Prof. Dr. Schulte-Markwort, geladener Gast: Sehr
geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen des Präsidiums!
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Vor ein paar Tagen hatte ich die
Gelegenheit, einen Dokumentarfilm der ARD über verwahrloste Kinder für die
Sendung "Fakt" kommentieren zu dürfen. Dabei wurde eine Mutter mit ihren zwei
Töchtern in ihrem normalen Tagesablauf gezeigt. Vielleicht haben Sie es
gesehen. Man sah eine junge, offensichtlich überforderte Mutter, die mit Hund
und Katze noch in einem zum Bett hergerichteten Sofa lag, während die 7- und
9-jährigen Töchter versuchten, sich in einem sehr unordentlichen Chaos ihr
Schulbrot zu organisieren. Es war ausgesprochen anrührend, zu sehen, mit
welchen Anstrengungen und mit welcher Selbstverständlichkeit die Mädchen sich
um ihre eigene Fürsorge und sogar um die der Mutter kümmerten.
Es war auch deutlich, wie wir es jeden Tag in unseren
Ambulanzen und unseren Kliniken sehen, dass einer psychisch labilen,
wahrscheinlich im Sinne einer Borderline-Persönlichkeitsstörung strukturierten
Mutter kein Vorwurf zu machen war. Vielmehr wurde deutlich, wie alle Beteiligten
- Mutter wie Töchter - ihr jeweils Bestes gaben, um den Tag und ihr Leben
irgendwie zu bewältigen.
Jeden Tag sehen wir solche jungen Mütter, denen wir zu helfen
versuchen, eine ausreichend gute, stabile und förderliche Beziehung zu ihrem
Kind aufzubauen, das dann nicht mehr mit Symptomen der Regulations- und/oder
Fütterstörung oder anderen - auch späteren - Symptomen reagieren muss. Das
Ringen dieser fast regelhaft psychisch kranken Mütter ist ungeheuer anrührend
und führt uns weit weg von den Vorwürfen und dem Unverständnis, das regelhaft
in der Presse entsprechende Haltungen in der Bevölkerung unterstützt und
fördert.
Auch hier ist die Medizin auf besondere Weise gefordert. Sie
alle haben die aktuellen Zahlen aus den letzten Monaten über die somatische und
psychische Gesundheit der Kinder und Jugendlichen aufgenommen. Sie alle haben
verfolgt, wie immer wieder erschreckende Fälle von Verwahrlosung und Misshandlung
bis hin zu den Todesfällen uns vor Augen führen, wie hilflos wir doch immer
wieder sind, wenn es darum geht, eine umfassende und nachhaltige Fürsorge für
unsere Kinder zu implementieren.
Addiert man zu den psychischen Auffälligkeiten die
psychosomatischen hinzu, kommt man in repräsentativen Stichproben auf
Prävalenzraten von nahezu 30 Prozent aller Kinder bis zum 18. Lebensjahr,
die diagnostikbedürftig sind.
Ich muss Ihnen nicht sagen, dass wir hierfür in Deutschland
keineswegs ausreichende kinder- und jugendpsychiatrische Ressourcen vorhalten.
Geht man in pädiatrische Risikogruppen, beispielsweise in die Gruppen der
ehemaligen Frühgeborenen oder in die aufgrund hervorragender pädiatrischer
Medizin beständig wachsende Anzahl chronisch kranker Kinder und Jugendlicher,
so schnellt die Prävalenz auf 40 bis 50 Prozent hoch.
Auch der Blick aus der Erwachsenenmedizin macht die
Angelegenheit nicht besser. Sie wissen, wie hoch der Anteil manifester
psychischer Störungen in den Praxen der somatischen Medizin ist. Sie wissen,
wie viele sogenannte funktionale Störungen hinzukommen. Sie wissen, dass 50 Prozent
aller psychosomatischen Erkrankungen des Erwachsenenalters ihren Ursprung in
Kindheit und Jugend haben.
Darüber hinaus sind Kinder in vielen Bereichen des Lebens
nachhaltig benachteiligt. Grundschullehrer sind weniger wert als
Sekundarstufe-I- bzw. Sekundarstufe-III-/II-Lehrer. Wir verfahren oft nach dem
Motto: je kleiner, desto unwichtiger. Erzieherinnen sind schlechter ausgebildet
als Lehrerinnen. Wir lassen 20 Dreijährige mit einer Erzieherin und einer
Praktikantin allein. Kindermedizin wird in manchen Bereichen schlechter bezahlt
als Erwachsenenmedizin. Wir diskutieren wie bei der Debatte über die
Kinderkrippen nicht über die Bedürfnisse von Kleinkindern. Diese Liste ließe
sich fortsetzen.
Ich könnte jetzt daraus ableiten, dass wir primär dafür Sorge
tragen müssen, dass meine Facharztgruppe der Kinder- und Jugendpsychiater
gestärkt werden müsste. Andere Facharztgruppen hier im Raum würden zu Recht
darauf hinweisen, dass auch ihre Gruppe auf verschiedene Art gestärkt werden
müsste, um die Kindergesundheit zu verbessern.
Ich könnte darauf hinweisen, dass Budgetpauschalen von
beispielsweise 43 Euro pro Kind und pro Quartal in Hessen nicht nur dazu
beitragen, dass die Praxen in Konkurs gehen, sondern dass die betroffenen
behandlungsbedürftigen Kinder und Jugendlichen immer schlechter versorgt werden
können. Sie würden mir zu Recht andere Facharztgruppen nennen, die noch
dramatischer unterversorgt sind.
Ich könnte darauf hinweisen, dass Jugendmedizin
epidemiologisch betrachtet eigentlich Jugendpsychiatrie und
Jugendpsychotherapie ist. Sie würden mir zu Recht die Notwendigkeit einer
integrierten hausärztlichen pädiatrisch-internistischen Versorgung erklären.
Auch diese Liste ließe sich fortsetzen in der besten
ärztlichen Tradition von Arztgruppenkonflikten. Diese Arztgruppenkonflikte
können wir angesichts der enormen Bedürftigkeit von Kindern und Jugendlichen
und unserer fürsorglichen Verantwortung ihnen gegenüber niemandem
kommunizieren, den Kindern am allerwenigsten.
(Beifall)
Lassen Sie es mich einmal anders beschreiben: In meiner
täglichen Praxis als Kinderpsychiater und Kinderpsychosomatiker erlebe ich
Hausärzte und Kinderärzte, die auf medizinisch höchstem Niveau mit einem immer
wieder beeindruckenden und anrührenden Engagement jenseits jeder Gebührenordnung
im Kontakt und in der Beratung mit mir nach Lösungen in der Diagnostik, Behandlung
und umfassenden Versorgung für ihre Kinder und Familien suchen. Nur wenn wir
gemeinsam am Kind stehen, unser Differenzialwissen zusammentragen und daraus
Behandlungsstrategien ableiten, entsteht eine im besten Sinne des Wortes
integrierte Versorgung.
Das ist nicht etwas, was wir umständlich schaffen müssen; das
ist etwas, was wir im Sinne einer Ressourcenaktivierung nur verstärken müssen.
Ich habe vorgestern in der ARD gesagt, dass eine Bundesregierung, die ihrer
Bevölkerung ein Programm wie "Fit statt fett" verordnen kann, im besten Sinne
politischer Fürsorge auch in der Lage sein sollte, die Kindergesundheit zu
fördern und vor allem nachhaltig für die Verhinderung von Verwahrlosung,
Misshandlung und Missachtung in allen Bereichen zu sorgen.
Lassen Sie uns der Politik vorangehen. Was wir brauchen, sind
institutionalisierte Vernetzungen, die einen umfassenden diagnostischen und
therapeutischen Blick auf unsere Kinder und ihre Familien werfen. Lassen Sie
uns damit aufhören, dass wir uns Patientengruppen streitig machen, uns
Kompetenzen absprechen und nur für eigene Budgets kämpfen. Kämpfen wir
gemeinsam gegen menschenverachtende, die Kinderrechte missachtende
Verknüpfungen von Gesundheitsfürsorge und überzogenen wirtschaftlichen
Fesselungen. Nur das gemeinsame Handeln, nur die gemeinsame Verantwortung der
Kinder und Familien schafft Grundlagen für eine gemeinsame umfassende
Kindergesundheit.
Schaffen wir gemeinsam ein Anreizsystem für Familien mit
bio-psychosozialen Risiken, an den Vorsorgeuntersuchungen für ihre Kinder und
Jugendlichen teilzunehmen. Schaffen wir gemeinsam eine Erweiterung der
Vorsorgeuntersuchungen, um Risikokonstellationen identifizieren zu können, um
psychische Erkrankungen bei Kindern frühzeitig erkennen zu können, um
psychische Erkrankungen bei Müttern und Vätern erkennen zu können. Schaffen wir
gemeinsam eine bessere Ausnutzung der gestuften Versorgung von psychosomatischer
Grundversorgung, fachgebundener Psychotherapie und fachärztlicher
psychiatrischer und psychotherapeutischer Versorgung. Schaffen wir gemeinsam
die Bildung eines ärztlichen Netzes für die Versorgung psychisch und psychosomatisch
kranker Kinder und Jugendlicher. Schaffen wir gemeinsam eine spezifische
erweiterte psychosomatische Grundversorgung für Kinder und Jugendliche.
Schaffen wir ein Sprachrohr für eine umfassende somato-psychische Gesundheit
unserer Kinder. Warum es neben Foodwatch und Tierschutz nicht schon längst
Childrenwatch gibt, hat sich mir bislang noch nicht erschlossen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Kinder bedeuten einen
unbeschreiblichen Reichtum. Kinder sind unsere Zukunft. Wir Ärzte verstehen
nicht nur etwas von Krankheit und Heilung, wir verstehen etwas von Körper und Seele,
und wir verstehen etwas von Fürsorge. Lassen Sie uns der Gesellschaft
vormachen, was das bedeuten kann. Lassen Sie uns aktiv für Kindergesundheit
kämpfen. Lassen Sie uns in realen und virtuellen Zentren für Kindergesundheit
inter- und multidisziplinär Kinder und Jugendliche und ihre Familien versorgen.
Gehen wir voran!
Danke.
(Beifall)
Präsident Prof. Dr. Dr. h. c. Hoppe: Vielen Dank,
Herr Schulte-Markwort, für Ihren Beitrag aus kinderpsychiatrischer und
kinderpsychotherapeutischer sowie aus jugendpsychiatrischer und
jugendpsychotherapeutischer Sicht. Ich glaube, damit haben wir das Spektrum
einigermaßen komplett behandelt.
Wir treten damit in die Diskussion und die Behandlung der
bisher vorliegenden 33 Anträge ein. Ich habe die Idee, da es sehr viele
Redundanzen gibt, ob es nicht möglich ist, einige Anträge miteinander zu
verschmelzen oder als Antragsteller sich zusammenzutun. Wir können natürlich
auch von Anfang bis Ende abstimmen. Wenn zu einem Petitum mehrere Beschlüsse
gefasst werden, kann das ja nur unterstützend wirken.
Ich muss noch auf Folgendes aufmerksam machen. Es gibt einige
gleichartige Anträge, die inhaltlich kleine Unterschiede beinhalten, die aber
für die Außenwirkung wichtig sind. Dazu gibt es beispielsweise hinsichtlich der
Meldepflicht in Bezug auf die Teilnahme an Vorsorgeuntersuchungen einen Antrag,
der beinhaltet, dass die Ärztinnen und Ärzte, die die Vorsorgeuntersuchungen
durchführen oder durchführen sollten, eventuelle Meldungen vornehmen, während
ein anderer Antrag diese Aufgabe den Eltern überlassen will und die Ärztinnen
und Ärzte ausdrücklich eine solche Meldung nicht vornehmen sollen. Das würde
sich gegenseitig ausschließen. Solche Überlegungen müssen wir nachher bei der
Abstimmung gegeneinander abwägen, damit wir nicht sich widersprechende
Beschlüsse fassen und die Außenwelt nachher genauso klug ist wie zuvor. Wir
wollen ja vielmehr zur Klarstellung beitragen.
Wir kommen zur Diskussion. Der erste Redner, der sich zu Wort
gemeldet hat, ist Herr Professor Kunze aus Bayern, ein bekannter Kinderarzt aus
München.
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