TOP II: Situation pflegebedürftiger Menschen in Deutschland am Beispiel Demenz

Mittwoch, 21. Mai 2008, Vormittagssitzung

Prof. Dr. Kruse, Referent: Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich möchte mich zunächst herzlich dafür bedanken, zu diesem Vortrag eingeladen worden zu sein. Erlauben Sie mir, diesen Vortrag mit einem Beispiel aus der Praxis der Versorgung demenzkranker Menschen, so wie wir diese an einem Universitätsinstitut erleben können, zu beginnen.

Vor ungefähr anderthalb Jahren kam ein Ehepaar zu uns in das Institut mit der Bitte, die von dem Ehemann geäußert wurde, dass bei der Ehefrau mit bildgebenden Verfahren bzw. psychometrischen Verfahren eine Aussage darüber getroffen werden solle, inwiefern es sich um eine demenzielle Erkrankung bei der Frau handele, ob bei der Frau eine Alzheimerdemenz oder eine andere Form der Demenz vorliege. Nachdem wir die Bildgebung hatten und nachdem wir die psychometrischen Verfahren abgeschlossen hatten, mussten wir dem Ehepaar mitteilen, dass die Ehefrau an einer weit fortgeschrittenen Alzheimerdemenz leide, die ihre kognitive Leistungskapazität ebenso wie ihre Persönlichkeit zum Teil erheblich verändert habe.

Als wir diese Aussage getroffen hatten, antwortete der Ehemann in folgender Weise: Zunächst werde ich meine Frau töten, und in einem weiteren Schritt werde ich mich selbst töten. Wir hatten dann eine sehr ausführliche Diskussion darüber, auch mit den medizinischen Kollegen bei unserem Institut, was dieses Ehepaar tun könne, damit die Frau eine adäquate medizinisch-pflegerische Versorgung erhalte bzw. was das Ehepaar auch psychologisch tun könne, damit die schwere Diagnose einer progredienten Alzheimerdemenz psychologisch bzw. seelisch bewältigt werden könne.

In diesem Kontext wurde dann auch die Frage gestellt, inwiefern Menschen mit einer schweren Demenz, die irgendwann einmal zum Tode führen wird, ein menschenwürdiges Leben führen können bzw. inwiefern die medizinisch-pflegerischen Maßnahmen die Möglichkeit eröffnen, ein Leben zu führen, welches bestimmt ist von Lebensqualität.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich dieses Fallbeispiel noch kurz kommentieren mit einem lyrischen Beitrag von Rainer Maria Rilke, bevor ich dann in die fachliche Diskussion eintrete. Es gibt ein sehr eindrucksvolles Gedicht von Rainer Maria Rilke, das für uns als Altersforscher überaus bedeutsam ist, wenn es um die Frage geht, inwiefern es Menschen auch dann, wenn sie an schweren körperlichen bzw. seelisch-geistigen Erkrankungen leiden, möglich ist, ein gutes Leben im Alter führen zu können. Dieses Gedicht – Sie werden es wahrscheinlich alle kennen – lautet:

Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren laß die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

Meine Damen und Herren, warum konfrontiere ich Sie mit diesem Gedicht? Der eigentliche Akzent liegt auf der Formulierung "dränge sie zur Vollendung hin und jage die letzte Süße in den schweren Wein". Was wir damit zum Ausdruck bringen wollen – ich glaube, hier wird eine sehr wesentliche Komponente der ärztlichen Tätigkeit angesprochen –, ist, dass wir den gesamten Lebenslauf als eine Einheit betrachten, das Alter als eine bedeutsame Komponente des Lebenslaufs, und dass eine zentrale Aufgabe des Menschen auch im hohen und im höchsten Lebensalter darin zu sehen ist, sein Leben zu einer Vollendung zu bringen.

Eine der größten Sorgen älterer Frauen und Männer besteht darin, dass die Möglichkeit, den Lebenslauf zu einer Vollendung zu bringen, nicht gelingt, weil möglicherweise eine Alzheimerdemenz oder eine vaskuläre Demenz oder eine Demenz anderen Typs auftritt.

Ich darf Ihnen an dieser Stelle sagen, dass die niedergelassenen Ärzte ebenso wie Klinikärzte, die sich mit Fragen der Geriatrie und der Gerontopsychiatrie befassen, ebenso wie wir in der Forschung mehr und mehr mit der Frage älterer Menschen konfrontiert werden: Werden wir angesichts der Tatsache, dass wir eine solche bemerkenswerte Zunahme der durchschnittlichen Lebenserwartung registrieren dürfen, mit dem erhöhten Risiko der Demenzerkrankung konfrontiert sein? Wird dies dazu führen, dass wir eine zentrale Aufgabe unseres Lebens, nämlich das Leben zu einer Abrundung, zu einer Vollendung zu bringen, nicht erfüllen können?

Ich sage, dass hier eine wichtige ärztliche Tätigkeit angesprochen ist, die man vielleicht in den 50er-, 60er- und Anfang der 70er-Jahre des letzten Jahrhunderts mit dem Begriff der ärztlichen Seelsorge umschrieben hat. Lassen Sie mich an dieser Stelle eindeutig akzentuieren: Mit derartigen Fragen wird die praktische Medizin in immer stärkerem Maße konfrontiert. Ich möchte schon hier in Klammern sagen, meine Damen und Herren: Das wird letzten Endes auch zu Finanzierungsfragen führen. Die Tatsache, dass wir diese bemerkenswerte Zunahme bei der durchschnittlichen Lebenserwartung haben – heute sind 4,2 Prozent der Bevölkerung 80 Jahre und älter; im Jahre 2040/2045 werden es circa 13 Prozent sein –, trägt dazu bei, dass uns Aspekte der Multimorbidität, dass uns Aspekte der chronischen Erkrankungen und dass uns vor allen Dingen Aspekte der hirnorganischen Erkrankungen auch im praktischen Handeln immer stärker beschäftigen werden. Hier müssen aus unserer Perspektive Medizinerinnen und Mediziner in einer ganz anderen Art und Weise auch finanziell ausgestattet sein, um dieser bemerkenswerten Aufgabe, mit der das hohe Alter im wachsenden Maße konfrontiert, gewachsen zu sein.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich einige Sätze zur Entwicklung der Demenzerkrankung, was die Epidemiologie angeht, vortragen. Wir gehen davon aus, dass in der Bundesrepublik Deutschland heute ungefähr 1,05 Millionen Menschen an einer demenziellen Erkrankung leiden, die symptomatisch ist. Es ist für die Medizin überaus bedeutsam, hier zu differenzieren zwischen einer stummen, subsymptomatisch verlaufenden Demenz auf der einen Seite und einer symptomatischen Demenz auf der anderen Seite. Wir gehen nämlich davon aus, dass vor dem Zeitpunkt, zu dem eine Demenz symptomatisch wird, diese Erkrankung ungefähr acht bis zehn Jahre – einige Kollegen sagen sogar: zehn bis 15 Jahre – stumm verläuft. Das heißt, wir können diese Erkrankung noch nicht diagnostizieren, wir können sie vor dem Hintergrund der bestehenden diagnostischen Möglichkeiten noch nicht eindeutig diagnostizieren. Wenn die Demenz aufgetreten ist, und zwar in der Weise, dass sie symptomatisch verläuft, sodass wir sie als Demenz diagnostizieren können, beträgt die durchschnittliche Lebenserwartung, also von dem Zeitpunkt, an dem die Erkrankung symptomatisch wurde, bis zum Zeitpunkt des Todes, ungefähr sieben bis neun Jahre. Es gibt demenzkranke Patienten, die noch 12, 14 oder sogar 15 Jahre leben.

Mit anderen Worten, meine Damen und Herren: Die demenzielle Erkrankung ist eine chronisch progrediente Erkrankung, die einen überaus langen und intensiven Versorgungsbedarf mit sich bringt.

Ich habe eben gesagt: Heute sind 1,05 Millionen Menschen in der Bundesrepublik Deutschland demenzkrank, oder die Demenzdiagnose ist eindeutig gesichert. Wir gehen davon aus, dass im Jahre 2040  2 Millionen, vielleicht auch über 2 Millionen Menschen in der Bundesrepublik Deutschland an einer Demenz leiden werden.

Hier vielleicht noch eine ökonomische Position. Die durchschnittlichen Behandlungskosten für einen demenzkranken Menschen betragen im Jahr 43 367 Euro. Sie können sich also vorstellen, welche ökonomische Versorgungslast auf die Bundesrepublik Deutschland allein aufgrund der Tatsache zukommt, dass wir es mit einer deutlichen Zunahme bei der Anzahl demenzkranker Menschen zu tun haben werden.

Ein weiterer Punkt sei an dieser Stelle artikuliert, nämlich dass die meisten Demenzerkrankungen – das wird unseres Erachtens in der Fachöffentlichkeit vielfach nicht richtig wiedergegeben – mit Multimorbidität assoziiert sind. Wir haben ja noch vielfach die Vorstellung, dass ein Mensch körperlich noch relativ gesund ist und nur eine schwere hirnorganische Einschränkung hat, wenn wir bei ihm die Diagnose Demenz treffen müssen. Diese Vorstellung ist vielfach falsch. Die meisten demenzkranken Menschen leiden an mehreren körperlichen Erkrankungen. Das heißt, zur Demenz gesellt sich noch die körperliche Multimorbidität.

Von den 1,05 Millionen Menschen, bei denen eine Demenz gesichert ist, leben ungefähr 400 000 in einer stationären Einrichtung der Altenhilfe. Diese stationären Einrichtungen sagen uns: Wir beobachten vielfach einen eklatanten Mangel in der ärztlichen Kompetenz, wenn es darum geht, eine Demenz zu diagnostizieren, wenn es darum geht, einen demenzkranken Menschen therapeutisch-rehabilitativ bzw. pflegerisch zu begleiten.

Die anderen 605 000 demenzkranken Menschen leben im ambulanten Bereich, das heißt, sie werden von Pflegenden oder von Angehörigen betreut oder leben sogar ganz allein im Haushalt und erfahren eine zum Teil gar nicht regelmäßig stattfindende Betreuung durch ambulante Dienste.

Ein nicht kleiner Teil der pflegenden Angehörigen demenzkranker Menschen steht selbst im Alter.

Das soll Ihnen zeigen, wie ausgeprägt der Versorgungsbedarf ist. Meine Damen und Herren, wir werden in den nächsten Jahren eine hochbedeutsame ethische Diskussion zu erwarten haben, eine ethische Diskussion über die Frage, ob unsere Gesellschaft in ein so schwerkrankes Leben investieren soll. Wir werden eine Diskussion über das Thema bekommen, ob ein Mensch mit einer schweren Demenzerkrankung überhaupt noch ein menschenwürdiges Leben führt. Meine Damen und Herren, da erbitten wir als Altersforscher, die viel in der Praxis tätig sind, Ihr klares Votum zu der Aussage, dass die Gesellschaft bzw. dass der Mensch nicht die Menschenwürde eines anderen definiert, diese nicht bestimmt.

(Beifall)

Wir erbitten Ihr Votum in der Richtung, um eine Aussage Ihres Präsidenten, die ich heute im "Deutschen Ärzteblatt" lesen konnte, aufzugreifen, dass der Aspekt der Daseinsvorsorge ein zentraler ist, der in dem Maße an Zentralität gewinnt, in dem wir es mit schwerstkranken Menschen zu tun haben, die ihre Bedürfnisse vielfach nicht selbst artikulieren können.

Schließlich sollten wir uns auf die Tatsache besinnen, dass wir in einer Gesellschaft leben, der deutlich gemacht werden muss, dass in einer Gesellschaft des langen Lebens der Einzelne sehr viel mehr in die gesundheitliche Vorsorge investieren muss, dass der Einzelne sehr viel mehr in eine gute Qualität der medizinischen Versorgung genauso wie in eine gute Qualität der pflegerischen Versorgung investieren muss.

Meine Damen und Herren, hier sehen wir eine hochbedeutsame Aufgabe für die Politik. Wir sehen diese Aufgabe darin, in der Öffentlichkeit wahrhaftig zu kommunizieren, dass in einer Gesellschaft des langen Lebens der einzelne Mensch in der individuellen Finanzplanung seines Lebens, in der individuellen Antizipation der Aufgaben in seinem Leben sich viel mehr mit der Frage auseinandersetzen muss: Was willst du in eine gute gesundheitliche und was willst du in eine gute pflegerische Versorgung investieren? Auch dieser Punkt muss viel mehr als heute in den öffentlichen Raum hineingetragen werden.

Wenn sich das einzelne Individuum nicht der Tatsache bewusst ist, dass wir alle uns als Gemeinschaft, als Gesellschaft, als Polis konstituieren, wenn es sich nicht der Tatsache bewusst ist, dass es auch selbst durch Vorsorge in sein eigenes Alter investieren muss, ist es durchaus möglich, dass wir später aufgrund großer Verlegenheit, aufgrund der Tatsache, dass keine adäquaten Antworten mehr gegeben werden können, die Ausrede hören müssen: Es gibt ein bestimmtes Leben, das hat keine Menschenwürde mehr, deshalb ist es auch nicht nötig, dass wir uns in vollem Maße medizinisch oder pflegerisch diesem Leben zuwenden und es unterstützen.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich in Bezug auf die Demenzerkrankung einige Aspekte akzentuieren. Es ist meine Aufgabe, nur bestimmte Akzente vorzutragen und sie nicht ausführlich zu explizieren. Sie werden in Ihren Unterlagen eine Langfassung meines Vortrags finden, in der viele Befunde aufgeführt sind, die die folgenden Akzentsetzungen stützen sollen.

Die erste Akzentsetzung: Wenn Sie über Demenz sprechen, wenn Sie vorhaben, sich in der Öffentlichkeit zum Thema Demenz zu äußern, bedenken Sie bitte immer Folgendes: Demenz ist keine Erkrankung, sondern Demenz ist ein Oberbegriff für zahlreiche Erkrankungen. Es gibt nicht die Demenz, sondern es gibt sehr verschiedenartige, ätiologisch sehr verschiedenartige Demenzen. Das ist bedeutsam, denn eine sehr wichtige Aufgabe der medizinischen Diagnostik ist allein schon darin zu sehen, genau zu bestimmen, um welche Form der Demenz es sich handelt, welche Ätiologie die bestimmte Demenzform, mit der man konfrontiert ist, hat.

Bitte bedenken Sie in diesem Kontext auch Folgendes: Nur 30 Prozent der demenzkranken Menschen in der Bundesrepublik Deutschland sind adäquat diagnostiziert. Das ist ein Skandalon! Das heißt, 70 Prozent der demenzkranken Menschen haben keine gesicherte Diagnose, sind nicht adäquat diagnostiziert. Man geht vielfach davon aus, dass sie eine Demenz haben, ohne aber eine Differentialdiagnostik zu versuchen.

Das ist, meine Damen und Herren, meines Erachtens nicht nur ein fachliches Problem, sondern das ist ein sittliches bzw. auch ein ethisches Problem.

Zweiter Punkt. Wir gehen davon aus, dass wir Teile der Demenzerkrankungen, bestimmte Demenzformen prävenieren können. Hier wird der Aspekt der Prävention sehr wichtig. Beispielsweise machen die gefäßbedingten Demenzen ungefähr 18 bis 20 Prozent aller Demenzerkrankungen aus. Diese kann man prävenieren. Mittlerweile sind wir sogar optimistisch, dass wir die Alzheimerdemenz, also die neurodegenerative Demenz, durch gute kognitive Trainingsmaßnahmen, also sehr anspruchsvolle kognitive Trainingsmaßnahmen, aber auch durch sehr anspruchsvolle körperliche Trainingsmaßnahmen wenigstens in Teilen in der Hinsicht prävenieren können, dass diese Demenzform erst später auftritt. Diese Präventionspotenziale genau zu bestimmen bzw. Patientinnen und Patienten über diese Präventionspotenziale genauer Auskunft zu geben, ist eine überaus bedeutsame Aufgabe der ärztlichen Tätigkeit.

Ich sage das deswegen, weil sich Ihr Anliegen, in der Öffentlichkeit darüber zu diskutieren, mit welchen finanziellen Ressourcen Medizinerinnen und Mediziner ausgestattet sind, um eine fachlich und sittlich-ethisch adäquate Arbeit leisten zu können, sich besonders am Beispiel der Demenzerkrankung konkretisieren lässt, weil vielfach gesagt wird: Solche Aussagen in Bezug auf die Prävention, solche Aussagen in Bezug auf die Differentialdiagnostik sind Aussagen, die vielleicht gar nicht diese umfassende fachliche Expertise brauchen. Wir hingegen würden sagen: Sie brauchen eine besondere fachliche Expertise und damit natürlich auch eine adäquate finanzielle Ausstattung jener Personen, die diese fachliche Expertise der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen.

Meine Damen und Herren, wir haben in Bezug auf die Demenz mittlerweile die neurodegenerative Demenz vom Alzheimertyp, wir haben in Bezug auf die Demenz mittlerweile einen gewissen Optimismus, dass wir beispielsweise durch Azetylcholinesterasehemmer die Demenz in ihrer frühen Phase symptomatisch beeinflussen können. Aber hier stehen wir vor dem nächsten ethischen Problem, dass nicht wenige Krankenkassen sagen: Wir zahlen diese Azetylcholinesterasehemmer deshalb nicht, weil sie unverhältnismäßig teuer sind. Aus der Perspektive der demenzkranken Menschen, aus der Perspektive der Angehörigen hören Sie aber: Wenn Sie den Symptomverlauf einer Demenz, den kognitiven Symptomverlauf ebenso wie den verhaltensbezogenen Symptomverlauf, über anderthalb oder zwei Jahre, vielleicht sogar über drei Jahre signifikant beeinflussen können, dann ist das eine ganz bemerkenswerte Zunahme an Lebensqualität, und deshalb können wir nicht verstehen, warum diese potenziell wirksamen Medikamente nicht verordnet werden.

Sie sehen hier sofort wieder eine Güterabwägung, die uns nicht nur in fachliche, sondern auch in ethische Problembereiche führt.

Kurz von der Therapie noch zur Rehabilitation und dann zur Pflege. Wir haben mit Krankenkassen und Pflegekassen schon häufig Diskussionen darüber geführt, dass es durchaus sinnvoll sein kann, bei Demenzerkrankungen bzw. bei Menschen, die an einer Demenz leiden, Rehabilitationsmaßnahmen durchzuführen, weil sie auch dazu führen können, dass wir den kognitiven Symptomverlauf ebenso wie den verhaltensbezogenen und den persönlichkeitsbezogenen Symptomverlauf positiv beeinflussen können. Wir haben als Institut häufig die Aufgabe, als Obergutachter tätig zu werden, der sich mit der Frage auseinanderzusetzen hat: Sind die abgelehnten Rehabilitationsanträge bzw. die diesen Anträgen zugrunde liegenden Begründungen fachlich oder sittlich-ethisch zu akzeptieren? Wir haben manchmal den Eindruck, dass gerade in Bezug auf Entscheidungen über die Rehabilitation vielfach nicht fachlich adäquat und auch nicht differenziert geantwortet wird, weil man es mit hochbetagten Menschen zu tun hat, vor allen Dingen mit hochbetagten Menschen, die an einer Demenz leiden.

Damit komme ich zu meinem letzten Punkt, der Pflege. Das führt uns zentral in das Problem der Menschenwürde. Bevor ich Ihnen zwei oder drei Aussagen zu unseren Projekten mache, die wir mit schwerstkranken demenzkranken Menschen durchführen, will ich zunächst einmal den großen Schriftsteller Friedrich Schiller zu Wort kommen lassen, der in den Jahren 1789 und 1790 zur Menschenwürde Folgendes geschrieben hat, was hochbedeutsam ist. Ich darf zitieren – und erbitte Ihr völliges Schweigen, weil jetzt einer der ganz Großen zu uns spricht –:

Nichts mehr davon, ich bitt Euch. Zu essen gebt ihm, zu wohnen. Habt Ihr die Blöße bedeckt, ergibt sich die Würde von selbst.

Ein Jahr später:

Der Menschheit Würde ist in Eure Hand gegeben. Bewahret sie! Sie sinkt mit Euch! Mit Euch wird sie sich heben!

Was meint Friedrich Schiller mit diesen beiden Zitaten? Zum einen das, was für uns am Institut für Gerontologie das Leitbild ist: Dem Menschen ist qua Mensch Würde gegeben. Das heißt, auch in den schwersten Situationen der Palliation würden wir uns nie anheischig machen, die Würde eines Menschen in Abrede zu stellen.

Aber es bedarf tiefgreifender, es bedarf umfassender Betreuungs- bzw. Versorgungsleistungen, die hier in den Worten ausgedrückt sind: "Zu essen gebt ihm, zu wohnen. Habt Ihr die Blöße bedeckt, ergibt sich die Würde von selbst". Eine schönere Umschreibung dessen, was wir unter Palliativmedizin verstehen, was wir unter Palliativpflege verstehen, kann man kaum geben. Palliation kommt vom lateinischen "pallium". Das bedeutet übersetzt "Mantel". Wir legen um einen Menschen den Mantel, und zwar mit dem Ziel, ihm eine fundamentale Versorgung angedeihen zu lassen, auf dass sich die Würde des Menschen auch in einer Grenzsituation des menschlichen Lebens verwirklichen kann.

Wir haben dies in einem großen Projekt versucht, das von der Bundesregierung sehr umfassend gefördert wurde. Wir haben es "Heidelberger Instrument zur Erfassung der Lebensqualität demenzkranker Menschen" genannt. In diesem Projekt haben wir mit vielen demenzkranken Menschen zu tun gehabt, die nicht mehr in der Lage waren, verbal zu kommunizieren. Nicht wenige Kolleginnen und Kollegen von uns im In- und Ausland haben gefragt: Warum beschäftigt ihr euch mit dieser Problemgruppe, sie kann überhaupt nicht mehr verbal kommunizieren, wir gehen davon aus, dass diese Menschen auch keine Affekte bzw. keine Emotionen mehr haben.

Wir haben erklärt: Was ihr hier trefft, ist ein Werturteil. Was ihr hier nicht trefft, ist ein Urteil, das auf der instrumentellen Vernunft gründet. Das ist kein empirisch fundiertes Urteil. Wir werden uns jetzt in jahrelanger Arbeit mit der Frage auseinanderzusetzen haben, inwieweit wir eurem Werturteil ein empirisches Urteil hinzugesellen können, das möglicherweise euer Werturteil sogar falsifiziert.

Wir hatten bei schwerstdemenzkranken Menschen Folgendes beobachtet: Bei einer mimischen Ausdrucksanalyse, die wir vielfach videobasiert durchgeführt haben, nachdem wir alle betreuungsrechtlichen Fragen geklärt haben, wurde deutlich, dass demenzkranke Menschen über ein sehr viel differenzierteres
emotionales und affektives Erleben verfügen, als wir es gemeinhin annehmen. Wir haben festgestellt, dass man bei demenzkranken Menschen, bei denen man prima facie sagen würde "Dort ist gar kein Leben mehr", durchaus den Nachweis erbringen kann, wie differenziert diese Menschen in verschiedenartigen Situationen reagieren.

Insofern haben wir gesagt: Die philosophisch-ideale Kategorie der Selbstverantwortung können wir auch praktisch umsetzen, indem wir durch die mimische Ausdrucksanalyse darzulegen versuchen, in welchen Situationen die betreffende Person Freude und Glück empfindet und inwiefern wir solche Situationen immer wieder mit den entsprechenden positiven Emotionen konstituieren können. Dies gelingt uns immer besser. Es wird im nationalen und internationalen Pflegekontext immer mehr angenommen.

Warum sage ich Ihnen das? Ich sage es, weil uns deutlich wird, dass diese sehr rasche Aussage über das Alter, dass uns die sehr rasche Aussage über medizinische, gesundheitliche Grenzsituationen im hohen Alter dazu verführt, empirisch falsch zu argumentieren bzw. auch ethisch in höchstem Maße problematisch zu argumentieren. Ich sage es Ihnen auch deswegen, weil wir in der Kooperation mit Medizinern auf der einen Seite und Pflegefachkräften auf der anderen Seite Folgendes haben feststellen können: Wenn gute Arbeitsbedingungen für Mediziner im Bereich der Geriatrie, vor allem der Gerontopsychiatrie, vorliegen, wenn gute Arbeitsbedingungen für die Pflegefachkräfte vorliegen, sind die betreffenden Personen sehr viel mehr in der Lage, so etwas wie eine mimische Ausdrucksanalyse zu betreiben, sind sie sehr viel mehr in der Lage, sich viel intensiver mit dem Aspekt der Lebensqualität demenzkranker Menschen auseinanderzusetzen. Wenn das der Fall ist – auch das können wir empirisch sehr eindrucksvoll nachweisen –, werden wir sogar eine Steigerung der Lebensqualität demenzkranker Menschen bewirken können.

Meine Damen und Herren, von Michelangelo Buonarroti, der ja eigentlich durch seine Skulpturen bekannt geworden ist, gibt es wunderschöne Sonette. In hervorragender Art und Weise sind seine 42 Sonette von Rainer Maria Rilke übersetzt worden, erschienen im Insel-Verlag, sehr empfehlenswert. Wenn Sie zu erhitzt sind und den Eindruck haben, wir beißen uns fest: Lesen Sie diese Sonette; sie sind fantastisch. Es gibt ein Sonett, das ich Ihnen aus Zeitgründen jetzt nicht in Gänze vortragen kann, das aus meiner Perspektive eine Dimension des Alters zur Abbildung bringt, die die Medizin ebenso wie die Pflege und ebenso wie die anderen Disziplinen zur Verwirklichung bringen muss. Darin sehen Sie die große Aufgabe einer zugewandten, sich auf dem Prinzip der Seelsorge definierenden medizinischen Tätigkeit. Die erste Strophe dieses Sonetts lautet:

Des Todes sicher, nicht der Stunde, wann.
Das Leben kurz, und wenig komm ich weiter;
den Sinnen zwar scheint diese Wohnung heiter,
der Seele nicht, sie bittet mich: stirb an.

Das ist eine für uns überaus bedeutsame Aussage, weil meiner eigenen Theorie zufolge sich das Alter in besonderer Weise – hier bin ich sehr stark beeinflusst von Viktor von Weizsäckers "Gestaltkreis" – durch das Hervortreten zweier Ordnungen charakterisieren lässt: der Ordnung des Lebens und der Ordnung des Todes. Das wird besonders sichtbar im Falle der Demenz. Diese beiden Ordnungen zu verbinden, die Ordnung des Lebens und die Ordnung des Todes, ist eigentlich eine Aufgabe, die uns im ganzen Lebenslauf gestellt ist. Diese beiden Ordnungen miteinander zu verbinden, ist eine Aufgabe, die uns im Alter in besonderer Weise entgegentritt und die in besonderer Weise bewältigt werden muss, und zwar so, dass man sagt: Im hohen Lebensalter, vor allem im sehr hohen Lebensalter, zieht sich die Persönlichkeit immer weiter zurück, wird immer vulnerabler, immer verletzlicher, bis sie sich irgendwann ganz zurückgezogen hat.

Das bedeutet aber nicht, dass wir sagen: In dieser Persönlichkeit ist kein Leben mehr. Auf der anderen Seite dürfen wir nicht den Fehler begehen, künstlich das Alter in dem Sinne schönzureden: Der kann mit 95 oder 100 Jahren noch genauso durch das Leben schreiten, wie er das mit 50 oder 60 Jahren konnte.

Meine Damen und Herren, diese beiden Perspektiven miteinander zu verbinden, ist eine große Leistung des hohen Lebensalters. Ich darf Ihnen an dieser Stelle sagen: Wenn diese älteren Menschen eine Medizinerin bzw. einen Mediziner gefunden haben, mit der bzw. mit dem sie über diese Leistungen sprechen können, wie man sich auf die Vergänglichkeit vorbereitet, aber gleichzeitig die Aspekte des Lebens in sich spürt und zur Verwirklichung bringt, ist das ein substanzieller Beitrag zur Erhaltung und zur Förderung der Lebensqualität.

Seien Sie beglückwünscht, dass Sie einen so wunderschönen Beruf haben. Ich hoffe, dass die Bedingungen so sein werden, dass Sie in Zukunft diesen Beruf in jener Weise ausüben können, wie Sie sich das wünschen und wie die Altersforschung dies von Ihnen wünscht.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Langanhaltender lebhafter Beifall)

Präsident Prof. Dr. Dr. h. c. Hoppe: Herzlichen Dank, Herr Kruse, für diesen ergreifenden, eindrucksvollen, philosophisch und auch literarisch hinterlegten Vortrag. Ich habe Sie schon öfter gehört, aber noch nie so gut.

(Beifall)

Wir bedanken uns.

Nun wird Frau Dr. Goesmann, unsere Vizepräsidentin, zu dem Thema "Betreuung pflegebedürftiger Patientinnen und Patienten – Neue Versorgungskonzepte: Forderung an Beteiligte, Politik und Gesellschaft" sprechen. Bitte, Frau Goesmann.

© Bundesärztekammer 2008