TOP II: Situation pflegebedürftiger Menschen in Deutschland am Beispiel Demenz

Mittwoch, 21. Mai 2008, Vormittagssitzung

Vizepräsidentin Dr. Goesmann, Referentin: Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Professor Kruse, ich darf Ihnen ganz herzlich für Ihren wunderbaren Vortrag danken, den ich jetzt nur mit Zahlen und politischen Forderungen unterfüttern kann, den ich nicht toppen kann. Ich bin sehr beeindruckt und danke Ihnen dafür, dass Sie die Möglichkeit gefunden haben, heute zu uns zu kommen. Ich wünsche Ihnen für Ihr Engagement und Ihr Lebenswerk, dass das, was Sie gesagt haben, umzusetzen ist. Soweit wir als Ärzteschaft dazu beitragen können - Sie haben uns dazu auch Mut gemacht und Tipps gegeben -, würden wir das gern tun.

Meine Aufgabe ist es, die derzeitigen Versorgungsstrukturen zu durchleuchten und Forderungen für die zukünftige Versorgung aufzustellen. Herr Professor Kruse, Sie haben zu Recht darauf hingedeutet, dass die von uns heute besprochenen Patientinnen und Patienten, die Demenzkranken, eine reiche Emotionalität haben. Deswegen erlaube ich mir, Ihnen auf der Leinwand eine Fotoserie von Patientinnen und Patienten zu zeigen, die ich persönlich betreue, die in einem von mir betreuten Heim für Demenzkranke untergebracht sind. Es ist ein gerontopsychiatrisches Pflegeheim. Die Fotos zeigen die Emotionalität der Betroffenen deutlich. Ich habe natürlich nur Patientinnen und Patienten fotografiert, die damit einverstanden waren. Bei denjenigen, die unter Betreuung stehen, habe ich um eine schriftliche Einwilligung ihrer Betreuer gebeten. Insofern hat alles seine Ordnung.

Herr Präsident! Herr Referent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Seit Jahrzehnten steigt die durchschnittliche Lebenszeit kontinuierlich an, die Zahl alter und hochbetagter Menschen in unserer Gesellschaft wächst ständig. Im täglichen Straßenbild hat man inzwischen den Eindruck, dass die Zahl der Menschen, die mit einem Rollator unterwegs sind, die Zahl derjenigen mit einem Kinderwagen übersteigt. Nie zuvor wurde der Wunsch nach einem möglichst langen Leben so häufig zur individuellen und damit zur sozialen Realität wie heute.

Damit gewinnen aber in unserer "Gesellschaft des langen Lebens" Behandlung und Pflege älterer und alter Menschen, die zumeist chronisch krank und partiell oder komplett pflegebedürftig sind, zunehmend an Bedeutung. Gleichzeitig brechen soziale und familiäre Strukturen weg, die Zahl betagter Menschen in Einpersonenhaushalten steigt ständig. Dies stellt für jeden Einzelnen, aber auch für die Gesellschaft neue Herausforderungen bei der medizinischen und pflegerischen Versorgung der Betroffenen dar. Alt sein ist folglich nicht länger Einzelschicksal, sondern inzwischen ein Massenphänomen, aber - wie Dieter Hildebrandt, der bekannte Kabarettist, zu sagen pflegt -: Im Prinzip ist das Altwerden erlaubt, aber es wird nicht gern gesehen.

Mit steigendem Alter ist das Krankheitsgeschehen durch das Phänomen der Multimorbidität gekennzeichnet. Jeder Dritte der über 70-Jährigen hat über fünf verschiedene Erkrankungen und somit ein deutlich erhöhtes Risiko, funktionell erheblich beeinträchtigt zu sein. Andererseits ist es der modernen Medizin gelungen, das Auftreten starker gesundheitlicher Belastungen in das hohe Alter zu verschieben, sodass Pflegebedürftigkeit und Multimorbidität vor allem jenseits des achten Lebensjahrzehnts kumulieren. Im Sinne des Gesetzes gelten lediglich rund 3 Prozent aller 65- bis 70-jährigen Bundesbürger als pflegebedürftig, unter den 80- bis 85-jährigen hingegen schon 20 Prozent, und bei den über 95-jährigen sind es dann sogar 55 Prozent.

Insgesamt sind heute 4 Millionen Bundesbürger über 80 Jahre alt, und für das Jahr 2050 rechnet man mit 10 Millionen über 80-Jähriger. Diese werden besonderer Betreuung bedürfen, da die Demenzrate - wenn nicht eine effektive Präventionsstrategie bzw. Therapie entwickelt wird - mit zunehmendem Alter exponentiell ansteigen wird. Von den 75- bis 80-Jährigen sind knapp 12 Prozent, von den 80- bis 90-Jährigen knapp 25 Prozent und von den über 90-jährigen Mitbürgern dann fast 30 Prozent von einer Demenz betroffen. Derzeit leiden schätzungsweise 1,3 Millionen Menschen in Deutschland an einer demenziellen Erkrankung. Für das Jahr 2050 wird mit einer Zahl von 2,3 Millionen Demenzkranken gerechnet, wobei interessanterweise bezogen auf die über 65-Jährigen mehr als doppelt so viele Frauen an Alzheimerdemenz erkranken als Männer.

Knapp die Hälfte der heute Betroffenen sind Leistungsbezieher der Pflegeversicherung, hiervon rund 400 000 in ambulanter und 330 000 in stationärer Betreuung. Die Demenz ist mit Abstand der wichtigste Grund für eine Heimunterbringung, denn es kommen bis zu 80 Prozent aller Demenzkranken im Verlauf ihrer Erkrankung zur Aufnahme in ein Pflegeheim. Derzeit kann man davon ausgehen, dass etwa 60 Prozent aller Heimbewohner an einer Form der Demenz leiden.

Immerhin werden aber rund ein Viertel der an einer Demenz Erkrankten von Familienangehörigen versorgt, und es gibt immer noch einen hohen Anteil Pflegebedürftiger, zumeist Frauen über 80, die tatsächlich noch alleine leben und in unterschiedlichem Ausmaß von Verwandten, Nachbarn oder ambulanten Pflegediensten versorgt werden.

Nach der Krankheitskostenrechnung des Statistischen Bundesamts 2002 entfielen auf die Demenz 5,6 Milliarden Euro. Die Kosten für stationäre und teilstationäre Pflege spielen mit 3,6 Milliarden Euro die größte Rolle, wobei der unbezahlte Betreuungsaufwand der Angehörigen von durchschnittlich sechs bis zehn Stunden pro Tag nicht berücksichtigt ist.

Inzwischen ist die Diskussion über Möglichkeiten und Grenzen der medizinischen und pflegerischen Versorgung alter, insbesondere dementer Menschen nicht nur hier beim Deutschen Ärztetag angekommen, wo wir selbst ja schon zu einem großen Teil den sogenannten "pflegenahen Jahrgängen" angehören. Die Debatte hat inzwischen Medien und Politik erreicht. So wurden Prävention und Behandlung von demenziellen Erkrankungen in der Koalitionsvereinbarung der derzeitigen Regierungsparteien zu sogenannten "Leuchtturmprojekten" erklärt. Während aber einerseits das Pflegeweiterentwicklungsgesetz jüngst Voraussetzungen für deutliche Verbesserungen für Demenzkranke ambulant und in stationären Einrichtungen geschaffen hat, beklagen andererseits hochrangige Vertreter der Wohlfahrtsverbände: "Die Pflege geht am Stock, die derzeitige Finanzierung stationärer Pflegeeinrichtungen reicht nur für satt, still und sauber!" Der Sozialdezernent der Stadt Hannover beklagte im April 2008, dass das größte Thema der Sozialpolitik, nämlich die Altersverwirrtheit, seine Heimatstadt vor große Probleme stelle: "Darauf sind die Strukturen nicht eingestellt, das wird noch Jahrzehnte dauern".

Tatsächlich muss man bei einer genaueren Analyse der Situation erkennen, dass in allen Bereichen der pflegerischen Versorgung, sowohl in Praxen als auch in Krankenhäusern, bei ambulanten wie auch stationären Pflegeeinrichtungen, in der Familie wie im Rehabereich die Akteure an vielen Stellen nur unzureichend auf die Alterung der Bevölkerung vorbereitet sind. In der Folge ist der Einzelne auf sich selbst zurückgeworfen. "Altern ist nichts für Schwächlinge", erkannte schon die amerikanische Schauspielerin Bette Davis.

Ich selbst betreue regelmäßig weit über 100 demenzkranke Heimpatienten und darüber hinaus gleich viele noch in eigener Wohnung oder bei Angehörigen untergebrachte Patientinnen und Patienten in unterschiedlichen Stadien der Demenz. Nach meiner Erfahrung ist die derzeitige Situation ihrer Betreuung durch folgende Phänomene gekennzeichnet: So finden wir zum einen eine umfangreiche und besorgniserregende Tabuisierung und Verleugnung der Gesamtproblematik, vor allem natürlich auch durch die Betroffenen selbst. Studien haben gezeigt, dass die behandelnden Ärztinnen und Ärzte oftmals ein Ansprechen der ersten Symptome und der möglichen Handlungskonsequenzen hinauszögern, weil sie ihre Patienten mit der Diagnosestellung nicht kränken wollen und eine Verschlechterung der Arzt-Patient-Beziehung oder gar einen Abbruch der Behandlung befürchten. Darüber hinaus glauben sie, den Patientinnen und Patienten keine wirksame Behandlungsalternative anbieten zu können.

Tatsächlich ist es schwierig, offen mit Erkrankten über Prognose und Therapie zu sprechen; in den meisten Fällen gelingt das eher in der Angehörigenberatung. Bedingt durch die unterschiedlichen Versorgungsebenen, sind Behandlungsoptionen häufig nicht bekannt oder werden nicht flächendeckend angeboten.

Die Dimension der Problematik Alter/Multimorbidität/Demenz ist in unserem Land noch nicht erfasst worden, und es ist uns bisher nicht gelungen, ein tragfähiges Gesellschaftskonzept für das Miteinander der Generationen zu entwickeln. So findet die häusliche Betreuung Demenzkranker - 80 Prozent der Betroffenen werden für einen gewissen Zeitraum oder bis zum Tode noch zu Hause versorgt - gänzlich im individuellen Raum statt. Hier wird Pflege geleistet durch den alten Ehepartner, die Kinder - meist Töchter und Schwiegertöchter -, welche oft überlastet und alleingelassen die harte Rundumversorgung ihrer dementen Angehörigen schultern und Gefahr laufen, ohne entsprechende Unterstützung und Entlastung selbst an psychosomatischen Störungen, depressiven Verstimmungen und Schlafproblemen zu erkranken. Da in der Vergangenheit Demenzkranke keine Pflegestufe zuerkannt bekamen, war eine pflegerische Entlastung dann nicht möglich.

Wohlhabende Familien greifen heute in der Regel auf die sogenannte "polnische Lösung" zurück. Diese in meinen Augen flapsige und zynische Bezeichnung steht für das Anstellen von ausländischen Frauen, oft gut ausgebildeten Pflegekräften aus Ländern wie Polen und Rumänien, die zu festgesetzten Monatslöhnen bei freier Kost und Logis die Pflegebedürftigen rund um die Uhr betreuen. Für heute 1 000 bis 1 500 Euro pro Monat finden sich tatsächlich zur Pflege unserer alten und dementen Mitmenschen ausländische Fachkräfte, deren eigene Familien dann monatelang die Mutter oder Tochter entbehren und deren Länder auf die Kompetenz dieser Frauen verzichten müssen.

Kurzum, ich halte diese legale Beschäftigungsform für moderne Ausbeutung und nicht würdig in einem Land, das zu den reichsten Nationen der Welt gehört. Diese Lösung ist nicht nur sozialpolitisch und unter dem Aspekt internationaler Beziehungen, sondern auch unter dem der individuellen Beziehung zu Kranken fragwürdig, denn der betreute Patient sieht sich hier mit wechselnden Fremden, die in der Regel kein Deutsch sprechen und jeweils nur wenige Monate bleiben, konfrontiert.

Ich kann an dieser Stelle nur meinen Unmut darüber ausdrücken, dass sich in Deutschland bisher keine bezahlbare Lösung zur Rundumbetreuung Dementer mit einheimischen Pflegekräften gefunden hat.

Wesentliche Ziele der medizinischen Versorgung älterer Menschen sind, deren Selbsthilfefähigkeit und Selbstständigkeit zu erhalten, Pflegebedürftigkeit zu vermeiden, das Wohnen im häuslichen Umfeld möglichst lange zu ermöglichen und damit die gesundheitsbezogene Lebensqualität zu bewahren. Diese Ziele gehören auch zu den ureigensten Aufgaben der Rehabilitation. Neuere Studien zeigen, dass geriatrische Rehamaßnahmen in der Lage sind, auch bei dementen Patienten die Pflegebedürftigkeit zu verringern und die Entlassung in eine stationäre Pflegeeinrichtung zu vermeiden bzw. zu verzögern. So verbesserten sich durch ambulante oder stationäre Rehamaßnahmen selbst bei schwer dementen Patienten deren Mobilität. Sie zeigten eine erhöhte Autonomie, sodass der Pflegebedarf erheblich reduziert werden konnte. Nach geriatrischer Rehabilitation musste nur jeder fünfte Demenzpatient in eine Pflegeeinrichtung übersiedeln, 80 Prozent konnten zurück in ihren Privathaushalt entlassen werden.

Der tatsächlichen Heimunterbringung geht oft ein langwieriger Diskussionsprozess voraus - wir kennen das alle -, der in vielen Fällen notfallmäßig beendet werden muss, weil beispielsweise ein Sturz, eine Fraktur oder ein Apoplex die weitere häusliche Versorgung unmöglich werden lässt. Abgesehen davon, dass kognitive Defizite bisher oft als Ablehnungsgrund für eine Rehamaßnahme gegolten haben, finden sich bundesweit erhebliche regionale Unterschiede in den Versorgungskapazitäten für geriatrische Rehabilitation. Ein am Bedarf orientiertes Versorgungsangebot kann leider bisher nicht flächendeckend gewährleistet werden.

In meinen Augen wird die Heimversorgung in Deutschland zu Unrecht als schlechte oder menschenunwürdige Verwahrung unserer Alten gekennzeichnet. Zwar haben Studien ergeben, dass die Zahl des Pflegepersonals in solchen Altenheimen seit 1992 deutlich gekürzt worden ist. Inzwischen bietet aber der Großteil der gerontopsychiatrisch spezialisierten Pflegeheime nicht nur "satt und sauber", sondern ganzheitliche Betreuung mit verhaltenstherapeutischen Kompetenzkonzepten, Musik-, Tanz- und Maltherapie, Validation, Ergotherapie, Gedächtnisgruppen und sinnes- wie bewegungsbezogenen Therapieformen an. Darüber hinaus wird bei Heimarchitektur und -einrichtung zunehmend auf eine häusliche und stimulierende Umgebung geachtet, die Sicherheit und Geborgenheit vermittelt sowie mittels entsprechender Temperatur, Gerüchen, Geräuschkulissen und warmer Beleuchtung alles bietet, was Dementen die Orientierung erleichtert.

Therapeutische Konzepte umfassen neben rehabilitativen, psychiatrischen, verhaltenstherapeutischen, sozialen und pflegerischen Maßnahmen in der Medizin immer auch eine gezielte, rationale Pharmakotherapie. Diese ist aber gerade im Bereich der Gerontopsychiatrie außerordentlich umstritten, erhalten doch angeblich nur 24 Prozent der betroffenen dementen Patienten eine leitliniengerechte Arzneimitteltherapie. Zu den Hauptursachen dieser behaupteten Unter- und Fehlversorgung gehören angeblich ein unzureichendes Wissen vieler Hausärzte sowie insbesondere die Angst der behandelnden Ärzte vor Regressforderungen. Tatsächlich sollen sowohl Betroffene als auch pflegende Angehörige und die gesamte Gesellschaft von einer evidenzbasierten Therapie mit Antidementiva profitieren, lässt sich dadurch doch der Zeitpunkt einer Heimunterbringung deutlich verzögern, was angeblich bei den Sozialversicherungen zu Einsparungen von circa 1 100 Euro jährlich pro Alzheimerpatient führen soll, die ansonsten für Heimpflege ausgegeben werden müssten.

Ich selbst habe etliche Patienten mit Antidementiva behandelt und war angesichts des dennoch fortschreitenden Krankheitsverlaufs immer wieder enttäuscht über den tatsächlich feststellbaren Effekt.

An dieser Stelle möchte ich auch sehr eindringlich die Frage stellen, ob die postulierte Verzögerung der Heimunterbringung von rund sechs Monaten durch Anwendung von Antidementiva ein Therapieziel sein kann. Für Sozialpolitiker, Wissenschaftler und Nichtbetroffene mag das so sein. Aber ob die betreuenden Angehörigen gerne ein halbes Jahr länger oder kürzer mit ihren dementen Verwandten zusammenleben wollen, muss stets individuell entschieden werden und hängt überwiegend von den sozialen Rahmenbedingungen ab.

So stellt sich schließlich die Frage, ob es uns gelingt, den dringend notwendigen gesellschaftlichen Konsens darüber herzustellen, was künftig an pflegerischer Versorgung notwendig, wünschenswert und machbar sein wird. Welche Versorgungsformen wünschen wir uns denn selbst für unser Alter? Wir selbst, die wir, wie ich schon sagte, großenteils den "pflegenahen Jahrgängen" angehören, müssen den gesellschaftlichen Diskurs über würdiges Altwerden einleiten, anmahnen und abhalten. Unsere Zukunft im Alter wird ganz entscheidend davon abhängen, ob eine ausreichende Anzahl junger Menschen für den medizinischen, pflegerischen und therapeutischen Bedarf und entsprechende Berufe in künftigen Versorgungskonzepten gewonnen werden kann.

Darüber hinaus braucht es ein Umdenken in unserer Gesellschaft, die Entwicklung eines Gemeinschaftsdenkens und ein neues Gesellschaftskonzept zur Nachbarschaftshilfe im Quartier, das eine selbstverständliche gegenseitige Betreuung von Kindern, Kranken und Alten beinhaltet. Neben den bereits bestehenden Versorgungssystemen bedarf es alternativer Konzepte, der Förderung familiärer Hilfen und des bürgerlichen Engagements, wobei auch migrantenspezifische Bedürfnisse berücksichtigt werden müssen.

Präventive Maßnahmen und die Stärkung der aktiven Ressourcen des alternden Menschen können einen wesentlichen Beitrag zur Vermeidung von Pflegebedürftigkeit und Demenz leisten. Da Rehabilitation immer vor Pflege geht, muss der im Pflegegesetz verankerte Anspruch auf Rehabilitation für geriatrische Patienten flächendeckend umgesetzt werden. Ambulante und stationäre sowie mobile geriatrische Rehabilitation sind wohnortnah auszubauen. Alternative Lebens- und Wohnkonzepte, wie beispielsweise Demenz-Wohngemeinschaften, müssen finanziert und gefördert werden.

Im Rahmen von Aus-, Weiter- und Fortbildung aller Gesundheitsberufe müssen demenzielle Erkrankungen verstärkt Berücksichtigung finden. Hierzu zählen auch Hospitationen von Ärztinnen und Ärzten wie von anderen Berufsgruppen in der Geriatrie oder Gerontopsychiatrie bzw. Konsiliar- und Liaisondienste mit Gerontopsychiatern und Gerontologen in Krankenhäusern.

Bewährt haben sich auch sogenannte "Demenzschwestern", die verwirrte Patientinnen und Patienten während eines stationären Aufenthalts besonders intensiv betreuen. Pflegende Angehörige müssen Entlastung durch Selbsthilfegruppen, Schulungen, Urlaubsangebote, Rehabilitationskonzepte und die Organisation von beispielsweise Nachtwachen und Tagesstätten für die Erkrankten erfahren. Ganz wichtig erscheint mir aber, dass die gesamtgesellschaftliche Debatte auf einen Abbau der Tabuisierung und eine Beendigung der Isolation von Demenzkranken und ihren Angehörigen hinzielt.

Wir müssen uns auch dringend für eine Änderung der Steuergesetze bei der Politik starkmachen: Die Kosten für die Betreuung von Kindern, Kranken und alten Angehörigen in ihrer häuslichen Umgebung sollten zukünftig voll steuerlich absetzbar sein. Auch eine beitragsfreie Krankenversicherung sollte nicht nur für diejenigen Elternteile gelten, die sich ausschließlich der Kindererziehung widmen, sondern auch für die Familienmitglieder, die sich ausschließlich für die Pflege ihrer Angehörigen einsetzen.

Zur besten möglichen Betreuung Demenzkranker ist eine optimale Kooperation aller Akteure notwendig. Hierbei kommt dem langjährigen Hausarzt eine zentrale Stellung in der Koordination von Prävention, Diagnostik, Therapie und Rehabilitation für seine betroffenen Patientinnen und Patienten zu. Hausärzte und Fachärzte kooperieren zur Optimierung der Behandlung, sie beraten und unterstützen im Versorgungsmanagement die Erkrankten und ihre Familien und leiten entsprechende Maßnahmen ein. Da die aufsuchende Gesundheitsfürsorge in Form von präventiven und kurativen Hausbesuchen eine entscheidende Rolle bei der Identifizierung von gefährdeten Patientinnen und Patienten spielt, hat die Ärzteschaft entsprechende Strukturen und Qualifizierungsaspekte zur Einbeziehung von Medizinischen Fachangestellten in die Hausbesuchstätigkeit niedergelassener Ärztinnen und Ärzte entwickelt und hier neue Aufgabenfelder, gerade in der Betreuung alter Patienten, für medizinische Fachberufe beschrieben.

Im Bereich der Heimversorgung sind architektonische und pflegerische Gesamtkonzepte für Demenzkranke weiterzuentwickeln. Eine würdige und moderne pflegerische Versorgung im Heim wird sich nur realisieren lassen durch eine Aufstockung der derzeitigen Personalbudgets um rund 30 Prozent. Hiermit sind die eben beschriebenen Therapiekonzepte mit Gruppenarbeit, Verhaltenstherapie, aktivierender und bestärkender Pflege möglich.

Die Gesundheitsgesetzgebung der letzten Jahre sowie das Pflegeweiterentwicklungsgesetz ermöglichen die Etablierung neuer Versorgungskonzepte für geriatrische Patienten, in die sich die deutsche Ärzteschaft intensiv einbringen wird. Sowohl bei der Versorgung von noch zu Hause lebenden Patientinnen und Patienten als auch insbesondere bei der Betreuung von Altenheimen müssen neue Kooperationsformen zwischen Hausärzten, Fachärzten, ambulanten wie stationären Pflegekräften und anderen medizinischen Fachberufen entwickelt und adäquat finanziert werden. Als mögliche Vertragsformen kommen hier Projekte der integrierten Versorgung, Verträge zur hausarztzentrierten Versorgung mit interessierten Krankenkassenverbänden sowie Kooperationsformen unter Nutzung von Netzerfahrungen infrage.

So zeigen Modellprojekte aus Bayern und Berlin, dass sich Heimpersonal wie Heimpatienten besser betreut fühlen, dass unnötige Krankenhauseinweisungen vermieden und damit Belastungen für die Patienten und Kosten im Gesundheitswesen gespart werden können, wenn feste Kooperationen von Haus- und Fachärzten, die ein Heim gemeinsam betreuen, regelmäßige Visiten, Fallbesprechungen, Handyrufbereitschaft und Notfallbesuchstätigkeit für ihre Heime anbieten.

Lassen Sie mich abschließend sagen: Es gibt viele gute Ideen, vom Bürgerpatenkonzept, wo der Bürger einen Dementen betreut, über aufsuchende Gesundheitsfürsorge bei Menschen ohne soziales Netz und Patienten mit Migrationshintergrund durch Familiengesundheitspflege bis hin zu speziellen Präventionskonzepten gegen die Demenz. Wesentlich scheint mir, dass wir die Probleme des langen Lebens nicht länger verdrängen, dass wir denjenigen, die bei der Pflege Alter und Dementer Schwerstarbeit leisten, höchste Anerkennung zollen und dass wir heute alle, jeder an seinem Platz, dafür einstehen, dass jeder Mitbürger ein Alter in Würde genießen kann.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall)

Präsident Prof. Dr. Dr. h. c. Hoppe: Vielen Dank, Frau Goesmann, für diesen zweiten Vortrag, der uns in die Praxisrealitäten eingeführt hat, der uns auch die politischen Dimensionen dieses Themas nahegebracht hat, über die von Herrn Kruse geschilderte Dimension hinaus. Wir sind auf diese Weise in der Lage, die sechs Anträge zu diskutieren und dann zu verabschieden. Es liegen auch einige Wortmeldungen vor.

Ich schlage vor, dass wir den Tagesordnungspunkt II erst abschließen und dann zu Tagesordnungspunkt I zurückkehren, was wohl nach der Mittagspause der Fall sein wird. Das fügt sich glücklich, weil wir Ihnen nach der Mittagspause eine Auflistung aushändigen werden, in welcher Reihenfolge es am nützlichsten ist, die Anträge zu Tagesordnungspunkt I zu besprechen und zu verabschieden. Sie können dann die Anträge entsprechend ordnen, und wir leiten uns selbst durch diesen Tagesordnungspunkt. Das werden wir jedenfalls versuchen.

Jetzt bleiben wir bei Tagesordnungspunkt II. Der erste Redner ist Herr Zimmer aus Nordrhein, bei dem ich mich entschuldige, dass ich ihn eben bei der Geschäftsordnungsdebatte nicht aufgerufen habe. Ich hatte einen Zettel doppelt gegriffen. Das tut mir sehr leid; jetzt ist es zu spät. Dafür können Sie jetzt zu Ihrem Leib- und Magenthema sprechen. Das ist doch schön.

© Bundesärztekammer 2008