TOP II: Situation pflegebedürftiger Menschen in Deutschland am Beispiel Demenz

Mittwoch, 21. Mai 2008, Nachmittagssitzung

Prof. Dr. habil. Bach, Sachsen: Danke schön, Herr Präsident. – Sehr geehrter Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! Gestern ist der Satz gefallen: Wenn es keine Rationierung gäbe, bräuchten wir keine Versorgungsforschung. Ich möchte dem entgegenhalten – mein Hintergrund ist, dass ich als Psychiater sozialpsychiatrische Forschungen betrieben habe –, dass die Entwicklung der gesamten psychiatrischen Versorgung in Deutschland nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs, nach der Verelendung in der Psychiatrie mit der Enquete, die in den 70er-Jahren die psychiatrische Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland entschieden gefördert hat, Produkt einer Versorgungsforschung war, die sich zentral dem Thema gewidmet hat: Was müssen wir für die Verbesserung der Situation von Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen tun?

Nun ist das Thema des Tagesordnungspunkts II – Situation pflegebedürftiger Menschen in Deutschland – an sich schon ein Appell an die Versorgungsforschung, denn wie ist die Situation? Wir wissen vieles, aber vieles wissen wir auch nicht. Die beiden Vorträge, die wir heute Vormittag gehört haben, waren meines Erachtens Vorträge, die eine Fülle von Fragen aufgeworfen haben, die wir durch die Versorgungsforschung beantworten müssen.

Ich bitte Sie, dem Antrag II-5, in dem ich dezidiert Versorgungsforschung fordere, zuzustimmen, zumal wir vor allen Dingen in den psychiatrisch forschenden Einrichtungen die Neigung haben, uns immer mehr der rein biologischen Forschung zuzuwenden und diese bedeutsame Versorgungsforschung gerade auf diesem Feld zu vernachlässigen. Ich habe überlegt, was man alles beforschen könnte, und bin auf eine große Liste gekommen, die ich hier aus Zeitgründen nicht vortrage. Ich möchte nur zwei Beispiele herausgreifen. Ich bin in einer Besuchskommission des Freistaats Sachsen, die in den Pflegeheimen die Verhältnisse evaluiert. Vor diesem Hintergrund spreche ich hier.

Eine solche Frage ist beispielsweise: Ist das Niveau der menschlich-fachlichen Ausgestaltung der altenpflegerischen Betreuung der Tatsache angepasst, dass die zu pflegende Population immerhin aus dem Computerzeitalter stammt und zum Teil aus bürgerlichen Schichten mit einem hohen intellektuellen Differenzierungsgrad kommt? Demenz bedeutet ja nicht, dass sich alle in dem Zustand befinden, wie es hier Herr Professor Kruse im Zusammenhang mit seinem speziellen Forschungsprojekt erwähnt hat. Sie sind vielmehr zu einer differenzierten Lebenserfahrung fähig, wenn auch nicht mehr zu einer differenzierten Lebensbewältigung.

So gibt es eine Fülle von Fragen, die man stellen könnte, die ich auf Anfrage gern zur Verfügung stelle. Deshalb bitte ich Sie, meinem Antrag Folge zu leisten.

Schönen Dank.

(Beifall)

Präsident Prof. Dr. Dr. h. c. Hoppe: Schönen Dank. Ich möchte die Situation kurz aufklären. Ich habe das in dem Zusammenhang mit den Indikatoren gesagt, die deutlich machen, dass wir eine Unterfinanzierung haben. Die Versorgungsforschung, die ich meine, soll die Ergebnisse und die Folgen dieser Unterfinanzierung erforschen und daraus Schlüsse ziehen, wie man die Versorgung – nicht die Finanzierung – verbessern kann.

Das ist eine andere Versorgungsforschung als jene, die wir seit Jahrzehnten in allen möglichen Fächern der Medizin betreiben. Die epidemiologische Versorgungsforschung gehört natürlich zum Wissenschaftsarsenal von Ärztinnen und Ärzten, gerade im Public-Health-Bereich. Darüber möchte ich keinen Irrtum aufkommen lassen. Diejenige Versorgungsforschung, die beispielsweise in den skandinavischen Ländern und in Großbritannien betrieben wird, die dauernd misst, wo die Folgen der Unterfinanzierung so sehr zu spüren sind, dass eine Mangelsituation eintritt, die sich diesem Thema zuwendet und auf der nächsten Stufe wieder etwas anderes entdeckt, hätten wir in Deutschland nicht nötig, wie ich meine, wenn es bei uns keine Rationierung gäbe. Die Tatsache, dass wir die Versorgungsforschung implementiert haben, ist ein Zeichen dafür, dass wir jetzt auch eine Rationierung haben. So bitte ich das zu verstehen. Die genuine medizinische Versorgungsforschung inklusive Public-Health-Bereich habe ich damit nicht gemeint. Das wollte ich noch einmal geklärt haben.

Der nächste Redner ist Herr Kollege Nerz.

© Bundesärztekammer 2008