Eröffnungsveranstaltung

Dienstag, 20. Mai 2008, Vormittagssitzung

Ulla Schmidt, MdB, Bundesministerin für Gesundheit: Sehr geehrter Herr Professor Hoppe! Sehr geehrte Frau Dr. Wahl! Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister! Frau Kollegin Stolz! Liebe Abgeordnete! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Aber vor allen Dingen: Sehr geehrte Delegierte des Deutschen Ärztetages! Ich danke Ihnen für die Gelegenheit, auf dem 111. Deutschen Ärztetag zu Ihnen zu sprechen. Ich möchte Ihnen gleich zu Beginn die besten Wünsche für einen guten Verlauf auch im Namen der gesamten Bundesregierung übermitteln.

Sie haben sich eine programmatische Standortbestimmung der Ärzteschaft unter veränderten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedingungen vorgenommen. Ich begrüße eine klare Positionierung der Ärzteschaft zu aktuellen Fragen und zu Entwicklungen, die über den Tag hinausgehen. Aber es wird Sie nicht überraschen, dass ich nicht alle Teile der Analyse und manche Schlussfolgerungen teile. Ich stimme aber mit Ihnen absolut überein, dass angesichts des medizinischen Fortschritts und einer Gesellschaft des längeren Lebens die Frage zu klären ist, welche Rahmenbedingungen und Strukturen notwendig sind, damit eine gute Gesundheitsversorgung bei begrenzten Ressourcen für die Zukunft gesichert werden kann.

Mich treibt die gleiche Frage um. Ich bin froh, dass wir uns darauf verständigen konnten, dass wir diese Fragen gemeinsam lösen wollen, dass wir gemeinsam nach Antworten suchen. Ausdruck dessen ist eine Arbeitsgruppe, die hochrangig besetzt ist, die wir mit der Bundesärztekammer und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung auf den Weg gebracht haben. Ich glaube, dass das der einzig richtige Schritt ist, denn die Aufgaben sind sehr vielfältig. Das, was wir gemeinsam angehen können, ist immer besser als das, was wir gegeneinander machen. Ich möchte nicht auf jede Einzelheit im Entwurf des Papiers eingehen, aber lassen Sie mich an dieser Stelle etwas sagen, was mich schon überrascht, nämlich dass von mir eine Art staatlicher Rationierungskatalog gefordert ist, wo ich doch sonst immer gemeinhin mit der vermeintlichen "Staatsmedizin" in Verbindung gebracht werde. Nein, meine sehr geehrten Damen und Herren, Kataloge, welcher Art auch immer, helfen uns nicht weiter. Sie sind nicht die richtige Antwort. Alle Verantwortlichen in unserem Gesundheitssystem sind gefordert, jeder an seiner Stelle: Politik, Kassen, Verbände und auch Sie, die Ärztinnen und Ärzte. Alle müssen diese Verantwortung übernehmen, damit mit den vorhandenen Mitteln, die immer und überall auf der Welt begrenzt sind und auch begrenzt bleiben werden, rational und rationell umgegangen wird. Dies hat für mich mit Rationierung im Sinne von "Zuzahlungsmedizin" - nach welchen Kriterien übrigens, wer legt sie denn fest? - überhaupt nichts zu tun.

Ich bleibe bei meiner Auffassung: Wo es um elementare Lebens- und Gesundheitschancen geht, darf es keine Verteilungskriterien wie Zahlungsfähigkeit oder Altersgrenzen geben. Dies gilt für mich auch für den Zugang zu innovativen Therapien, zum Beispiel in der Onkologie. Dafür, dass das sichergestellt werden kann, möchte ich auch für die politisch Verantwortlichen Verantwortung übernehmen, denn wir in den Parlamenten, Sie in den Gremien der Selbstverwaltung oder auch die Vertragspartner der gemeinsamen Selbstverwaltung müssen ihre Verantwortung übernehmen. Wir müssen die Diskussion darüber führen, welche Rahmenbedingungen geändert werden müssen, damit Qualität und Effizienz des Gesundheitswesens weiter entwickelt werden. Ich finde, dass wir da auch gute Wege eingeleitet haben.

Ich verspreche mir viel davon, dass wir im Bereich der konsequenten Kosten-Nutzen-Bewertung weiterkommen. Sie haben hier erst den Einstieg gefunden, aber wir sind in Deutschland weit davon entfernt, über faire Arzneimittelpreise im Zusammenhang auch mit dem medizinischen Nutzen reden zu können. Wir müssen mehr die Zusammenarbeit zwischen den Sektoren fördern. Ich finde - wir sind hier ja in Baden-Württemberg -, dass der neue Vertrag zur hausärztlichen Versorgung ein Beispiel dafür ist, wie man neue Wege beschreiten kann. Ich weiß, dass dieser Vertrag nicht überall auf Zustimmung stößt. Aber ich finde, jeder sollte sich einmal objektiv anschauen, was in diesem Vertrag steht. Er verbindet eine bessere Versorgung der Patientinnen und Patienten mit dem Abbau von Bürokratie und einer höheren Vergütung der Ärztinnen und Ärzte.

(Widerspruch)

Auf Neudeutsch würde man sagen: Das ist eine Win-win-Situation.

Ich weiß, dass wieder manche sagen: Es reicht immer noch nicht aus. Aber ich finde, hier wurden richtige Schritte getan. Lassen Sie uns doch vorurteilsfrei beurteilen, welche Chancen bestehen. Wenn man sieht, dass hier Entwicklungen entstehen, die so nicht gewünscht sind, dann muss man gegensteuern. Aber immer nur die alten Wege zu gehen, das wird uns nicht weiterbringen.

Die politisch Verantwortlichen müssen für die Ärzte, die neben der medizinischen Verantwortung ja auch ökonomische Verantwortung haben, Rahmenbedingungen festsetzen, und das tun sie auch, und zwar häufig mit sehr großen Veränderungen für die Versichertengemeinschaft. Es geht nämlich immer um die Frage: Was kann in die Verantwortung des Einzelnen übertragen werden, und was muss weiterhin solidarisch abgesichert bleiben? Ich erinnere nur an viele Diskussionen nach Entscheidungen, die wir getroffen haben, zum Beispiel bei der Herausnahme eines Teils der nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittel, bei der Frage, ob Sehhilfen weiterhin erstattet werden, und manches andere mehr. Ich erinnere auch an die Veränderungen bei den Zuzahlungen. Da haben die politisch Verantwortlichen dafür gestanden, dass das so ist.

Meine Damen und Herren, wir alle zusammen werden den Debatten über die Verteilung begrenzter Ressourcen nicht ausweichen können. Sie berühren neben den berufspolitischen Dimensionen Fragen der Medizin, der Volks- und Betriebswirtschaft sowie der Ethik und der Moral. Ist Gesundheit wirklich das höchste Gut, oder konkurriert es mit anderen Gütern wie Bildung oder Alterssicherung? Hängt Gesundheit - individuell und kollektiv - allein von den Leistungsausgaben für die (kurative) Versorgung ab? Gelten im Gesundheitswesen gleiche Maßstäbe für Belastungs-, Leistungs- und Verteilungsgerechtigkeit wie in anderen Lebensbereichen auch? Oder ist nicht doch Gesundheit, ihr Erhalt und ihre Wiederherstellung etwas Besonderes, nämlich die unabdingbare Voraussetzung für die Wahrnehmung von Freiheit und individueller wie gesellschaftlicher Partizipation? Ich bejahe dieses ausdrücklich.

Bei aller Diskussion: Die Deutschen geben im internationalen Vergleich viel Geld für Gesundheit aus. Auch in den letzten Jahren ist es, allen gegenteiligen Debatten zum Trotz, immer mehr geworden. Allein über die Beiträge der gesetzlichen Krankenversicherung sind in den letzten vier Jahren mehr als 13 Milliarden Euro zusätzlich in die Versorgung geflossen. Bei "Versorgung" betone ich, dass dies nicht irrtümlich so interpretiert werden darf, als sei es in die Verwaltungsausgaben geflossen. Die sind gleich geblieben, sind sogar leicht gesunken.

Deshalb muss die Frage gestellt werden: Kann und muss es mehr Geld werden? Oder muss das Geld anders verteilt werden? Für mich ist es beispielsweise nicht akzeptabel, dass in diesem Land mehr Geld für Arzneimittel als für die ambulante ärztliche Behandlung von Menschen ausgegeben wird.

(Beifall)

Ich sage Ihnen: Ich bin bereit, mit Ihnen zusammen gegenzusteuern, weil das so nicht in Ordnung ist.

Über diese und viele weitere Fragen müssen jetzt und in Zukunft die Bundesregierung, der Deutsche Bundestag, die gemeinsame Selbstverwaltung, Krankenkassen und nicht zuletzt die verfasste Ärzteschaft entscheiden. Ich halte nichts von neuen Gremien wie einem "nationalen Gesundheitsgipfel" oder einem "Gesundheitsrat". Ich halte nichts davon, Arbeit und Verantwortung zu verschieben. Allzu oft habe ich erlebt, dass in großen Gremien viel geredet, aber wenig bewirkt wird und dass manche dieser großen nationalen Kommissionen mit den bedeutendsten Menschen dieses Landes besetzt waren, aber am Ende gesagt haben: Man kann es so, aber auch anders machen. Das hilft uns dann wenig weiter. Ich halte es an dieser Stelle lieber mit Willy Brandt, der einmal gesagt hat: Kleine Schritte sind besser als große Worte.

Meine Damen und Herren, die zentralen Werte wie Humanität, Solidarität und Pluralität sind fest in unserem Gesundheitswesen verankert. Wenn zutreffen sollte, dass diese Werte in Gefahr geraten und Ziele verfehlt werden, müssen wir Korrekturen einleiten. Dazu gehört auch eine Debatte über die von Ihnen angesprochene Frage der Finanzierungsbasis unseres Gesundheitssystems. Ich stimme mit Ihnen überein, dass die lohnbezogene Finanzierung bei den veränderten Erwerbsbiografien an ihre Grenzen stößt.

(Beifall)

Das macht auch der aktuelle Armuts- und Reichtumsbericht deutlich. Während der Anteil am Volkseinkommen aus Löhnen und Gehältern sinkt, steigt der Anteil aus Kapital- und Unternehmenseinkommen. Deshalb werden wir nicht daran vorbeikommen, dass wir die Einbeziehung aller Einkünfte in die Beitragserhebung benötigen. Das kann über Steuern geschehen, das kann über die Einbeziehung in die Beitragserhebung geschehen. Wir haben einen ersten Schritt gemacht - ich sage deutlich: einen ersten Schritt - mit der Entscheidung, dass in den kommenden Jahren schrittweise der Steueranteil auf 14 Milliarden Euro erhöht wird. Ich gebe Ihnen recht, Herr Professor Hoppe, dass diese 14 Milliarden Euro gerade die Hälfte dessen ausmachen, was über die gesetzliche Krankenversicherung an gesamtgesellschaftlichen Aufgaben finanziert wird. Wir müssen die Frage der Steuerfinanzierung immer auch mit dem in Einklang bringen, was bei den aktuellen finanziellen Belastungen möglich ist.

Wir werden die Reformvorschläge prüfen. Wir möchten mit Ihnen in den Dialog darüber eintreten. Ich sage aber auch ganz deutlich: Eine Abkehr von der solidarischen Finanzierung unseres Gesundheitswesens und eine Privatisierung von Krankheitsrisiken wird es mit mir nicht geben. Ich habe die Positionen der Ärzteschaft auch nicht so verstanden, als sollte dies so sein. Deshalb lassen Sie uns darüber reden, wie wir die vorhandenen Mittel so einsetzen, dass das erreicht wird, was wir hoffentlich gemeinsam wollen: dass Menschen unabhängig von ihrem Einkommen, unabhängig von ihrer Herkunft in gleicher Weise am medizinischen Fortschritt teilnehmen können und das medizinisch Notwendige für alle bereitgestellt wird.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, der 111. Deutsche Ärztetag befasst sich nicht nur mit Grundsatzfragen, sondern stellt sich auch konkreten Problemen. Die Herausforderungen des demografischen Wandels zeigen sich besonders deutlich am Beispiel der bedarfsgerechten Versorgung von demenzkranken Menschen. Mit der Reform der Pflegeversicherung haben wir Schritte eingeleitet, wir haben die Leistungen für Demenzkranke ausgeweitet. Der Betreuungsbedarf kann besser abgebildet werden. Viele erhalten erstmals Leistungen für die Betreuung. Die ergänzende Betreuungsassistenz in Pflegeheimen ist für viele demenziell Erkrankte eine wichtige Verbesserung ihrer Lebensqualität.

Ich setze auch große Hoffnungen in die verbesserte Einbindung niedergelassener und angestellter Ärzte in die Versorgung der Heimbewohner. Darüber hinaus wollen wir als Bundesregierung das Wissen und die Forschung über Demenzerkrankungen ausweiten. Der Bund stellt über das Bundesbildungsministerium jährlich 60 Millionen Euro zur Verfügung, um Kompetenzen und Forschungsaktivitäten in diesem Lande zu bündeln. Das Bundesministerium für Gesundheit fördert mit 13 Millionen Euro die Versorgungsforschung im Leuchtturmprojekt Demenz.

Auch wenn wir die meisten Demenzerkrankungen bis heute nicht ursächlich behandeln können, hält der Erkenntnisstand in der Medizin zahlreiche Möglichkeiten bereit, beispielsweise die Kommunikationsfähigkeit oder den Orientierungssinn von Demenzkranken zu verbessern, und zwar je früher, desto wirksamer. Ich bin deshalb sehr dafür, dass gerade Hausärztinnen und Hausärzte in der Diagnostik und im Umgang mit Demenz besonders geschult werden. Ich bin neugierig auf die Ergebnisse eines Modellvorhabens im Rahmen des Leuchtturmprojekts Demenz, das sich mit diesen Fragen der Verbindung von stationärer und ambulanter hausärztlicher Versorgung und unter Einbeziehung auch der fachärztlichen Aspekte beschäftigt. Ich glaube, dass wir aus solchen Modellvorhaben und Projekten lernen können, wie wir auch in anderen Bereichen die Versorgung verbessern können. Ich sehe gespannt auf die Ergebnisse, die wir hier erhalten werden.

Meine Damen und Herren, für alle Vertragsärzte ist der 1. Januar 2009 von entscheidender Bedeutung. Dann soll die neue Honorarordnung für ambulante Leistungen in Kraft treten - weg von den floatenden Punktwerten hin zu festen Preisen einer Euro-Gebührenordnung. Ab 2009 wird endlich die unterschiedliche Vergütung zwischen Ost- und Westdeutschland beendet. Die neue Gebührenordnung schafft die Voraussetzung, um den erhöhten Behandlungsbedarf besser abbilden zu können, vor allen Dingen für die Behandlung älterer und demenzkranker Menschen. Qualitätszuschläge und Zusatzpauschalen für chronisch Kranke sind möglich. Leistungen, die besonders gefördert werden sollen, können weiter als Einzelleistung abgerechnet werden. Im geltenden Einheitlichen Bewertungsmaßstab ist beispielsweise der Besuch von Patienten im Pflegeheim, der ja im Zusammenhang mit der Betreuung immer in der Diskussion stand, als Einzelleistung abrechenbar. Ich finde das richtig und unterstütze alles, dass Sie hier in Ihrer Arbeit vorankommen.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich in diesem Zusammenhang eines erwähnen. Eine weitere Feststellung ist nötig: Nur bei einem neuen gerechteren Verteilungsmechanismus über den Gesundheitsfonds und einem zielgenaueren Risikostrukturausgleich können die Honorare der niedergelassenen Ärzte entsprechend der Krankheitsentwicklung der Menschen verteilt und erhöht werden. Eine (steigende) Morbidität kann bei der Bezahlung nur dann berücksichtigt werden, wenn auch die Beitragsmittel zielgenau bei den Kassen landen, die viele kranke und ältere Menschen versichern. Deshalb gehören diese beiden Komponenten eng zusammen. Daher bleibe ich dabei: Der Fonds kommt, denn wir brauchen ihn, damit wir zu einer gerechteren Finanzierung kommen.

Die Reform wird mehr Geld für die ambulante Versorgung bringen und die Vergütung des einzelnen Arztes verlässlicher und gerechter machen. Ich sage dies hier bewusst, und ich weiß, dass ich mit dieser Aussage Verantwortung dafür übernehme, dass die bessere Honorierung bei den im Herbst anstehenden Finanzierungsentscheidungen berücksichtigt wird. Ich kann dies tun, weil es auch in den Koalitionsfraktionen und in der Bundesregierung so diskutiert wurde, dass wir wissen, dass mit der neuen Honorierung auch mehr Geld in die Versorgung fließt, weil wir glauben, dass es notwendig ist, um auf Dauer eine gute Versorgung kranker Menschen sicherstellen zu können.

Ich appelliere an Sie - da schließe ich mich den Appellen von Frau Stolz an -, alles daran zu setzen, dass die Honorarreform mit ihren weiteren Umsetzungsschritten planmäßig abgeschlossen wird. Mit einem transparenten und kalkulierbaren Vergütungssystem bleibt der Arztberuf attraktiv. Nur dann werden wir auf Dauer auch genügend junge Menschen für diesen Beruf gewinnen können.

(Unruhe)

Im Übrigen hätte ich dieses transparente System gern schon mindestens zwei Jahre früher gehabt. Aber wir wollen heute nicht darüber reden, wer daran schuld war, dass das nicht so gekommen ist.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich hatte am 19. Mai die Gelegenheit, auf einer wirklich guten Veranstaltung mit angehenden Medizinern, Pharmazeuten, Pflegern und Versicherungsangestellten über deren Zukunftsperspektiven zu diskutieren. Ich habe dabei die Erfahrung gemacht, dass gerade junge Medizinerinnen und Mediziner, mit denen ich übrigens regelmäßig zusammenkomme, ihre berufliche Perspektive sehr realistisch einschätzen. Für die allermeisten Studierenden spielen Fragen der Arbeitszeit und der Arbeitsorganisation - nicht nur bei dem zunehmenden Teil der Ärztinnen - eine besondere Rolle bei der Entscheidung, ob sie als Arzt oder Ärztin in die medizinische Versorgung gehen.

Hier möchte ich einen Punkt ansprechen, der vielleicht auch von Ihnen mit aufgegriffen werden kann. Vor allem in der Weiterbildung verlieren sich manche Ideale, die für die Studienwahl ausschlaggebend gewesen sind. Mich macht es sehr nachdenklich, wenn in der erwähnten Veranstaltung mit jungen Menschen eine Ärztin berichtet, dass sie als Frau und Mutter keine Weiterbildungsstätte zur Chirurgin fand, sodass sie in den Public-Health-Bereich "abgewandert" ist. Man würde es nicht erwähnen, wenn dies nur ein Einzelfall wäre. Es ist leider öfters der Fall.

Deshalb sage ich hier deutlich: Wer sich - wie auch von Ihnen oft artikuliert - Sorgen über den ärztlichen Nachwuchs macht, der muss angesichts der Entwicklung der Studierendenzahlen die häufig brachliegenden guten beruflichen Qualifikationen von Frauen stärker in den Blick nehmen.

(Beifall)

Ich sage hier auch deutlich: Es wäre schön, wenn Arbeitgeber nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland zukünftig auf die Idee kommen, dem Nachwuchs viel stärker zu zeigen, dass er willkommen ist, dass er gebraucht wird, indem auch hier die Frage gestellt wird: Was können wir als Arbeitgeber für dich tun, damit du Familie und Beruf unter einen Hut bringen kannst?

Wenn ich manche Entwicklung bei der Elternzeit sehe, wird dies auch für die Gewinnung junger Menschen in Zukunft viel bedeutender, als das in der Vergangenheit der Fall war.

Meine Damen und Herren, am häufigsten wird von allen das Bedürfnis nach einer fairen Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen auch anderer Gesundheitsberufe artikuliert. Das ist ein ganz entscheidender Wunsch. Da geht es nie um die Frage, ob der Arzt für die Diagnose oder für die Therapieentscheidung verantwortlich ist, sondern darum: Wie kann die Qualifikation eines jeden Einzelnen so optimal eingesetzt werden, dass Zeit bleibt und Ressourcen freigeschaufelt werden für die ursprünglich ärztliche und für die ursprünglich pflegerische Tätigkeit?

Da so viel davon geredet wird, dass die jungen Menschen alle in den Norden, nach Skandinavien auswandern, nach Finnland, möchte ich Ihnen folgendes Zitat aus dem Wirtschaftsmagazin "brand eins" nicht vorenthalten. Sechs junge Ärzte haben gesagt:

Die Ruhe des Arbeitens und die geregelten Arbeitszeiten der Ärzte

- gemeint ist die Situation in Finnland -

sind möglich, weil Sekretärinnen, Schwestern und ein ausgetüfteltes elektronisches Patienten-Datensystem den Löwenanteil der täglichen Kleinarbeit abnehmen.

(Zurufe)

Wer oder was, meine Damen und Herren, hindert uns in Deutschland eigentlich daran, diesen erfolgreichen Weg der sinnvollen und modernen Arbeitsteilung ebenfalls zu beschreiten? Die Medizinstudierenden haben doch recht, wenn sie in ihrem vor Kurzem veröffentlichten Positionspapier fordern:

Eine Umverteilung von Kompetenzen kann ärztliche Ressourcen freisetzen, die in vollem Umfang den Patienten zugute kommen sollen.

Ich bin ganz sicher und teile hier auch die Auffassung von Frau Dr. Wahl: Die Attraktivität der Gesundheitsberufe entscheidet sich an der Frage, wie künftig die Zusammenarbeit untereinander gestaltet wird. Es wird neue Kooperationsformen geben; überkommene Hierarchien und Aufgabenverteilungen müssen infrage gestellt und Kompetenzen delegiert werden. Für all das müssen die notwendigen Qualifikationen geschaffen werden.

Die Gemeindeschwester AGnES und auch die Modellklauseln, die wir mit dem Pflegeweiterentwicklungsgesetz auf den Weg gebracht haben, sind erste wichtige Lösungsansätze. Weitere werden folgen.

Seien wir doch ehrlich: Gerade der vorhin angesprochene Bereich der Versorgung demenziell erkrankter Menschen und der Versorgung pflegebedürftiger Menschen ist ein klassischer Bereich, in den die Kompetenzen und die Qualifikationen der Pflegekräfte mehr noch als bisher in die Versorgung einbezogen werden müssen.

Auf jeden Fall werden Vernetzung und Kooperation die Gesundheitsversorgung der Zukunft stark prägen. Ich finde es wichtig und gut, dass sich der Ärztetag mit diesen Fragen beschäftigt.

Meine Damen und Herren, die zentrale Herausforderung in der Krankenhauspolitik betrifft die Gestaltung des ordnungspolitischen Rahmens für die Finanzierung der Krankenhäuser. Wie im ambulanten Bereich brauchen wir verlässliche finanzielle und organisatorische Rahmenbedingungen mit Handlungsfreiräumen für die Krankenhäuser. Die überkommene duale Finanzierung und das bettengenaue Bedarfsplanungssystem mit Kontrahierungszwang ersticken viele Eigeninitiativen.

Ich bin davon überzeugt, dass wir eine leistungsfähige pluralistische Krankenhauslandschaft, die eine wohnortnahe Versorgung garantiert, nur erhalten können, wenn wir schrittweise in eine monistische Krankenhausfinanzierung umsteigen und endlich Wettbewerb zulassen. Ich halte es für sinnvoll, dass es für planbare und standardisierbare Leistungen die Möglichkeit zum Abschluss von Einzelverträgen zwischen Krankenhäusern und Krankenkassen geben sollte. Ich werde in den nächsten Wochen einen Gesetzentwurf zur Gestaltung des ordnungspolitischen Rahmens der Krankenhausfinanzierung vorlegen. Ich würde es sehr begrüßen, wenn dieser Entwurf die Unterstützung der Ärzteschaft finden würde.

Ich würde es im Übrigen auch begrüßen, wenn Ärzteschaft und Krankenhausgesellschaft gelegentlich die Länder deutlicher daran erinnern würden, ihren bestehenden Investitionsverpflichtungen auch tatsächlich nachzukommen. Es geht zulasten der medizinischen Versorgung von kranken Menschen, wenn mit den Fallpauschalen Investitionen statt Ärzte und Pflegekräfte bezahlt werden müssen. Das ist ein Fakt. Da ist auch Baden-Württemberg noch die Hälfte von dem entfernt, was eigentlich getan werden müsste.

(Beifall)

Meine Damen und Herren, der Bund ist bereit, seine Verantwortung zu übernehmen. Im Rahmen der Möglichkeiten wollen wir zu einer Linderung der aktuellen Finanzprobleme der Krankenhäuser beitragen:

Erstens. Es deutet sich an, dass schon der bisherige Mechanismus der Anbindung an die Grundlohnentwicklung im nächsten Jahr zu einer gewissen Entspannung führen wird. Die lohnbezogenen Einnahmen der Kassen verbessern sich derzeit deutlich.

Zweitens. Der Sparbeitrag der Krankenhäuser endet definitiv am 31. Dezember 2008.

Drittens. Der Vorwegabzug von 0,5 Prozent für die integrierte Versorgung endet ebenfalls am 31. Dezember 2008.

Alle drei Bereiche zusammen summieren sich bereits auf mehr als 1 Milliarde Euro.

Viertens. Für mich ist unbestritten, dass es kein Zurück zum alten Selbstkostendeckungsprinzip mit automatischer Weitergabe von Lohnerhöhungen geben kann. Das widerspricht dem Fallpauschalensystem. Ich stehe auch dazu, dass in Zukunft vertragliche Lösungen die heutige strikte Grundlohnanbindung ablösen müssen. Aber ich weiß auch, dass ein solches System Zeit erfordert. Deshalb werde ich dem Gesetzgeber vorschlagen, dass bis zu einer vertraglichen Lösung ein Anteil der tarifvertraglich vereinbarten Lohn- und Gehaltssteigerung durch die Kassen finanziert wird, auch um deutlich zu machen, dass wir nach Jahren der Lohnzurückhaltung die Tarifsteigerungen, die auch im Bereich der Krankenhäuser erfolgt sind, für gerechtfertigt halten.

(Beifall)

Meine Damen und Herren, ich weiß aus meinen Besuchen vor Ort, dass die Situation in vielen Häusern, vor allem beim Pflegepersonal, sehr eng ist. Deswegen neige ich fünftens sehr dazu, ein Förderprogramm für die Neueinstellung von Pflegekräften in den Krankenhäusern aufzulegen. Ich könnte mir nach vielen Diskussionen ein Programm vorstellen, das nach dem Muster des Programms zur Förderung innovativer Arbeitszeitmodelle in Krankenhäusern ge­staltet ist. Wir werden jedenfalls sehr schnell unsere Vorschläge auf den Tisch legen, um der negativen Entwicklung im Bereich der Pflege entgegenzuwirken, und wir werden auch Maßnahmen vorschlagen, die eine gerechte Finanzierung der Aus- und Weiterbildung sicherstellen.

Ich bin überzeugt, dass sich mit diesen fünf Punkten die Situation in den Krankenhäusern deutlich verbessern wird.

Meine Damen und Herren, die zum Teil kontrovers geführte Diskussion innerhalb der deutschen Ärzteschaft über die Gesundheitskarte wird häufig durch falsche oder unvollständige Darstellungen genährt. Der Schutz der sensiblen Patientendaten ist gesetzlich verankert. Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz, der - ebenso wie die Landesdatenschutzbeauftragten - die Vorbereitungsarbeiten sehr eng begleitet, hat der elektronischen Gesundheitskarte in Sachen Datenschutz ein sehr gutes Zeugnis ausgestellt. Die Kostenfrage ist geklärt. Kostenträger und KBV haben sich auf eine Finanzierung für die in Arztpraxen erforderlichen stationären und mobilen Kartenterminals geeinigt. In den bisherigen Tests haben wir viele Erfahrungen und auch viele gute Vorschläge - auch aus der Ärzteschaft - erhalten, wie die praktische Umsetzung zu gestalten ist.

Lassen Sie mich an dieser Stelle sagen: Ich bedanke mich sehr herzlich für Ihr ärztliches Engagement. Ich halte das in dieser Frage für einen wesentlichen Erfolgsfaktor. Ich ermuntere Sie ausdrücklich, Ihren Sachverstand auch weiterhin einzubringen. Nutzen Sie für diese und kommende Generationen von Ärztinnen und Ärzten und Patientinnen und Patienten die Möglichkeit, die technologische Modernisierung unseres Gesundheitswesens aktiv mitzugestalten, gerade damit Bürokratie abgebaut wird und Sie als Ärzte wieder mehr Zeit für die Patienten zur Verfügung haben.

Meine Damen und Herren, es ist heute schon sehr viel über den wohl berühmtesten Bürger Ulms geredet worden. Ich konnte dem Oberbürgermeister nichts mehr wegnehmen, weil er vor mir gesprochen hat. Der berühmteste Bürger Ulms, Albert Einstein, hat sinngemäß gesagt: Ein Tag, an dem sich alle Anwesenden völlig einig sind, ist ein verlorener Tag. In gespannter Erwartung Ihrer Rede, Herr Professor Hoppe, bin ich mir schon jetzt ganz sicher: Das wird kein verlorener Ärztetag!

Vielen Dank.

(Beifall)

© Bundesärztekammer 2008