TOP III: Kindergesundheit in Deutschland

Mittwoch, 16. Mai 2007, Vormittagssitzung

Henke, Referent: Lieber Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es scheint der Ärztetagsregie gelungen zu sein, das adäquate Mittel für die zeitliche Begrenzung dieses Referenten herbeizuführen. Offensichtlich hat man seine Erfahrungen mit der Treue gegenüber vorgesehenen Redezeiten gemacht. Ich bedanke mich sehr für diese Disziplin.

England, erste Hälfte des 19. Jahrhunderts. Der neunjährige Waisenjunge Oliver Twist lebt freudlos und misshandelt im Armenhaus. Als er bei einem Totengräber in die Lehre gegeben wird, nutzt er die Gelegenheit, um zu fliehen und in London sein Glück zu suchen. Doch er gerät in die Fänge des Bandenchefs Fagin, der ihn zum Taschendieb ausbilden möchte. Oliver besteht etliche Abenteuer auf der Schattenseite der viktorianischen Klassengesellschaft, bis sich ihm dank der Hilfe mitfühlender Menschen die Chance auf ein besseres Leben eröffnet.

Jeder, der dazu beiträgt, anderen die Bürde des Lebens zu erleichtern, kann sich auf folgendes Zitat des Autors von "Oliver Twist" beziehen:

Niemand ist nutzlos in dieser Welt, der einem anderen die Bürde leichter macht.

Die gesundheitliche Situation von Kindern und Jugendlichen, so lautet eine zutreffende Bilanz des Robert-Koch-Instituts, hat sich in den Industriestaaten im zurückliegenden Jahrhundert in einem Ausmaß verändert, wie dies in der Geschichte der Menschheit wohl noch nicht vorgekommen ist. Die Säuglingssterblichkeit lag 1900 bei 210 pro 1 000 Lebendgeborene. Sie ist auf weniger als fünf pro 1.000 zurückgegangen, also um einen Faktor von mehr als 40. Die Sterblichkeit von Kindern im Alter zwischen 1 und 15 Jahren verminderte sich um den Faktor 65. Vor 100 Jahren starben mehr als 50-mal so viele Mütter im Zusammenhang mit einer Schwangerschaft wie im Jahr 2000.

Bedenkt man, dass unabhängig von Schwangerschaften etwa 25 Prozent aller Frauen im Alter zwischen 20 und 45 Jahren starben und dass die Sterblichkeit von Männern sogar noch höher war, so wird deutlich, dass vor 100 Jahren - auch das ist ein Teil des demografischen Wandels unserer Gesellschaft - ein großer Teil der Kinder ohne eigene Mutter, ohne eigenen Vater oder sogar ganz ohne Eltern aufwachsen musste.

Man kann sich heute kaum noch vorstellen, dass es für damals sehr verbreitete Infektionskrankheiten wie Tuberkulose, Poliomyelitis, Scharlach, Diphterie, Gonorrhoe, Syphilis, Gastroenteritis, Meningitis oder Wundstarrkrampf weder eine wirksame Behandlung noch kaum eine Vorbeugung gab.

Unbehandelbar waren zum Beispiel Diabetes mellitus, Rachitis, Skorbut, Nachtblindheit, Anämie, Asthma, Depressionen und fast alle anderen psychischen Krankheiten, Anfallsleiden, Krebs, Probleme von Frühgeborenen, angeborene Fehlbildungen, beispielsweise Herzfehler, angeborene Stoffwechselkrankheiten, chronische Krankheiten des Skeletts, des Herzens und anderer Organe, und nach heutigen Maßstäben gab es keine sicheren chirurgischen Behandlungen.

Am Anfang des letzten Jahrhunderts waren die Menschen vom Sterben umgeben, und die größte gesundheitspolitische Herausforderung war die Vermeidung des frühen Todes. Die durchschnittliche Lebenserwartung von Männern betrug im Jahr 1900  39 Jahre, die von Frauen
42 Jahre. Im Jahr 2000 lagen die entsprechenden Werte bei 75 und 81 Jahren.

Das erste, 1907 in Deutschland gegründete Forschungsinstitut für präventive Pädiatrie hatte als einziges Ziel, die Säuglingssterblichkeit zu senken. Das wurde im Kaiserin-Auguste-Victoria-Haus zur Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit in Berlin eingeleitet. Als Mitte des 20. Jahrhunderts die Weltgesundheitsorganisation gegründet wurde, war ihr Motto: "Add years to life" - "Dem Leben Jahre hinzufügen". Neuerlich wurde dieses Motto umgekehrt in: "Add life to years" - "Den Jahren Leben hinzufügen". Darin kommt ein völliger Paradigmenwechsel zum Ausdruck.

Sieht man einmal von den härtesten Krankheitsfolgen, nämlich dem Tod oder der Verwaisung, ab, so gibt es auch Anhaltspunkte dafür, dass es den überlebenden Kindern vor 100 Jahren gesundheitlich nicht so gut gegangen sein kann wie heute. Das sieht man an den Analysen des Wachstums der Kinder. Insofern kann man für das letzte Jahrhundert sagen - das ist auch ein Kompliment an alle Ärztinnen und Ärzte, die in den letzten 100 Jahren dazu beigetragen haben -: Es ist eine enorme Erfolgsgeschichte der Medizin, auch eine enorme Erfolgsgeschichte unserer Gesellschaft, durch ihre Anstrengungen das gesundheitliche Wohl der Kinder erhöht zu haben. Dafür gebührt allen, die daran mitgewirkt haben, Dank.

Aber diese günstigen Entwicklungen führen nicht daran vorbei, dass es auch noch heute gravierende Gesundheitsprobleme gibt, von denen ein erheblicher Teil der Bevölkerung betroffen ist. In einer bundesweiten repräsentativen Befragung zur Nachfrage nach Präventionsangeboten gaben beispielsweise 23,7 Prozent der jungen Eltern an, dass in ihrer Familie ein chronisch krankes Kind lebt. Man schätzt, dass 7 bis 10 Prozent der Kinder von chronischer Krankheit betroffen sind. Wir wissen, dass nach dem Rückgang der Sterblichkeit andere Gesundheitsprobleme in den Vordergrund getreten sind. Aus Mangel an Vergleichsdaten entsteht häufig der Eindruck, als hätte die Verbreitung dieser Probleme zugenommen; man spricht dann von einer Verschlechterung der Umwelt, von einer Verschlechterung der allgemeinen Lebensbedingungen und sieht darin Ursachen.

Ich glaube, man muss achtgeben, dass man nicht auf einen Irrweg gerät. Die Kindergesundheit ist heute besser und nicht schlechter als früher. Wir sind allerdings nach Kräften dabei, sie wieder zu verschlechtern. Dabei sind die Chancen für die Kinder zumindest in den Industriestaaten sehr viel besser als vor 100 Jahren. Aber es liegt an uns, ob die Chancen Wirklichkeit werden. Und schon heute wissen wir: Die Chancen erreichen die unterschiedlichen Schichten der Bevölkerung bei Weitem nicht in der gleichen Weise.

Vielleicht erinnern Sie sich an den 108. Deutschen Ärztetag in Berlin:

Arbeitslosigkeit und Armut lassen Menschen früher altern, rascher krank werden, sie rauben Initiative zur eigenen Gesundheitsförderung, zerstören die Motivation zur Prävention, mindern gesundheitliche Potenziale und verbreiten gesundheitsbelastende Verhaltensweisen.

Das haben wir damals diskutiert. Wir haben diese Sätze in unseren Beschluss aufgenommen: Arbeitslosigkeit macht arm, und Armut und Arbeitslosigkeit machen krank. Beides gilt bis in die nächste Generation hinein.

Es gibt sehr aktuelle Daten aus dem Sozialbericht NRW, den der Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales im Landeskabinett von Jürgen Rüttgers, Karl-Josef Laumann, vorgelegt hat. Das ist der erste Sozialbericht NRW, der ein eigenes Kapitel über die Armut von Kindern und Jugendlichen enthält.

Er zeigt, wie sehr die Armutsquote in Familien mit Kindern, die jünger sind als 18 Jahre, steigt. Die Armutsquote in Ein-Eltern-Haushalten ist mit 37,8 Prozent fast doppelt so hoch wie in Paarhaushalten mit Kindern. Wenn beide Eltern erwerbstätig sind, liegt die Armutsquote bei
5,7 Prozent, wenn ein Elternteil erwerbstätig ist, bei 23,9 Prozent, sind beide Eltern nicht erwerbstätig, bei über 80 Prozent.

Elternschaft geht in den meisten Fällen damit einher, dass zumindest ein Elternteil die Erwerbstätigkeit unterbricht oder reduziert.

Der OECD-Bildungsbericht PISA kommt zu dem Ergebnis, dass in keinem anderen Land der Welt der Schulerfolg so stark von Einkommen und Vorbildung der Eltern abhängt wie in Deutschland. Damit sind wir bei einem Teufelskreis: Kinder und Jugendliche, die in Armut leben, tragen ein erhöhtes Risiko einer ungünstigen Gesundheitsbiografie.

Es ist leider so - so muss unsere Hypothese sein -, dass sich dieser Teufelskreis fortsetzt, weil der mangelhafte Bildungs- und Berufserfolg von Eltern sich dadurch fortpflanzt, dass die soziale Herkunft über den Bildungserfolg der Kinder entscheidet.

Schauen wir uns die Daten an, die uns der Kinder- und Jugendsurvey des Robert-Koch-Instituts liefert. Es handelt sich um eine Untersuchung an insgesamt 17.641 Kindern und Jugendlichen, die im Rahmen von vier ärztlich geleiteten Untersuchungsteams an insgesamt 167 Standorten untersucht wurden. Wir finden bei fast jedem Merkmal, dass Familien mit niedrigerem Sozialstatus häufiger von gesundheitlichen Problemen betroffen sind. Wir finden dies bei der Adipositas, wir finden das bei Essstörungen, wenn man nach dem SCOFF-Range vorgeht. Wir finden solche Ergebnisse auch in Bezug auf die Mundgesundheit. Wir finden das, wenn es um Rauchen und Sozialstatus geht, wir finden das, wenn es um Bewegungsmangel geht. Wir finden das auch, wenn es um die Teilnahmerate bei Früherkennungsuntersuchungen im Kindesalter geht. Kinder mit niedrigerem Sozialstatus und solche mit Migrationshintergrund nehmen wesentlich seltener alle Früherkennungsuntersuchungen wahr, als es im Schnitt der Bevölkerung der Fall ist. 14 Prozent der Kinder mit Migrationshintergrund haben sogar nie an einer Früherkennungsuntersuchung teilgenommen. Daraus sind Konsequenzen zu ziehen.

Konsequenzen sind auch aus der ergänzenden, den Jugendsurvey erweiternden BELLA-Studie zu ziehen, mit der man psychische Auffälligkeiten untersucht hat. Das Auftreten von Hinweisen auf psychische Auffälligkeiten wird bei einem niedrigeren sozioökonomischen Status, wie es die Sozialwissenschaftler nennen, signifikant häufiger.

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Nach Berechnungen des Kinderschutzbundes leben heute in Deutschland allein 2,5 Millionen Kinder und Jugendliche auf Sozialhilfeniveau. Viel zu viele Kinder müssen auf Taschengeld, Freizeit- und Sportangebote verzichten. Viel zu viele Kinder ernähren sich mangelhaft und sind bei schlechter Gesundheit. Viel zu viele benachteiligte Kinder bleiben in isolierten Wohnvierteln unter sich, ohne gute Schulen, Ausbildungsmöglichkeiten und ausreichende soziale Unterstützung.

Deshalb möchte ich ausdrücklich hervorheben, was Roman Herzog, Altbundespräsident und Vorstandsvorsitzender des Bündnisses für Kinder, auf dem II. Forum "Deutschland für Kinder" in der Berliner Akademie der Künste gesagt hat:

Kinder ohne Chancen sind die Arbeitslosen von morgen. Die Überwindung von Kinderarmut ist eine der wichtigsten Zukunftsaufgaben.

Heide Simonis, die Vorsitzende von UNICEF Deutschland, ergänzt:

Kinderarmut in Deutschland bedeutet massenhafte Ungerechtigkeit und Benachteiligung. Kein Land kann es sich leisten, so vielen Kindern einen guten Start ins Leben vorzuenthalten.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin im Umfeld dieses Tagesordnungspunkts von vielen Journalisten gefragt worden: Verursacht das, was ihr da alles tut, nicht wieder neue Kosten? Kosten eure Forderungen, die ihr stellt, nicht unendlich viel zusätzliches Geld? Ganz abgesehen davon, dass ich glaube, dass der Wert von Kindern sich nicht in Euro und Cent berechnen lässt: Es ist nicht so, als kostete es die Gesellschaft nichts, wenn sie Kinder in Chancenlosigkeit belässt. Das ist ein furchtbar schlechtes Geschäft.

(Beifall)

Was muss geschehen? Der Abbau von Kinderarmut muss wie der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit politische Priorität bekommen. Ein Aktionsplan mit konkreten Zielvorgaben ist nötig.

Die Kinder- und Familienpolitik muss darauf achten, dass ihre Hilfen auch die schwächsten Familien erreichen. Dazu gehört die Sicherung eines angemessenen Existenzminimums für die Kinder.

Eine kindorientierte Politik muss Betreuungsmöglichkeiten für alle Kinder sicherstellen, den Zugang zu Kindergärten sichern und kindgerechte Ganztagsschulen ausbauen, um Lern- und Verhaltensdefizite auszugleichen.

Wir brauchen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, und wir brauchen eine gezielte Förderung und Unterstützung vom Kindergartenalter an.

Einer der wichtigsten Ansatzpunkte für Armutsprävention und damit für den Schutz der Gesundheit ist der Schulerfolg der Kinder und der Einstieg in eine berufliche Bildung, die für den Arbeitsmarkt qualifiziert. Wir müssen die kollektive Vernachlässigung der Kinder in Deutschland stoppen. Wir müssen aufhören, den Wert von Kindern über das Geld zu bestimmen, das sie kosten. Kinder sind ein Reichtum aus sich heraus.

(Beifall)

Der Anstoß für unsere Beratungen auf diesem Ärztetag kam aber auch noch von einer anderen Form von Vernachlässigung der Kinder. Sie alle kennen Schlagzeilen wie die folgenden: "Das unfassbare Leiden der kleinen Jessica"; "Mädchen (7) verhungert - Sie vegetierte wie eine Gefangene"; "80.000 Kinder von Verwahrlosung bedroht"; "Kleine Michelle - Hunger tötete sie"; "Wieder ein Kind verhungert - und in Mülltonne gesteckt"; "'Schattenkinder' Sieben Jahre im Dunkeln".

Leider ist es wahr: Es gibt nichts, was Erwachsene Kindern nicht antun, ihren eigenen Kindern. Auf einer Fortbildungsveranstaltung der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein wurde vom Institut für Rechtsmedizin am Universitätsklinikum Düsseldorf folgender Fall vorgestellt: Der Vater eines fünf Jahre alten männlichen Kindes hat erklärt, die Verbrennungen seien dadurch entstanden, dass das Kind an eine Herdplatte geraten sei. Bei einer präziseren Untersuchung des Kindes haben sich an einer durch die Kleidung verdeckten Stelle Zigarettenmarken gefunden. Der Vater erklärte dazu: "Es wird heiß, wenn die Kinder nicht parieren." Ein weiterer Fall: Ein drei Monate altes weibliches Kind lag laut Aussage des Kindsvaters morgens tot im Bett. Der Notarzt hat keine Verletzungen attestiert. Er hatte den Verdacht auf SIDS. Nach der Obduktion hat der Vater gestanden, das Kind an die Wand gehauen zu haben; er habe sich über seine Frau geärgert.

Beim Schütteltrauma besteht die Gefahr der Fehleinschätzung als SIDS.

Ich glaube, es ist gut, wenn wir uns mit der Trias: Wahrnehmen - Warnen - Handeln beschäftigen. Wahrnehmen kann jeder, der wahrnehmungsfähig ist. Das sind nicht nur Ärztinnen und Ärzte. Aber wir als Ärztinnen und Ärzte haben eine professionelle Pflicht, unsere Wahrnehmung zu systematisieren und unsere Wahrnehmungen bei der Untersuchung von verletzten Kindern präzise zu fassen, damit sie auch für Dritte bewertbar sind.

Wir haben die Pflicht, handlungsverpflichtete Institutionen mit Warnmeldungen zu versehen, wenn es möglich ist. Diese Dienste haben die Pflicht, zeitnah zu reagieren oder gemeinsam mit anderen Institutionen zu handeln. Das ist alles zeitkritisch.

Niemand soll sagen, dass betreffe nur wenige Menschen. Nach Angaben des Bundeskriminalamts gab es 1999 über 3.200 Fälle von Misshandlung Schutzbefohlener. Über 2.200 Fälle davon betrafen Kinder. Wir haben 100 bis 200 Kinder, die durch Misshandlungen, durch Gewalt zu Tode kommen. Dahinter verbergen sich nach unserer Einschätzung - so haben wir es im Antrag des Vorstands formuliert - etwa 5 Prozent Kinder einer Alterskohorte, die in gefährdeten Verhältnissen leben, wo man genau achtgeben muss. Das sind immerhin 30.000 Kinder in Deutschland.

Es ist wichtig, dass wir unsere medizinischen Erfahrungen austauschen. Dr. Bernd Hermann aus Kassel hat folgende 10-Prozent-Regel aufgestellt: 10 Prozent aller verletzten Kleinkinder wurden misshandelt, 10 Prozent aller verletzten Kleinkinder wurden vernachlässigt und 10 Prozent aller Frakturen sind durch Misshandlungen entstanden.

Es geht nicht nur um Gewalterfahrung und Vernachlässigung, sondern auch um die fehlende elterliche Wahrnehmung von Erkrankungen und Entwicklungsauffälligkeiten. Deshalb ist eine enge Kooperation von Sozialverwaltung, öffentlicher und freier Jugendhilfe, kommunalem Gesundheitsdienst, dem Schul- und Bildungsbereich, der freien Wohlfahrtspflege, intermediären Instanzen, Ärzteschaft, Entbindungs- und Kinderkliniken, Hebammen und anderen mehr erforderlich.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, in diesem Zusammenhang werden wir - das zeigen die Anträge - über einen besonders wichtigen Punkt zu diskutieren haben, nämlich die Weiterentwicklung der Früherkennungsuntersuchungen. Manchmal wird gesagt: Mischt euch nicht zu sehr bei den Eltern ein. Art. 6 Abs. 2 des Grundgesetzes bestimmt:

Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht.

Das ist wahr und richtig, aber der Staat bleibt keineswegs außen vor, denn der zweite Satz von Art. 6 des Grundgesetzes lautet:

Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.

Der Schutz des Kindes vor Gefahren für sein Wohl obliegt natürlich zunächst den Eltern. Nehmen Eltern ihre Verantwortung aber nicht wahr und überschreiten sie ihre Grenzen, die das Kindeswohl dem Elternrecht setzt, dann kommt das staatliche Wächteramt zum Tragen. Der Staat ist in diesem Fall nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, Pflege und Erziehung des Kindes sicherzustellen. Das Kind, das der Hilfe bedarf, um sich zu einer eigenverantwortlichen Person innerhalb der sozialen Gemeinschaft, wie sie dem Menschenbild des Grundgesetzes entspricht, zu entwickeln, hat insoweit Anspruch auf den Schutz des Staates. In Fällen, in denen eine dem Wohl des Kindes entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist, besteht ein individueller Anspruch auf Hilfe zur Erziehung.

Ich will jetzt nicht im Einzelnen auf die Diskussion eingehen, ob familiengerichtliche Maßnahmen rechtzeitig einsetzen. Ich will nur sagen: Es ist auch für unsere Debatte wichtig, diese Pflicht der staatlichen Gemeinschaft zu erkennen.

Ich glaube, dass wir nicht allein als Ärzteschaft, nicht allein dadurch, dass wir die Früherkennungsuntersuchungen weiterentwickeln, nicht allein dadurch, dass wir dem Verband der Kinder- und Jugendärzte Unterstützung in dem Bemühen geben, die Früherkennungsuntersuch-ungen auch über den Gemeinsamen Bundesausschuss auszubauen, helfen sollten, sondern auch dadurch, dass wir in der gesellschaftlichen Diskussion den Wert von Kindern betonen, die Trias: Wahrnehmen - Warnen - Handeln betonen. Dazu müssen wir Netzwerke kommunaler Art aufbauen. Das ist unsere Pflicht, und damit leisten wir Beiträge, wie sie erforderlich sind.

Wir haben uns darauf verständigt, dass Herr Professor Niethammer die Kindergesundheit aus pädiatrischer Sicht darstellen wird und Frau Dr. Goesmann aus der hausärztlichen Sicht. Frau Dr. Goesmann wird viele Beispiele dafür nennen, welche Kooperationen möglich sind.

Mein Appell zum Schluss lautet: Wir brauchen diese Kooperation, weil wir alle Kräfte mobilisieren müssen, damit möglich wird, worauf die Kinder einen Anspruch haben: ein sicherer Start.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall)

Präsident Prof. Dr. Dr. h. c. Hoppe: Vielen herzlichen Dank, Rudolf Henke, für dieses sehr plastische Referat, das uns sicher aufgerüttelt hat und uns die weiteren Referate mit Spannung erwarten lässt, die nach der Mittagspause gehalten werden.

Ich begrüße dazu bereits jetzt Herrn Professor Niethammer aus Tübingen, Kinderarzt und uns auch in wichtigen Funktionen in der Wissenschaftsszene bekannt. Er hat auch sehr darauf aufgepasst, dass sich die Universitäten gut weiterentwickeln. Aber das ist eine andere Baustelle. Hier geht es um die gute Betreuung von Kindern. Herzlich willkommen, Herr Niethammer!

(Beifall)

Es liegen bereits 28 Anträge vor. Mir ist aufgefallen, dass der Antrag 6 a von denselben Antragstellern stammt wie der Antrag 6. Insofern vermute ich, dass es sich nicht um einen Antrag 6 a, sondern um einen Antrag 6 (neu) handelt. Wenn die Autoren es anders sehen, mögen sie es mir bitte sagen.

Der Antrag 9 enthält eine missverständliche Überschrift. Dort ist die Rede von "hausärztlicher Gewalt". Ich glaube, das ist übertrieben; das ist so nicht gemeint.

(Heiterkeit)

Es ist sicher "häusliche Gewalt" gemeint. Wir versuchen, den Antrag neu umzudrucken, nicht dass Sie ihn so ernst nehmen, dass Sie ihn nicht mehr loslassen. Es kommt ein neuer Antrag, in dem "häusliche Gewalt" steht.

Nun wünsche ich Ihnen eine erholsame Mittagspause. Wir treffen uns um 14 Uhr an dieser Stelle wieder.

2. Tag: Mittwoch, 16. Mai 2007
Nachmittagssitzung

Präsident Prof. Dr. Dr. h. c. Hoppe: Meine Damen und Herren! Wir setzen die unterbrochene Sitzung fort. Ich rufe Tagesordnungspunkt III b auf:

Kindergesundheit aus pädiatrischer Sicht

Dazu wird uns Herr Professor Niethammer, den ich bereits vor der Mittagspause begrüßt habe, vortragen. Herr Professor Niethammer ist Generalsekretär der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin e. V. Bitte schön, Herr Professor Niethammer. Wir sind gespannt auf Ihren Vortrag.

© Bundesärztekammer 2007