TOP I: Gesundheits-, Sozial- und ärztliche Berufspolitik - Gesundheitspolitische Leitsätze der Ärzteschaft

Dienstag, 20. Mai 2008, Nachmittagssitzung

Prof. Dr. Dr. habil. Dietrich, Bayern: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Hoppe, nachdem Sie jetzt so viel Lob erfahren haben, gestatten Sie mir, dass ich vielleicht etwas Essig in Ihren Wein gieße und etwas kritische Anmerkungen mache. Sie haben Ihr Papier, das "Ulmer Papier", einen ersten Aufschlag genannt. Meiner Meinung nach ging dieser Aufschlag voll ins Netz. Bei der Technik, die Sie beim Aufschlag haben, fürchte ich, dass auch Ihr zweiter Aufschlag ins Netz gehen wird und Sie hier einen fürchterlichen Doppelfehler produziert haben.

Lassen Sie mich das an zwei Beispielen klarmachen. Der erste Punkt ist die Diskussion über Rationierung im Gesundheitswesen, die wir während der vergangenen zwei Tage hatten. Herr Hoppe, Sie reden schon seit Jahren über die schleichende Rationierung, die wir haben. Jetzt auf einmal kommt dieses Thema auf: Es ist die offene Rationierung.

Es ist doch eine Bankrotterklärung, wenn wir mit unserem deutschen Gesundheitswesen nicht in der Lage sind, unsere Patienten adäquat zu behandeln. Wir haben das drittteuerste Gesundheitswesen der Welt. Nur zwei Länder auf der Welt geben mehr Geld für Gesundheit aus als wir. Und dann sagt unser Präsident: Das Geld reicht nicht, wir müssen Mangelmedizin betreiben.

Das ist eine Bankrotterklärung, die ich beschämend und fürchterlich finde. Herr Hoppe, Sie hätten stattdessen lieber auf alle Probleme der Über- und Fehlversorgung eingehen können.

(Widerspruch)

- Ich glaube, ein bisschen Selbstkritik täte nicht nur Ihnen, sondern auch dem Papier ganz gut.

Auch Sie wissen, dass heute kaum noch ein Kopfschmerzpatient durch die Praxis gehen kann, ohne in ein CT zu kommen. Sie wissen, dass man sich nicht mehr das Knie verrenken kann, ohne durch ein MRR geschoben zu werden, oder dass man keinen Herzkasper mehr haben kann, ohne einen Herzkatheter zu bekommen. Das ist doch die Wirklichkeit bei uns. Darauf müssen wir eingehen, dass einfach nicht alles, was möglich ist, für den Patienten auch gut ist Das fehlt mir völlig in dem Papier und auch in der Kritik von Herrn Hoppe.

Natürlich können wir bei jedem Patienten jeden Tag drei Ultraschalluntersuchungen machen, aber der Patient wird davon nie und nimmer gesünder. Ich glaube, das ist der wesentliche Punkt. Und das hätte Herr Hoppe ansprechen können.

Neben dieser Bankrotterklärung ist das Papier auch eine Vorlage für das, was Sie, Herr Hoppe, "grauen Markt" genannt haben. Jetzt kann jeder unserer Kollegen - Sie hier natürlich nicht, Sie sind ja alle gute Kollegen, aber die bösen Kollegen, die es vielleicht auch noch gibt - kommen und dem Patienten sagen: Kassenmedizin ist Mist, das ist Unterversorgung, das ist Mangelversorgung, das ist Grundversorgung. Wenn ihr richtige Medizin haben wollt, dann müsst ihr leider zuzahlen. Zahlt einen Hunderter und ihr bekommt die bessere Medizin. Schließt eine Zusatzversorgung bei der Privatversicherung ab, dann bekommt ihr eine richtige Medizin.

Das ist eine Desavouierung unserer gesetzlichen Krankenversicherung und der Beginn einer Untergrabung unseres solidarischen Gesundheitssystems, in dem jeder Patient das gleiche Recht auf eine gute und ausreichende Versorgung haben sollte. Mit dieser Polemik, die nach außen getragen wird, wird das meines Erachtens untergraben.

Ich finde diesen Punkt fürchterlich und schlimm. Es tut mir sehr, sehr leid, dass das so in die Öffentlichkeit getragen wird.

Ein weiterer Punkt: die evidenzbasierte Medizin. Sie legen sehr viel Wert auf das Arzt-Patient-Verhältnis, das ja auch sehr wichtig ist. Das ist lobenswert und gut. Nur, meine Damen und Herren, wer heute noch meint, dass Medizin eine Kunst ist, in der jeder Künstler frei gestalten kann, was er will, wo jeder sein Bild malen kann, wo er die Farben bestimmt, täuscht sich. Wir haben eine Naturwissenschaft, und Naturwissenschaft ist eine mehr oder weniger exakte Medizin. Diese exakte Medizin funktioniert nach bestimmten Spielregeln. Eine tiefe Beinvenenthrombose ist eine tiefe Beinvenenthrombose, und wer sie mit Brennnesselextrakt behandeln will, soll es tun, aber er entfernt sich einfach von der Grundlage der naturwissenschaftlichen Medizin. Das ist evidenzbasierte Medizin. Das haben wir, das müssen wir verteidigen, das müssen wir ausbauen.

Das heißt natürlich nicht, dass jeder Patient gleichbehandelt wird, das ist eine antiwissenschaftliche Polemik. Natürlich heißt evidenzbasierte Medizin, dass das, was evident ist, was aus den Studien und den wissenschaftlichen Untersuchungen herausgekommen ist, individuell an den Patienten angepasst werden muss. Natürlich muss ich schauen: Passt das zu diesem Patienten? Wenn ein Kolonkarzinom festgestellt wird, dann beginnt die Kunst des Arztes erst dann, wenn ich den Patienten mit seinem Schicksal begleiten kann, wenn ich ihm sagen kann: Sie können dieses und jenes noch tun. Aber zu erklären, evidenzbasierte Medizin sei eine schematisierte Medizin, womöglich eine Staatsmedizin, ist das Schlimmste, das es überhaupt gibt. Das ist schlecht und schlimm und antiwissenschaftlich. Es bleibt weit hinter dem zurück, was wir in der Wissenschaft in den letzten 20, 30 Jahren erreicht haben.

Insgesamt handelt es sich meiner Ansicht nach um ein extrem rückwärtsgewandtes Papier: Vor 20 Jahren war alles gut, wir konnten alles tun, wir brauchten keine Versorgungsforschung, die Ärzte waren gut, die Patienten waren zufrieden, die Politik brauchte kein Geld, in den Krankenkassen saßen die Gewerkschaftsfunktionäre, alles war toll und gut. Seit der Großen Koalition kommt die böse Politik - das fing schon mit Herrn Seehofer an -, alles ist böse, wir haben eine Staatsmedizin, wir haben Dirigismus, wir haben fast wieder die DDR, alles ist schlecht.

Herr Hoppe, wir sollten nach vorn schauen. Es hat doch überhaupt keinen Zweck, immer nach hinten zu schauen und zu sagen: Wie schön war doch die Vergangenheit! Ich erwarte, dass wir fantasievolle Lösungen für die Probleme finden, die wir im Gesundheitswesen haben. Aber immer zu sagen - wie Sie es heute Morgen auch wieder getan haben -, gestern war alles gut, heute ist es schlecht, morgen wird es noch schlechter - meine Damen und Herren, das wird uns überhaupt nicht weiterbringen, das schadet unserem Gesundheitswesen, das untergräbt das solidarische Krankenversicherungssystem.

Dieses Vorgehen fördert letztendlich die Privatinitiative, die Privatwirtschaft, die Industrialisierung, also genau das, wogegen Sie in meines Erachtens richtiger Art und Weise argumentieren. Aber genau das wird gefördert: Der Staat kann es nicht, die Krankenkassen wollen es nicht, wir dürfen es nicht, also muss es die private Industrie übernehmen. Schon haben wir die Gesundheitsindustrie, die wir alle nicht haben möchten.

Mein Vorschlag lautet, nach vorne zu schauen und nicht immer rückwärtsgewandt zu argumentieren und uns gegenseitig auf die Schulter zu klopfen und uns zu sagen: Wie schön war es doch gestern! Schauen Sie nach morgen!

Danke schön.

(Beifall)

Präsident Prof. Dr. Dr. h. c. Hoppe: Schönen Dank. - Jetzt kommt Frau Haus aus Nordrhein.

© Bundesärztekammer 2008