TOP III: Kindergesundheit in Deutschland

Mittwoch, 16. Mai 2007, Nachmittagssitzung

Prof. Dr. Schulte-Markwort, geladener Gast: Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen des Präsidiums! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Vor ein paar Tagen hatte ich die Gelegenheit, einen Dokumentarfilm der ARD über verwahrloste Kinder für die Sendung "Fakt" kommentieren zu dürfen. Dabei wurde eine Mutter mit ihren zwei Töchtern in ihrem normalen Tagesablauf gezeigt. Vielleicht haben Sie es gesehen. Man sah eine junge, offensichtlich überforderte Mutter, die mit Hund und Katze noch in einem zum Bett hergerichteten Sofa lag, während die 7- und 9-jährigen Töchter versuchten, sich in einem sehr unordentlichen Chaos ihr Schulbrot zu organisieren. Es war ausgesprochen anrührend, zu sehen, mit welchen Anstrengungen und mit welcher Selbstverständlichkeit die Mädchen sich um ihre eigene Fürsorge und sogar um die der Mutter kümmerten.

Es war auch deutlich, wie wir es jeden Tag in unseren Ambulanzen und unseren Kliniken sehen, dass einer psychisch labilen, wahrscheinlich im Sinne einer Borderline-Persönlichkeitsstörung strukturierten Mutter kein Vorwurf zu machen war. Vielmehr wurde deutlich, wie alle Beteiligten - Mutter wie Töchter - ihr jeweils Bestes gaben, um den Tag und ihr Leben irgendwie zu bewältigen.

Jeden Tag sehen wir solche jungen Mütter, denen wir zu helfen versuchen, eine ausreichend gute, stabile und förderliche Beziehung zu ihrem Kind aufzubauen, das dann nicht mehr mit Symptomen der Regulations- und/oder Fütterstörung oder anderen - auch späteren - Symptomen reagieren muss. Das Ringen dieser fast regelhaft psychisch kranken Mütter ist ungeheuer anrührend und führt uns weit weg von den Vorwürfen und dem Unverständnis, das regelhaft in der Presse entsprechende Haltungen in der Bevölkerung unterstützt und fördert.

Auch hier ist die Medizin auf besondere Weise gefordert. Sie alle haben die aktuellen Zahlen aus den letzten Monaten über die somatische und psychische Gesundheit der Kinder und Jugendlichen aufgenommen. Sie alle haben verfolgt, wie immer wieder erschreckende Fälle von Verwahrlosung und Misshandlung bis hin zu den Todesfällen uns vor Augen führen, wie hilflos wir doch immer wieder sind, wenn es darum geht, eine umfassende und nachhaltige Fürsorge für unsere Kinder zu implementieren.

Addiert man zu den psychischen Auffälligkeiten die psychosomatischen hinzu, kommt man in repräsentativen Stichproben auf Prävalenzraten von nahezu 30 Prozent aller Kinder bis zum
18. Lebensjahr, die diagnostikbedürftig sind.

Ich muss Ihnen nicht sagen, dass wir hierfür in Deutschland keineswegs ausreichende kinder- und jugendpsychiatrische Ressourcen vorhalten. Geht man in pädiatrische Risikogruppen, beispielsweise in die Gruppen der ehemaligen Frühgeborenen oder in die aufgrund hervorragender pädiatrischer Medizin beständig wachsende Anzahl chronisch kranker Kinder und Jugendlicher, so schnellt die Prävalenz auf 40 bis 50 Prozent hoch.

Auch der Blick aus der Erwachsenenmedizin macht die Angelegenheit nicht besser. Sie wissen, wie hoch der Anteil manifester psychischer Störungen in den Praxen der somatischen Medizin ist. Sie wissen, wie viele sogenannte funktionale Störungen hinzukommen. Sie wissen, dass 50 Prozent aller psychosomatischen Erkrankungen des Erwachsenenalters ihren Ursprung in Kindheit und Jugend haben.

Darüber hinaus sind Kinder in vielen Bereichen des Lebens nachhaltig benachteiligt. Grundschullehrer sind weniger wert als Sekundarstufe-I- bzw. Sekundarstufe-III-/II-Lehrer. Wir verfahren oft nach dem Motto: je kleiner, desto unwichtiger. Erzieherinnen sind schlechter ausgebildet als Lehrerinnen. Wir lassen 20 Dreijährige mit einer Erzieherin und einer Praktikantin allein. Kindermedizin wird in manchen Bereichen schlechter bezahlt als Erwachsenenmedizin. Wir diskutieren wie bei der Debatte über die Kinderkrippen nicht über die Bedürfnisse von Kleinkindern. Diese Liste ließe sich fortsetzen.

Ich könnte jetzt daraus ableiten, dass wir primär dafür Sorge tragen müssen, dass meine Facharztgruppe der Kinder- und Jugendpsychiater gestärkt werden müsste. Andere Facharztgruppen hier im Raum würden zu Recht darauf hinweisen, dass auch ihre Gruppe auf verschiedene Art gestärkt werden müsste, um die Kindergesundheit zu verbessern.

Ich könnte darauf hinweisen, dass Budgetpauschalen von beispielsweise 43 Euro pro Kind und pro Quartal in Hessen nicht nur dazu beitragen, dass die Praxen in Konkurs gehen, sondern dass die betroffenen behandlungsbedürftigen Kinder und Jugendlichen immer schlechter versorgt werden können. Sie würden mir zu Recht andere Facharztgruppen nennen, die noch dramatischer unterversorgt sind.

Ich könnte darauf hinweisen, dass Jugendmedizin epidemiologisch betrachtet eigentlich Jugendpsychiatrie und Jugendpsychotherapie ist. Sie würden mir zu Recht die Notwendigkeit einer integrierten hausärztlichen pädiatrisch-internistischen Versorgung erklären.

Auch diese Liste ließe sich fortsetzen in der besten ärztlichen Tradition von Arztgruppenkonflikten. Diese Arztgruppenkonflikte können wir angesichts der enormen Bedürftigkeit von Kindern und Jugendlichen und unserer fürsorglichen Verantwortung ihnen gegenüber niemandem kommunizieren, den Kindern am allerwenigsten.

(Beifall)

Lassen Sie es mich einmal anders beschreiben: In meiner täglichen Praxis als Kinderpsychiater und Kinderpsychosomatiker erlebe ich Hausärzte und Kinderärzte, die auf medizinisch höchstem Niveau mit einem immer wieder beeindruckenden und anrührenden Engagement jenseits jeder Gebührenordnung im Kontakt und in der Beratung mit mir nach Lösungen in der Diagnostik, Behandlung und umfassenden Versorgung für ihre Kinder und Familien suchen. Nur wenn wir gemeinsam am Kind stehen, unser Differenzialwissen zusammentragen und daraus Behandlungsstrategien ableiten, entsteht eine im besten Sinne des Wortes integrierte Versorgung.

Das ist nicht etwas, was wir umständlich schaffen müssen; das ist etwas, was wir im Sinne einer Ressourcenaktivierung nur verstärken müssen. Ich habe vorgestern in der ARD gesagt, dass eine Bundesregierung, die ihrer Bevölkerung ein Programm wie "Fit statt fett" verordnen kann, im besten Sinne politischer Fürsorge auch in der Lage sein sollte, die Kindergesundheit zu fördern und vor allem nachhaltig für die Verhinderung von Verwahrlosung, Misshandlung und Missachtung in allen Bereichen zu sorgen.

Lassen Sie uns der Politik vorangehen. Was wir brauchen, sind institutionalisierte Vernetzungen, die einen umfassenden diagnostischen und therapeutischen Blick auf unsere Kinder und ihre Familien werfen. Lassen Sie uns damit aufhören, dass wir uns Patientengruppen streitig machen, uns Kompetenzen absprechen und nur für eigene Budgets kämpfen. Kämpfen wir gemeinsam gegen menschenverachtende, die Kinderrechte missachtende Verknüpfungen von Gesundheitsfürsorge und überzogenen wirtschaftlichen Fesselungen. Nur das gemeinsame Handeln, nur die gemeinsame Verantwortung der Kinder und Familien schafft Grundlagen für eine gemeinsame umfassende Kindergesundheit.

Schaffen wir gemeinsam ein Anreizsystem für Familien mit bio-psychosozialen Risiken, an den Vorsorgeuntersuchungen für ihre Kinder und Jugendlichen teilzunehmen. Schaffen wir gemeinsam eine Erweiterung der Vorsorgeuntersuchungen, um Risikokonstellationen identifizieren zu können, um psychische Erkrankungen bei Kindern frühzeitig erkennen zu können, um psychische Erkrankungen bei Müttern und Vätern erkennen zu können. Schaffen wir gemeinsam eine bessere Ausnutzung der gestuften Versorgung von psychosomatischer Grundversorgung, fachgebundener Psychotherapie und fachärztlicher psychiatrischer und psychotherapeutischer Versorgung. Schaffen wir gemeinsam die Bildung eines ärztlichen Netzes für die Versorgung psychisch und psychosomatisch kranker Kinder und Jugendlicher. Schaffen wir gemeinsam eine spezifische erweiterte psychosomatische Grundversorgung für Kinder und Jugendliche. Schaffen wir ein Sprachrohr für eine umfassende somato-psychische Gesundheit unserer Kinder. Warum es neben Foodwatch und Tierschutz nicht schon längst Childrenwatch gibt, hat sich mir bislang noch nicht erschlossen.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Kinder bedeuten einen unbeschreiblichen Reichtum. Kinder sind unsere Zukunft. Wir Ärzte verstehen nicht nur etwas von Krankheit und Heilung, wir verstehen etwas von Körper und Seele, und wir verstehen etwas von Fürsorge. Lassen Sie uns der Gesellschaft vormachen, was das bedeuten kann. Lassen Sie uns aktiv für Kindergesundheit kämpfen. Lassen Sie uns in realen und virtuellen Zentren für Kindergesundheit inter- und multidisziplinär Kinder und Jugendliche und ihre Familien versorgen. Gehen wir voran!

Danke.

(Beifall)

Präsident Prof. Dr. Dr. h. c. Hoppe: Vielen Dank, Herr Schulte-Markwort, für Ihren Beitrag aus kinderpsychiatrischer und kinderpsychotherapeutischer sowie aus jugendpsychiatrischer und jugendpsychotherapeutischer Sicht. Ich glaube, damit haben wir das Spektrum einigermaßen komplett behandelt.

Wir treten damit in die Diskussion und die Behandlung der bisher vorliegenden 33 Anträge ein. Ich habe die Idee, da es sehr viele Redundanzen gibt, ob es nicht möglich ist, einige Anträge miteinander zu verschmelzen oder als Antragsteller sich zusammenzutun. Wir können natürlich auch von Anfang bis Ende abstimmen. Wenn zu einem Petitum mehrere Beschlüsse gefasst werden, kann das ja nur unterstützend wirken.

Ich muss noch auf Folgendes aufmerksam machen. Es gibt einige gleichartige Anträge, die inhaltlich kleine Unterschiede beinhalten, die aber für die Außenwirkung wichtig sind. Dazu gibt es beispielsweise hinsichtlich der Meldepflicht in Bezug auf die Teilnahme an Vorsorgeuntersuchungen einen Antrag, der beinhaltet, dass die Ärztinnen und Ärzte, die die Vorsorgeuntersuchungen durchführen oder durchführen sollten, eventuelle Meldungen vornehmen, während ein anderer Antrag diese Aufgabe den Eltern überlassen will und die Ärztinnen und Ärzte ausdrücklich eine solche Meldung nicht vornehmen sollen. Das würde sich gegenseitig ausschließen. Solche Überlegungen müssen wir nachher bei der Abstimmung gegeneinander abwägen, damit wir nicht sich widersprechende Beschlüsse fassen und die Außenwelt nachher genauso klug ist wie zuvor. Wir wollen ja vielmehr zur Klarstellung beitragen.

Wir kommen zur Diskussion. Der erste Redner, der sich zu Wort gemeldet hat, ist Herr Professor Kunze aus Bayern, ein bekannter Kinderarzt aus München.

© Bundesärztekammer 2007