswert ist. Inwieweit dabei eine persönliche Verbundenheit vorhanden sein sollte und dies von einer ungerichteten, aber altruistischen Empfindungen folgenden anonymen Spende abgegrenzt werden muss, ist nicht ethisch entscheidbar. Vielmehr ist die Sorge um den potenziellen Missbrauch im Sinne einer Kommerzialisierung der Organspende das wesentliche ethische Argument, den Kreis der Lebendspender transparent und begrenzt zu halten.

Das ergibt sich auch aus den Leitlinien für die psychosoziale Evaluation von lebenden, nicht verwandten Nierenspendern in den Vereinigten Staaten, so wie sie in diesem Monat im "American Journal of Transplantation" publiziert wurden. Ein geringeres Risiko für den Spender selbst ergibt sich immer dann, wenn er eine Krankenversicherung hat, in gesicherten finanziellen Verhältnissen lebt, etwas über die Risiken und die Vorteile für den Organempfänger weiß, klar in seiner Vorstellung ist und keine Anamnese von schweren persönlichen Verlusten aufweist, sondern im Gegenteil eine starke Unterstützung aus der Familie genießt, und schlussendlich, wenn seine Motivation eine altruistische ist.

Mit der altruistischen Motivation verbunden ist im originären Sinne das Wort "Spende". Das Wort "Spende" wiederum charakterisiert das Menschenbild, das hinter den Anfängen der Organtransplantation stand. Die Wurzeln des ärztlichen Behandlungsauftrags im abendländischen Denken lassen sich hier wiedererkennen: Es sind die hippokratischen und christlichen Traditionen, die davon ausgehen, dass ärztliche Verordnungen niemals zum Schaden, sondern immer zum Nutzen des Kranken angewandt werden, die ihn vor Unrecht bewahren, sowie die Zuspitzung im mittelalterlichen Abendland, dass die Sorge für die Kranken vor und über allem stehen muss. Der Kranke wird zum leidenden Christus selbst, "denn was ihr einem dieser Geringsten getan habt, das habt ihr ihm getan".

Nicht nur die Stellungnahmen der deutschen Kirchen machen dann auch deutlich, dass Organspende eine Tat der Nächstenliebe über den Tod hinaus sein kann. Dies entspringt der Wahrnehmung, dass der Mensch sein Organ nicht erworben, sondern als Gabe und gleichzeitig als Aufgabe geschenkt bekommen hat. Das, was man geschenkt bekommen hat, kann man wohl nach allgemein landläufigem Verständnis auch nicht verkaufen.

Herr Lilie, hier haben wir einen deutlichen Dissens: Die spanischen Bischöfe, die die wesentlichen Unterstützer der Organspende in ihrem Land sind, und denen es wahrscheinlich zu danken ist, dass Spanien - auf die Einwohnerzahl bezogen - die meisten Spenden in der Welt realisiert, haben es dann auch auf den Punkt gebracht mit ihrer Wahrnehmung der Organspende, sie sei der sichtbare Beweis, dass der menschliche Körper sterben, dass aber die Liebe, die ihn hält, niemals sterben kann.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, eine solche Motivation mag in einer säkularen Gesellschaft prima vista hinfällig werden. So ist es wohl nicht verwunderlich, dass die Forderung nach einem moderierten Organhandel auch in Deutschland von unterschiedlichen Stellen aufgenommen wurde; zuerst natürlich unter dem liberalen Gesichtspunkt, jeder müsse doch selbst entscheiden und selbst bestimmen können, was aus seinem Körper wird und was mit ihm geschieht.

Aber: Organhandel in dem angesprochenen Sinne folgt der bereits erwähnten ökonomischen Logik, stellt in den Mittelpunkt die Beeinflussbarkeit menschlichen Handelns durch finanzielle Anreizsysteme, ist überzeugt davon, dass lukrative Anreize in einem durch Mangel gekennzeichneten Markt Probleme lösen können. Sie gehen am Ende davon aus, dass ein Organ einen Warenwert hat. Aber was ist der wahre Wert? Wem gehört ein entnommenes Organ? Wer darf daraus unter Umständen einen Nutzen erzielen?

Durch dieses ökonomische Kalkül, das sich letztendlich des Utilitarismus und damit der Erzielung des größtmöglichen Nutzens durch ein transplantiertes Organ bedient, sind Ängste und Sorgen bzw. mangelndes Vertrauen in der Öffentlichkeit besonders gegründet. Es scheint in einer ökonomisch ausgerichteten Welt geradezu undenkbar, dass die handelnden Personen im Zusammenhang mit der Transplantation von lebenswichtigen Organen bei bestehender Organknappheit nicht die lukrative Lücke schließen wollen, sondern mit bestem Wissen und Gewissen demjenigen helfen, der nach den geltenden Verteilungsregeln das Organ bekommen soll.

Dieses Misstrauen kommt auch zum Ausdruck in den zum Teil heftigen Reaktionen gegen den kürzlich veröffentlichten Vorschlag des Nationalen Ethikrats, ein Erklärungsmodell, unter Umständen gekoppelt mit einer Widerspruchslösung, solle das jetzt gültige Transplantationsgesetz ablösen. Die aufgeregten Stellungnahmen bezogen sich auf die Sorge, die bestehende Lücke könnte ohne Zustimmung des Einzelnen geschlossen werden. Davon war niemals die Rede. Ganz im Gegenteil: Die Stellungnahme des Nationalen Ethikrats beschreibt es als eine ethisch relevante Aufgabe und Pflicht jedes Einzelnen in dieser Gemeinschaft, sich mit den Konsequenzen des Organmangels auseinanderzusetzen - nicht nur mit den Konsequenzen des Organmangels, sondern auch mit dem medizinisch-technischen Fortschritt insgesamt, so wie er in das Leben von uns allen eingreift.

Sorge, Ängste und Misstrauen sind auch dadurch bedingt, dass eben dieser Fortschritt neue Aufgaben und Erschwernisse in unser Leben hineintragen kann, beispielsweise wenn eben ein geliebter Angehöriger auf der Intensivstation am Hirntod stirbt und damit unweigerlich die Frage verbunden sein kann: Hat er bzw. sie sich einer Organspende gegenüber positiv geäußert, oder stand er bzw. sie dem eher negativ gegenüber? Eine so schwere Frage in einer so aussichtslosen Situation! Dennoch muss sie innerhalb kürzester Zeit beantwortet werden. Das ist eine zusätzliche Belastung in einem Moment des Lebens, in dem man die Last kaum tragen kann. Das kann doch kein Fortschritt sein? Da müssen doch andere Interessen dahinterstehen, als nur einem anderen helfen zu wollen, wo man doch meinem Angehörigen nicht mehr hat helfen können. Da scheint doch dieser, der transplantiert werden soll, mehr wert zu sein als mein geliebtes Gegenüber, das nun tot ist.

Wenn die moderne Medizin solche schwierigen Fragen stellt, dann ist es notwendig, alle Menschen darauf vorzubereiten und ihnen klar und eindeutig mitzuteilen: Ja, es kann sein, dass diese Frage gestellt wird, und es ist gut, sich dann über diese Situation schon einmal Gedanken gemacht zu haben, dann eine Antwort zu wissen oder zu ahnen, die die Kernfrage des Abschieds nicht überdeckt oder aus dem Mittelpunkt nimmt.

Das, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist Selbstbestimmung, die als solche empfunden werden kann. Darauf gründen sich die Zunahme von Vertrauen und die Lösung von Ängsten. Konkretion ist nötig in einer von Information überfluteten Gesellschaft, und es besteht die Chance, deutlich zu machen, dass es tatsächlich noch andere Beweggründe gibt als finanzielle, dass der menschliche Körper einen anderen Status hat als die Materie, dass das Leben nicht bepreisbar ist. Dies sollte auch allen Ökonomen und Kollegen eingängig sein, die sich an dieser Stelle mit ihren Vorschlägen zu finanziellen Anreizsystemen nicht durch Querdenken oder Innovation, sondern durch eine Verödung des Denkens auszeichnen.

Das Vertrauen kann also da geschaffen werden, wo auf die Divergenz zwischen Utilitarismus und Nächstenliebe hingewiesen wird und sich die Ärzteschaft in diesem Fall eindeutig positioniert: Eindeutigkeit nicht nur im Hinblick auf die historischen Gesichtspunkte ihres Behandlungsauftrags, sondern für eine bessere Zukunft. Dann spielt es auch keine Rolle, ob hinter einem Erklärungsmodell eine erweiterte Zustimmungs- oder eine Widerspruchslösung steht. Ohnehin wird von einer solchen gesetzlichen Regelung kein wesentlicher Input für den Bereich der Organspende zu erwarten sein.

Mittwoch, 12. Mai 2010: Berlin, Deutscher Bundestag. Wieder eine dieser wichtigen Debatten über die Grundlagen des Umgangs mit dem medizinischen Fortschritt in unserer Gesellschaft durch den Gesetzgeber. Die Europäische Union wünscht eine Gleichbehandlung aller Bürger unter vergleichbaren Sicherheitsstandards mit menschlichen Organen. Es bleibt nur zu hoffen, dass die Wirtschaftsgemeinschaft noch zur Wertegemeinschaft wird.

Der Prozess gestaltet sich schwierig, auch in diesem Fall. Die Forderung scheint unrealistisch, auch an diesem Tag. Die meisten Abgeordneten des Deutschen Bundestags sind sich weiter darüber einig, dass menschliche Organe keine Ware sind und werden dürfen, dass Fairness und gleicher Zugang zuallererst im überschaubaren Rahmen transparent geregelt und umgesetzt werden muss. In den Redebeiträgen wird darauf hingewiesen, dass die positive Entwicklung der Organspende und der Transplantation in der Bundesrepublik weitere Unterstützung durch Aufklärungsarbeit und Transparenz braucht und dass es ein Zeugnis des gemeinschaftlichen Demokratieverständnisses unseres Landes ist, denjenigen, die in existenzieller Not sind, ohne Frage nach Herkunft, finanziellen Möglichkeiten und persönlicher Weltanschauung beizutreten und sich als Gemeinschaft für das Individuum einzusetzen, soweit es die Selbstbestimmungsrechte jedes einzelnen Bürgers nicht konterkariert: Die Feststellung, dass ein Patient pro Tag auf einer deutschen Warteliste stirbt, motiviert alle Abgeordneten dazu, in den Anstrengungen der Aufklärungsarbeit zur Prävention von schweren Organstörungen und zur Motivation zur Organspende nicht nachzulassen.

Das würde ich mir wünschen für Mittwoch, den 12. Mai 2010.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall)

Vizepräsident Dr. Crusius: Vielen Dank, lieber Herr Nagel, für die umfassende Darstellung aus ethischer, philosophischer und chirurgischer Sicht. Danke auch für den Ausblick in die Zukunft. Sie haben nicht gesagt, welche Koalition oder welche Partei dann an der Macht ist; das wäre vielleicht etwas zu hellseherisch gewesen. Vielleicht gibt es auch einen Gruppenantrag aller Abgeordneten im Deutschen Bundestag, sodass etwas beschlossen wird, was wir uns erhoffen.

Meine Damen und Herren, wir kommen jetzt - wie angekündigt - zu Herrn Dr. Liese und sein Statement zur Einschätzung der Organ- und Gewebetransplantation aus Sicht des Europäischen Parlaments. Herr Dr. Liese, bitte.

© Bundesärztekammer 2007