TOP I: Gesundheits-, Sozial- und ärztliche Berufspolitik - Gesundheitspolitische Leitsätze der Ärzteschaft

Dienstag, 20. Mai 2008, Nachmittagssitzung

Henke, Vorstand der Bundesärztekammer: Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben uns, weil traditionell zu Beginn der Ärztetagswoche die Hauptversammlung des Marburger Bundes stattfindet, am vergangenen Samstag und Sonntag ausführlich mit der Vorbereitung des Ärztetages befasst. Wir haben uns auch mit dem "Ulmer Papier" befasst. Wenn man berücksichtigt, dass es der Ärzteschaft ja wenig einbringt, im Rahmen des "Ulmer Papiers" innerärztlich kontroverse Themen als Konsens vorzuspiegeln, dann ist das Papier sehr gut gelungen. Manche bisher zu der Vorfassung geäußerte Kritik läuft mit dem aktuellen Text ins Leere. Der Text bringt insgesamt gut zum Ausdruck, wie wir im ärztlichen Beruf denken und warum wir damit oft zu einem rein ökonomischen Ansatz querliegen.

Jörg Hoppe hat darauf hingewiesen, dass es wichtig ist, dieses Papier als eine innerärztliche Ausgangsposition zu betrachten, dass der erste Adressat, an den es sich richtet, die Ärzteschaft selbst ist. Ich glaube, deshalb ist richtig, was unsere Hauptversammlung in Bewertung des Papiers gesagt hat, nämlich dass sie in den vom Vorstand der Bundesärztekammer entwickelten gesundheitspolitischen Leitsätzen die Grundlage und den Beginn der innerärztlichen Diskussion sieht. Deswegen haben wir uns dafür ausgesprochen, von diesem Ausgangspunkt her die gesundheitspolitischen Positionen der Ärzteschaft kontinuierlich weiterzuentwickeln. Die Leitsätze sind also kein Ersatz für das "Blaue Papier", sind keine umfassende programmatische Standortbestimmung, aber doch eine Verständigung, die auch innerhalb der Ärzteschaft erfolgen muss.

Ich glaube, deshalb sollten wir im Umgang mit dem Papier alle Argumente berücksichtigen, die dazu führen, dass die Debatte über dieses Papier innerhalb der Ärzteschaft, innerhalb der Landesärztekammern, innerhalb der Verbände und innerhalb der interessierten Öffentlichkeit als eine kontinuierliche Debatte geführt wird. Wir dürfen nicht den Eindruck erwecken, als sei diese Diskussion mit dem Ende des Ärztetages praktisch abgehakt. Das kann sie nicht sein, denn das Papier enthält ja viel zu viele Hinweise, die diese Frage in den Blick nehmen: Wie sehr findet eigentlich eine Deformation des Arztbildes auch in unserer eigenen Selbsteinschätzung durch die Rahmenbedingungen, unter denen wir arbeiten müssen, statt? Die vom Vorstand der Bundesärztekammer eingesetzte Arbeitsgruppe, die dieses Papier vorbereitet hat - ihr gehörten unter anderem Präsident Professor Hoppe, Dr. Montgomery und Frau Dr. Goesmann an -, hatte den Auftrag, dieses Papier zu entwickeln. Ich finde, es ist ihr sehr, sehr gut gelungen, die Philosophie des ärztlichen Verhältnisses zum Patienten zum Ausdruck zu bringen und damit auch deutlich zu machen, was uns als Resultat der politischen Rahmenbedingungen und der ökonomischen Überantwortung eines großen Teils der Verantwortung für das Arzt-Patient-Verhältnis in fremde Hände zugemutet wird.

Wir erleben zum Teil unerträgliche Zumutungen, die dazu führen, dass wir uns von dem eigentlichen Impuls, von dem Grundauftrag, der uns einmal dazu geführt hat, das Medizinstudium zu ergreifen, entfernen und distanzieren. Ich bin froh, dass auf der Eröffnungsveranstaltung durch die Rede von Jörg Hoppe klar und deutlich geworden ist: Das haben wir satt, das wollen wir nicht mehr mitmachen! Deshalb muss sich die Gesundheitspolitik mit der Frage auseinandersetzen, mit welchen materiellen Grundlagen sie uns ausstattet, um ein praktisch unbegrenztes Versprechen zu erfüllen.

(Beifall)

Frau Ministerin Schmidt hat uns ja eine Frage gestellt: Ist Gesundheit wirklich das höchste Gut? Meine klare Antwort darauf lautet: Nein, sicher ist Gesundheit nicht das höchste Gut. In meiner Wahrnehmung sind der Schutz der Menschenrechte, die Menschenwürde, die Gewährleistung von Freiheit und Frieden, eine Rechtsordnung zu haben höhere Güter als Gesundheit.

(Beifall)

Ich finde, Menschen, die Leib und Leben dafür einsetzen, die ihre Gesundheit dafür hergeben, um so etwas zu verteidigen, haben alle Achtung verdient. Wir sehen ja in diesen Tagen, wenn wir auf das Land schauen, in dem die Olympischen Spiele stattfinden werden, dass dort Menschen ihr Leben einsetzen, um das Leben anderer nach einem Erdbeben zu retten. Wir erleben, wie empört wir sind, dass in Birma eine Militärjunta sich die Frechheit herausnimmt, Menschen daran zu hindern, sich in Gefahr zu begeben, um andere zu retten. Wir erleben auch, dass Menschen wie die Mönche in Tibet bereit sind, für eine Freiheit zu kämpfen, die ihnen verweigert wird, und dass sie bereit sind, dabei ihre Gesundheit zu riskieren.

Aber das darf man doch nicht als Argument dafür verwenden, um zu sagen: Gesundheit genießt eine mindere Priorität und hat keine Bedeutung. Gesundheit ist vielmehr genauso wie Gerechtigkeit, genauso wie Freiheit, genauso wie die Möglichkeit, ein Gericht anzurufen, ein konditionales Gut. Ein konditionales Gut, also ein Gut, ohne das alles andere nichts mehr ist, bedarf der Daseinsvorsorge durch den Staat. Deswegen ist es unsere Verantwortung, Medizin so gut wie möglich zu betreiben, und die Verantwortung der Politik ist, dafür zu sorgen, dass die Rahmenbedingungen, auch die materiellen Rahmenbedingungen stimmen.

Nun bin ich nicht der Hauptvertreter der niedergelassenen Kassenärzte und will nicht in Konkurrenz zu Herrn Köhler treten. Für die Krankenhausärzte hat die Rede von Frau Schmidt heute Vormittag einige Elemente enthalten, die mindestens etwas Hoffnung aufkeimen lassen, dass das Problem der materiellen Nöte in den Krankenhäusern langsam anerkannt wird. Warum formuliere ich das ein bisschen zurückhaltend? Ich sage: Da wird eine Hand gereicht, da muss man jetzt auch Gespräche führen. Die Tatsache, dass der Grundlohnsummenanstieg dazu führt, dass die Krankenhäuser im nächsten Jahr mehr Geld bekommen könnten, ist Ausdruck der gegebenen rechtlichen Situation. Dafür muss man keine Gesetze ändern.

Bei mir beseitigt das die Zweifel nicht, dass die Frage der Grundlohnsummenanbindung im Prinzip ein Fehler ist; denn gerade dieser Hinweis zeigt ja, wie konjunkturabhängig die Finanzierung wird. Wir haben bei der Befassung mit Arbeitslosigkeit und Armut gelernt, dass in Zeiten, in denen die Konjunktur schlecht ist, die gesundheitliche Belastung zunimmt, mehr Menschen krank werden. Insofern muss man sich wirklich fragen, ob diese prozyklische Finanzierungsform das Richtige ist. Aber natürlich wird man dieses Geld gern nehmen.

Der Abschlag in Höhe von 0,5 Prozent endet per Gesetz sowieso; dafür muss man kein Gesetz mehr ändern. Auch die 0,5 Prozent bei der Integrationsversorgung müssten per Gesetz auslaufen. Ich finde es aber gut, wenn nicht angekündigt wird, dass man diese Sonderopfer weiter bestehen lassen will.

Für sehr gut halte ich die Positionierung, die Tarifentwicklung im Krankenhaus in die Krankenkassenbudgets aufzunehmen. Das ist richtig. Das muss auch geschehen. Leider hat Frau Schmidt davon gesprochen, dass das anteilig erfolgen soll. Wenn es 85, 90 oder 95 Prozent Anteil sind, ist das sicher anders zu bewerten als eine früher existierende Lösung, als es nur um ein Drittel ging. Damit begann nämlich die Finanznot.

Pflegeneueinstellungsprogramm, Aus- und Weiterbildung verlässlich finanzieren - das ist alles willkommen. Man muss sich auch das Kleingedruckte anschauen. Es wird ja einen entsprechenden Gesetzentwurf geben.

Ich finde es gut, dass nach den Äußerungen vor der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und nach den Äußerungen zu den Krankenhäusern heute wenigstens klar wird: Man muss auch über die Dimension der Finanzverteilung in Deutschland reden. Noch besser finde ich, dass Frau Schmidt die Dimension klargemacht hat, denn sie hat gesagt - das sollten wir nicht mehr vergessen -: Die 14 Milliarden Euro Steuermittel, die ja noch gar nicht vorhanden sind, sondern die erst aufgebaut werden sollen, Jahr für Jahr um 1,5 Milliarden Euro steigend, die über den Gesundheitsfonds verteilt werden sollen, sind noch nicht einmal die Hälfte der gesamtgesellschaftlich bedingten Finanzierungslasten bei den gesetzlichen Krankenkassen. Eigentlich, sagt Frau Schmidt, müsste der Steuerzuschuss nach dieser Systematik schon heute in einer Größenordnung erfolgen, die doppelt so groß ist wie diese 14 Milliarden Euro. Damit wird die Dimension der Probleme klar. Wir sollten den Ärztetag nutzen, um diese Dimension der Probleme klarzumachen.

Ich glaube, der Schlüssel dazu, dass Bewegung in die Debatte kommt, ist erstens, dass wir über Rationierung sprechen, ist zweitens, dass wir klarmachen, was auf dem Spiel steht, wenn die Arzt-Patient-Beziehung, wie wir sie in diesem "Ulmer Papier" beschrieben sehen, verwandelt wird in eine Betreuung durch provisorische Lösungen oder durch industrielle Investoren, die nur an der Rendite interessiert sind.

Deswegen lassen Sie uns ein klares Bekenntnis ablegen: Ja zu einem Arztbild, das Arzt und Patient auf gleicher Ebene sieht, in einer freundschaftlichen Beziehung, mit einem freundschaftlichen Berater, aber eben nicht als Sachwalter fremder Interessen, die uns oktroyiert würden.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall)

Präsident Prof. Dr. Dr. h. c. Hoppe: Schönen Dank, Rudolf Henke. - Als Nächster der Kammerpräsident von Berlin, Herr Kollege Jonitz.

© Bundesärztekammer 2008