TOP IV: Auswirkungen der Telematik und elektronischen Kommunikation auf das Patient-Arzt-Verhältnis

Donnerstag, 22. Mai 2008, Vormittagssitzung

Dr. Weichert, Referent: Einen schönen guten Morgen! Vielen Dank für die Einladung. Ich bin seit über 20 Jahren engagiert im Bereich des Datenschutzes. Begonnen habe ich außerparlamentarisch, zum Beispiel im Widerstand gegen die Volkszählungen 1983 und 1987 und - was für Sie vielleicht interessanter ist - gegen die Einführung der Krankenversicherten-Chipkarte in den 90er-Jahren. 1991 habe ich mein Hobby zum Beruf gemacht, zunächst beim Landesbeauftragten für den Datenschutz in Niedersachsen, dann in Schleswig-Holstein.

Seit dieser Zeit begleite ich aus der Nähe die Telematik- und Automatisierungsbestrebungen in der Medizin. So habe ich in den letzten Jahren viele ehrgeizige Projekte gesehen, die über das Konzeptstadium nicht hinausgekommen oder die später gescheitert sind. Dies ändert nichts daran, dass jeder Patient heute beim Arzt- oder Zahnarztbesuch feststellen kann, dass die Verarbeitung seiner Patientendaten weitgehend elektronisch erfolgt.

Seit 2004 bin ich Leiter des Unabhängigen Landeszentrums für Datenschutz (ULD), das in Schleswig-Holstein unter anderem für die Datenschutzkontrolle im öffentlichen wie im nicht öffentlichen Bereich zuständig ist. Das ULD begleitete von Anfang an beratend das Gesundheitsnetz Flensburg und nun das Pilotprojekt zur Einführung der elektronischen Gesundheitskarte (eGK) im Raum Flensburg.

Die Automation im Gesundheitswesen wird bestimmt vom technischen Fortschritt, wobei rollenspezifisch Ungleichzeitigkeiten normal sind. Während sich der Einsatz der Informationstechnik, der IT, im ambulanten Bereich lange Zeit nur zögerlich entwickelte - man kann nicht unbedingt behaupten, dass Ärztinnen und Ärzte besonders IT-nah gewesen sind -, hat die elektronische Datenverarbeitung in den Krankenhäusern schon früh Einzug gehalten. Die Krankenversichertenkarte - das wissen Sie besser als ich - war schließlich der Türöffner für den Einzug der IT in die ambulanten Praxen.

Im Vordergrund dieser Entwicklung standen und stehen weiterhin alles andere als medizinische Motive. Das gebe ich den Kritikern zu. Es geht um die Automatisierung von Informationsprozessen im Interesse der Kosteneinsparung und der Rationalisierung von menschlicher Arbeitskraft. Zwar wurden immer die medizinischen Vorteile von IT von deren Protagonisten beschworen, doch stehen diese Möglichkeiten bis heute noch nicht - ich sage ganz ausdrücklich: noch nicht - im Vordergrund.

Unbestreitbar ist, dass bei der Einführung von IT in die Medizin widerstreitende Kräfte am Werk waren und sind. Interessiert und engagiert ist an erster Stelle natürlich die IT-Industrie, die die Marktrelevanz dieses Bereichs schnell erkannt hat und sich einen zunehmenden Anteil am Kuchen der Gesundheitskosten verspricht. Angesichts eines hohen staatlichen bzw. quasistaatlichen Anteils und der Notwendigkeit einheitlicher Standards ist es nachvollziehbar, dass sie versuchen, in diesen Markt einzusteigen und trotz des starken Wettbewerbs möglichst ein Monopol zu bekommen, in der Hoffnung auf hohe Gewinnspannen.

Es ist auch kein Geheimnis, dass vonseiten der Regierungen und der Krankenkassen von Anfang an mit der Informationstechnik das Ziel verfolgt wird, dem kostenintensiven und zugleich unkontrollierbar erscheinenden Gesundheitswesen Zügel zu verpassen. So war es der Lipobay-Skandal, mit dem die Bundesgesundheitsministerin zunächst die Einführung der eGK begründen wollte. Durch eine zwangsweise hoheitliche Arzneimittel- und Therapiedokumentation meinte sie - aus meiner Sicht: fälschlicherweise -, die Gefährlichkeit von Medikamenten frühzeitig erkennen zu können. In der Zwischenzeit erfolgt die offizielle Präsentation der eGK nicht mehr kontroll-, sondern patientenzentriert. Das gilt sowohl für die Präsentation als auch für die Umsetzung. Das hindert Kassen und Politik aber nicht, das Kontrollpotenzial von IT weiter zu nutzen.

Lassen Sie mich an dieser Stelle ein weitverbreitetes Missverständnis auflösen, das teilweise auf Unkenntnis basiert, teilweise aber bewusst die Unkenntnis in der Öffentlichkeit ausnutzt: Medizinische Telematik und die Kontrolle des Gesundheitswesens durch Staat und Kassen haben wenig miteinander zu tun. Die medizinische Telematik spielt sich im Frontoffice-Bereich ab, also im Verhältnis zwischen Patient und medizinischen Leistungserbringern. Die von der Ärzteschaft und den Bürgerrechtlern immer wieder kritisierte Kontrolle des Gesundheitswesens erfolgt dagegen im sogenannten Backoffice und hat vor allem die Kostenabrechnung zum Gegenstand, also das Verhältnis zwischen medizinischen Leistungserbringern und Krankenkassen. Diese Kontrolle ist schon längst automatisiert und standardisiert durch eine zunehmende Leistungs- und Kostenüberwachung mithilfe von ICDs, Datawarehouses bei den Krankenkassen und Wirtschaftlichkeitskontrollen durch Wissenschaft, KVen und Kassen selbst.

Der Sündenfall fand statt, als im Jahre 2004 die fallbezogene durch die patientenbezogene Abrechnung im ambulanten Bereich abgelöst wurde. Seitdem können bei den Krankenkassen umfassende Patientenprofile mit Daten aus dem ambulanten und dem stationären Bereich sowie aus der Medikation erstellt werden. Was mich als Datenschützer ärgerte, war, dass sich damals hiergegen weder in der Gesellschaft noch in der Ärzteschaft ein nennenswerter Widerstand regte.

(Beifall)

Zurück zu der Interessengemengelage bei der Telemedizin, die zu verstehen notwendig ist, wenn man Patientengeheimnis und Wahlfreiheit und damit auch den medizinischen Datenschutz verteidigen will. Unter den medizinischen Leistungsanbietern gibt es IT-Gewinner und IT-Verlierer. So ist der langjährige Widerstand der örtlichen Apotheker gegen die Telematik mit der Konkurrenz aus dem Internet zu erklären. Und auch im Bereich der ärztlichen Behandlung gibt es natürlich gewaltige Diskrepanzen etwa zwischen Krankenhäusern und Ärzten auf dem Land, zwischen spezialisierten Apparatemedizinern und den klassischen Hausärzten. Es ist offensichtlich, dass für viele ambulante Ärzte, insbesondere Hausärzte, mit einer Forcierung der Telematik große Zumutungen verbunden sind.

(Beifall)

Dies hat aber weniger mit der Gefährdung des Patientengeheimnisses zu tun, sondern mit handgreiflichen Konsequenzen bei den Kosten und beim praktischen Aufwand: Mediziner, denen neben ihrer medizinischen Expertise in der Zwischenzeit gewaltige betriebswirtschaftliche Kompetenzen abverlangt werden, um nicht in die Kluft von Abrechnungsbetrug und Insolvenz zu stürzen, müssen sich nun mit komplexer Informationstechnik herumschlagen, nicht nur mit einer vernetzten Praxissoftware, sondern mit PINs, Health Professional Cards, den sogenannten APCs, oder mit delikaten Netzverbindungen, denen die Ärztekammern bis vor Kurzem - und das mit guten Gründen - wegen mangelnder Sicherheit und Beherrschbarkeit pauschal noch eine Absage erteilten.

Ich habe sehr großes Verständnis für Ärzte, die meinen, den neuen Herausforderungen des IT-Zeitalters nicht mehr hinreichend gewachsen zu sein. Ich habe auch ein gewisses Verständnis, dass diese dann den Datenschutz als Abwehrargument verwenden. So verständlich dies ist, so ist es aber dann nicht in Ordnung, wenn hierbei nicht zutreffende Argumente vorgetragen werden, wie dies leider, wie ich immer wieder feststellen kann, in Presseverlautbarungen der Fall ist. Darauf werde ich gleich noch eingehen.

Zuvor will ich aber auf ein berechtigtes telematikkritisches Sachargument eingehen, nämlich die Begehrlichkeiten an den Arzt- und Patientendaten, die im Rahmen der Telemedizin anfallen. Es ist richtig, dass einmal gespeicherte Daten auch missbraucht bzw. zweckwidrig gebraucht werden können. Die Interessen von Arbeitgebern, von Versicherungsunternehmen, von Polizei- und Finanzbehörden sind ganz offensichtlich und oft weder legal noch legitim. Es ist gerade das Versprechen des Patientengeheimnisses, also der rechtlich gesicherten Vertraulichkeit der Beziehung zum Arzt, das viele Behandlungen erst möglich macht und erfolgreich machen kann. Es geht beispielsweise das Finanzamt nichts an, weshalb ich beim Arzt war, den Arbeitgeber nur in ganz wenigen Fällen und die Versicherung nur, wenn es um die Abwicklung eines konkreten Versicherungsfalls geht.

Die ärztliche Verschwiegenheit, formuliert von Hippokrates vor über 2000 Jahren und damit eine alte, aber bis heute wichtige zivilisatorische Errungenschaft, darf mit der Entwicklung der Informations-, aber auch der Biotechnologie nicht aufgegeben werden. Und ich ergänze schon jetzt: Sie muss auch nicht aufgegeben werden.

Manche Datenschützer, insbesondere aus dem bürgerrechtlichen Lager, machen es sich ein bisschen einfach, dass sie vor allem oder nur auf die Missbrauchsrisiken elektronisch gespeicherter Medizindaten hinweisen. Unsere Gesellschaft ist in der Zwischenzeit so komplex, dass man es sich nicht so einfach machen kann. Es ist nicht nur zu einfach, sondern es ist nach meiner
Überzeugung unlauter, die Ängste in der Öffentlichkeit wie bei den medizinischen Berufen mit unrealistischen Szenarien zu schüren und die damit verursachte Verängstigung als Gewinn für den Datenschutz zu feiern. Ebenso wenig wie Unternehmen wie Microsoft oder Google nur einfach böse sind, ist dies auch nicht bei der Telemedizin pauschal oder bei einem Großprojekt wie der eGK der Fall. Von Datenschützern kann und muss erwartet werden, dass sie sich die rechtlichen Regelungen und die informationstechnischen Infrastrukturen und Programme genau ansehen und dass sie diese differenziert beurteilen. Dieser Erwartung möchte ich heute und hier gerecht werden.

Der zunehmende Einsatz von Informationstechnik im Bereich der medizinischen Behandlung und Kommunikation ist ein technisches und gesellschaftliches Phänomen, dem man sich heute nicht mehr vollständig entziehen kann. Unsere Kommunikationsformen haben sich auch außerhalb des Medizinbereichs mit dem Internet grundlegend verändert. Wer dies für die medizinische Kommunikation nicht akzeptieren will, der verschließt seine Augen vor der Realität. IT hat zwangsläufig Wirkungen auf das Arzt-Patienten-Verhältnis und dessen Qualität. Dies muss aber weder zwingend eine Verschlechterung dieser Beziehung bedeuten, ebenso wie dies keine automatische Verbesserung brächte. Es kommt darauf an, wie die Technik ausgestaltet und in welchem strukturellen, organisatorischen und rechtlichen Rahmen diese eingesetzt wird. IT birgt positive Potenziale wie auch Risiken, ermöglicht Fremd- wie auch Selbstbestimmung. Es sollte gemeinsame Aufgabe aller Beteiligten sein, die positiven Potenziale zu verwirklichen. Diese Potenziale sind zunächst einmal fachlicher Art: Angesichts einer zunehmend spezialisierten, arbeitsteiligen und ortsübergreifenden Medizin können durch Telematik Effektivitätsgewinne erzielt werden.

Die Verfügbarkeit von authentischer Information lässt sich erhöhen, die Transparenz von medizinischen Behandlungen und der hierfür notwendigen Kommunikation lässt sich verbessern. So kann mithilfe der digitalen Signatur, wie sie auf der Health Professional Card vorgesehen ist, eine größere Verlässlichkeit im Hinblick auf Autorenschaft und Unverfälschtheit erreicht werden, als wir sie von medizinischen Papierakten kennen. Mithilfe von Verschlüsselungstechnologien ist es möglich, den Zugriff auf elektronisch gespeicherte Medizindaten ebenso sicher auszuschließen wie durch die Aufbewahrung einer Patientenakte in einem Safe.

Mithilfe eines differenzierten Berechtigungssystems lässt sich - vielleicht sogar noch gezielter als in der greifbaren Welt - sicherstellen, dass keine Nichtberechtigten auf geschützte Daten zugreifen. Mithilfe von Protokollierungsverfahren lässt sich - verlässlicher als in der Welt der Papierakten - nachträglich feststellen, wer ein Datum zur Kenntnis genommen und wer dieses eventuell wann geändert hat. Bei der medizinischen Telematik kommt es darauf an, diese technischen Möglichkeiten zu nutzen und vollständig auszuschöpfen.

Dabei kann es natürlich keine hundertprozentige Sicherheit geben, so wie es diese in der Vergangenheit auch nie gegeben hat. Wie hoch die Sicherheit ist, hängt von dem eingesetzten Aufwand ab. Dabei handelt es sich nicht nur um den Aufwand bei Hard- und Software, sondern es geht auch um den Aufwand an Organisation, an Regulierung und an menschlicher Mühe. Zur menschlichen Mühe gehört, sich sicherheitsrelevante ebenso wie die funktionale Medienkompetenz anzueignen und diese praktisch anzuwenden. Diese weichen Sicherheitsfaktoren waren bisher viel zu wenig im Fokus der Aufmerksamkeit und der politischen Diskussion.

Medizinische Telematik ist ein ganz komplexer Vorgang, bei dem die Menschen die wichtigsten Rollen haben, allen voran der Patient und der Arzt. Es ist nicht zwangsläufig, dass diese Menschen durch Maschinen ersetzt würden und dass die Menschen wie Maschinen behandelt würden. Es kommt in einem demokratischen und freiheitlichen Gesundheitssystem darauf an, dass die medizinische Telematik bei aller Komplexität auf ihre Hilfsfunktion beschränkt bleibt. Dass dies sichergestellt wird, hierfür sind insbesondere verantwortungsbewusste Mediziner gefordert, die mit ihrer Health Professional Card ebenso verantwortlich umgehen, wie sie dies bisher mit ihren Patientenakten taten.

Dass der Faktor Mensch - anders als bei vielen anderen Großprojekten im Bereich der IT wie beispielsweise die Autobahnmaut oder zentrale Verwaltungsregister - eine zentrale Rolle spielt, ist auch ein Grund für die Verzögerung bei der Einführung der eGK. Es wäre Ausdruck von Ignoranz über die Mechanismen bei der Einführung neuer IT-Verfahren, wenn der Gesetzgeber ernsthaft geglaubt hätte, man könnte den Startzeitpunkt Anfang 2006 einfach normativ anordnen. Die Schaffung der technischen Voraussetzungen benötigt Zeit. Die Menschen müssen zudem erst lernen, mit der neuen Technik umzugehen. Was eine Gesundheitsministerin vielleicht als Behinderung ihres politischen Tatendrangs empfindet, ist aus medizinischer wie aus Datenschutzsicht ein großer Segen:

(Beifall)

Telematikprojekte müssen sorgfältig geplant, dauernd evaluiert und unter Umständen korrigiert werden, sie müssen organisch wachsen, sich modular entwickeln und bedürfen einer dauernden Pflege. Daher ist es auch verfehlt, der Politik Versagen vorzuwerfen oder hämisch zu triumphieren, wenn Terminpläne nicht eingehalten werden. Dies kann seinen Grund darin haben, dass Probleme behoben werden müssen, die bei der Planung unter Umständen gar nicht berücksichtigt werden konnten.

Ich hatte schon von einigen rechtlichen, organisatorischen und technischen Anforderungen zur Wahrung von Vertraulichkeit und Wahlfreiheit gesprochen. Lassen Sie mich dies im Hinblick auf die elektronische Gesundheitskarte konkretisieren. Die Regelungen zur eGK in § 291 a SGB V sind aus Datenschutzsicht - das sage ich hier mit voller Überzeugung - vorbildlich. Darin wird rechtlich die technische Abschottung der Patientengeheimnisse vorgeschrieben, die Verfügungsmacht von Patient und Arzt wird gesichert, der unberechtigte Zugriff Dritter wird zu unterbinden versucht.

In diesem Zusammenhang wird immer wieder von Kritikern wie von Befürwortern fälschlich behauptet, es entstünde beim Einsatz der elektronischen Gesundheitskarte ein gewaltiger zentraler Datenpool mit sämtlichen medizinischen Daten der krankenversicherten Bevölkerung. Über die künftige Infrastruktur der eingesetzten Rechner besteht heute noch keine eindeutige Klarheit. Hierauf kommt es aber auch aus Sicht der Vertraulichkeit der Daten gar nicht an. Ob Daten zentral oder dezentral abgelegt sind, ist irrelevant, wenn der Schlüssel für den Abruf der Daten individuell und damit dezentral in den Händen der Ärzte und der Patienten liegt. Und genau so ist es gesetzlich geregelt: Der Schlüssel für den Zugriff auf die elektronische Patientenakte oder das elektronische Rezept ist die Kombination der Patienten- und der Arztkarte, wobei allein der Besitz der Karten nicht genügt, nötig ist außerdem bei den meisten Datenfeldern die Kenntnis einer PIN.

Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auf eine weitere, äußerst kontrovers geführte Debatte eingehen: Wo sollten die medizinischen Daten am besten gespeichert werden, auf der Karte oder im Netz? Zweifellos gibt es heute Speichertechnologien, die es ermöglichen, sehr viele Daten auf einer kleinen Karte zu speichern. Doch ist der Vorteil für den Betroffenen, die eigenen Daten körperlich in eigener Verfügungsmacht zu haben, eher symbolischer Natur: Für den technischen Zugriff auf "seine" Daten benötigt der Patient fremde Hilfe. Zwecks Sicherung der Daten für den Fall eines Kartenverlustes gibt es kaum Alternativen zum serverbasierten Backup. Schließlich lassen sich Daten in Hintergrundsystemen ebenso hinsichtlich der Betroffenenverfügbarkeit ablegen wie auf einer Karte in der eigenen Brieftasche.

Bezüglich Notfalldaten bzw. medizinischer Basisdaten ist natürlich die Kartenspeicherung angesagt, um eine Offlinelesbarkeit sicherzustellen. Ansonsten ist nach meiner aktuellen Überzeugung wohl ein serverbasiertes Konzept, wie es derzeit für die meisten Funktionalitäten von der gematik angestrebt wird, vorzugswürdig. Insbesondere Sicherheitsfunktionen lassen sich in einem komplexen Hintergrundsystem umfassender und aktueller realisieren als bei einer kartenbasierten Herangehensweise.

Hinsichtlich der Netzinfrastruktur eröffnet sich eine weitere, bisher nicht abschließend beantwortbare Frage: Soll die nationale Telematikinfrastruktur als abgeschlossenes Intranet betrieben werden, so wie es bisher konzipiert ist,
oder soll es Öffnungen zu anderen Netzen geben? Als solche kommen perspektivisch andere geschlossene, eventuell andere nationale Medizinnetze in Betracht. Besondere Brisanz hat die Öffnung ins öffentliche Netz, also ins Internet. Hierüber wäre es möglich, den Betroffenen umfassend zu Hause zu erreichen, sodass er zum Beispiel nicht mehr gezwungen ist, seine Datenverarbeitung an spezifischen Kiosken zu organisieren.

So bestechend und verbraucherfreundlich die Onlineanbindung des Patienten über den heimischen Privat-PC auch erscheinen mag, so unrealistisch ist sie nach meiner Überzeugung noch für den Gesundheitsbereich. Zwar lässt sich beim eCommerce und beim eGovernment schon ein akzeptabel hoher Sicherheitsstandard erreichen. Doch genügt dieser nicht für Daten, die bedeutend sein können für Leben oder Tod. Es ist wohl möglich, über das relativ unsichere Internet begrenzt definierte Funktionen am privaten PC zuzulassen. Mittelfristig erscheint aber das offene Internet als noch zu unsicher, als dass es für Telematikanwendungen umfassend genutzt werden könnte.

Die Hoffnungen von Google und Co., webbasierte Gesundheitsdienste zu etablieren, sind jedenfalls angesichts der deutschen Standards beim Datenschutz und bei der medizinischen Vertraulichkeit derzeit absolut nicht realistisch.

Welche Daten im Notfalldatensatz nicht der Freigabe durch den Patienten bedürfen, ist bis heute nicht endgültig geklärt und bedarf zunächst generell der Klärung über eine sachliche Diskussion. Hinsichtlich der konkreten Speicherung bedarf es schließlich der individuellen Entscheidung des Patienten. Entsprechendes gilt für andere Anwendungen. Es trifft nicht zu und wäre völlig unsinnig, zu glauben, die Inhalte der Telematikinfrastruktur lägen schon fest bzw. könnten schon festgelegt werden. Richtig ist aber, dass die bisherigen konkreten Planungen der eGK noch zu wenig diskutiert worden sind. Dieses Defizit soll und kann durch die Erfahrungen in der Testphase behoben werden.

Es ist aber falsch, zu behaupten, die unbedingt nötige Diskussion sei nicht möglich oder werde offiziell behindert. Die Informationen über die rechtlichen Vorgaben und über die geplante technische und organisatorische Umsetzung sind im Internet verfügbar. Es ist meines Erachtens eine der größten Unterlassungssünden der Kritiker, dass sie sich bisher viel zu wenig mit diesen konkreten Informationen auseinandergesetzt haben.

Mit der medizinischen Telematik wird Neuland betreten. So wenig es möglich ist, sie zu bejubeln oder zu verdammen, so eindeutig ist es, dass sich mit ihr die Rolle des Patienten und die der Ärzte verändert. So wird vom Patienten in einem größeren Maße als bisher erwartet, dass er nicht nur besser informiert ist, sondern dass er auch für seine Medizindaten Verantwortung übernimmt. Ob er hierzu überhaupt in der Lage ist, ist nicht nur eine Generationenfrage. So zeigte sich in Flensburg, dass viele Patienten aus körperlichen oder seelischen Gründen gar nicht in der Lage sind, ihre PIN zu handhaben.

Dieses praktische Problem darf nun aber nicht dazu führen, dass zulasten der Vertraulichkeit der Medizindaten völlig auf eine Autorisierung des Datenzugriffs verzichtet wird. Ich habe vorgeschlagen, dass in den Fällen, in denen Patienten die PIN nicht handhaben können, Ärzte des Vertrauens gefordert sind, die Geheimzahl in der Patientenakte außerhalb der Telematikstruktur zu speichern und im Bedarfsfall zu nutzen.

Ein weiteres Bedenken ist, dass Patienten weder bereit noch in der Lage wären, ihre neu gewonnenen Wahlrechte wahrzunehmen. Ein Datenschutzkollege, mein ehemaliger Kollege aus Sachsen, hat einmal behauptet, der Patient sei nicht mündig, sondern krank. Diese Sicht entspricht meiner Überzeugung nach nicht der eines modernen Gesundheitssystems. Dennoch muss der Einwand ernst genommen werden. Es besteht die nicht ganz unbegründete Befürchtung, dass Patienten ihre Daten allzu weitgehend freigeben, weil sie mit einer differenzierten Rechtevergabe überfordert sind. Diese Vermutung wird sich in einer frühen Phase nach Einführung einer bundesweiten Telematik­infrastruktur voraussichtlich bestätigen. Ein differenzierter Umgang mit Daten wird im konventionellen Lebensalltag ganz natürlich praktiziert. Umso wichtiger ist insbesondere in der Anfangsphase ein verantwortungsvoller Umgang der Ärzte mit den Patientendaten.

Die Freigabe der Daten ist jedoch nicht unumkehrbar. Je mehr die Patienten mit der Telematik ihre eigenen Erfahrungen machen, desto bewusster wird auch ihr Umgang damit sein. Hierbei bedürfen die Patienten selbstverständlich der Unterstützung. Und es sollte ebenso selbstverständlich sein, dass diese Unterstützung nicht ausschließlich von den Ärzten erbracht werden kann. Es muss eine unabhängige Infrastruktur zur Unterstützung der Patienten aufgebaut werden. Dass dies nicht kostenfrei möglich ist, ist - befürchte ich - weder den Krankenkassen noch der Politik bisher hinreichend bewusst.

(Beifall)

Eine weitere wichtige, in den bisherigen Gesetzen noch nicht hinreichend geregelte Frage ist die nach der Verantwortlichkeit für die über die Telematik­infrastruktur verarbeiteten Daten. So bestechend die Idee ist, die rechtliche Verantwortung dem Betroffenen selbst zu übertragen, so wenig würde eine derartige Sicht die tatsächlichen Einflussmöglichkeiten widerspiegeln. Zwar soll und muss der Betroffene Wahlrechte beim Datenzugriff, Lösch- und Sperrbefugnisse sowie mit seiner eGK den Schlüssel für die eigenen Daten haben, so wie dies auch in § 291 a SGB V vorgesehen ist. Die Generierung der Daten erfolgt aber weitgehend in der Verantwortung des Arztes. Die technische Verfügungsbefugnis über die Daten liegt bei den Stellen, die die IT-Infrastruktur erstellen und betreiben.

Diese relativ neue Konstellation vernetzter und komplexer vertrauensbedürftiger Datenverarbeitung unter Einbeziehung der Betroffenen macht es nötig, ein abgeschichtetes Verantwortungsregime festzulegen. Hierbei können kollektive Verantwortlichkeiten, wie sie derzeit in der gematik organisiert sind, eine Rolle spielen.

Wie schon dargestellt, wachsen dem Arzt mit der medizinischen Telematik zusätzlich Aufgaben zu. Er ist nicht nur für die Führung der eigenen Dokumentation verantwortlich, sondern auch für die Erstellung von elektronischen Aktenteilen, die er dem Patienten in der elektronischen Patientenakte, der ePA, und anderen Ärzten im elektronischen Arztbrief zur Verfügung stellt. Er ist nicht mehr nur Lotse im Gesundheitssystem, sondern muss auch Lotsenfunktion im System der Gesundheitsdaten übernehmen. Ist die Medienkompetenz der Patienten defizitär, so muss der Arzt diese unterstützen; fehlt sie, aus welchen Gründen auch immer, so muss der Arzt die Aufgaben eines Datentreuhänders übernehmen.

Es führt meiner Überzeugung nach kein Weg daran vorbei, dass bei der künftigen Arztausbildung die Vermittlung von Medienkompetenz eine wichtige Rolle spielen muss. Heute wird dieses Thema allenfalls in völlig unzureichenden Ergänzungsausbildungen der Medizininformatik angeboten.

Ebenso wie die Patienten dürfen auch die Ärzte mit ihrer begrenzten informationstechnischen Kompetenz nicht alleinegelassen werden. Als Unterstützungsinfrastruktur bieten sich sowohl die KVen wie auch die Ärztekammern an. Darüber hinausgehend besteht aber eine allgemeine staatliche Infrastrukturverantwortung. Das Bundesverfassungsgericht hat diese jüngst sogar in einem eigenen Grundrecht verdichtet, dem "Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme". Diese staatliche Pflicht, entwickelt im Hinblick auf die allgemeine informationstechnische Vernetzung, besteht in besonderem Maße hinsichtlich medizinischer Netze.

Seinen Gewährleistungspflichten kann der Staat mit unterschiedlichen Mitteln gerecht werden. Hierzu gehört sicher eine hinreichend ausgestattete unabhängige Datenschutzkontrolle. Hierzu gehört auch die Strukturverantwortung für die Netze und deren Sicherheit sowie die Pflicht zur Festlegung von Kommunikations- und Sicherheitsstandards oder zumindest von einheitlichen, die Kommunikation ermöglichenden Schnittstellen. Diese Aufgaben können weder einem privaten Monopolisten noch dem Markt überlassen werden. Wohl kann der Staat über Datenschutzaudits oder Gütesiegel für den Markt freiwillige Anreize zur Entwicklung vertrauenswürdiger und integrer Informationssysteme geben, wie wir sie in Schleswig-Holstein zu praktizieren versuchen.

Die inzwischen grundrechtlich abgesicherte Strukturverantwortung des Staates verhindert, dass über eine Kommerzialisierung der medizinischen Telematik die Autonomie von Patienten wie der Heilberufe verloren geht.

Eine wichtige gestaltende Rolle in dieser Entwicklung kommt zweifellos der Ärzteschaft, auch der verfassten Ärzteschaft zu. Entzieht sie sich dieser Verantwortung, so droht - nach meiner Überzeugung zwangsläufig - ein grauer Gesundheitsdatenmarkt an seine Stelle zu treten. Daher gibt es aus meiner Sicht keine Alternative zu einer konstruktiv-kritischen Begleitung des Prozesses der Entwicklung medizinischer Telematik. Aus meiner Überzeugung enthält der Vorschlag für ein Positionspapier der Bundesärztekammer zum Einsatz von Telematik im Gesundheitswesen die richtigen Ansätze und benennt die richtigen Fragen, wenngleich ich noch einige Widersprüche innerhalb dieses Papiers sehe. Insgesamt halte ich das Papier für sehr ausgewogen und sehr vernünftig. Es signalisiert jedenfalls an die Politik wie an die Öffentlichkeit, dass sich die Ärzteschaft der Chancen und der Risiken der Informatisierung bewusst ist und dass sie in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung hierüber einen gestaltenden Einfluss nehmen möchte.

Sie können sich der Unterstützung der Datenschützer gewiss sein, wenn es nicht nur um die Sicherung von reinen Standesinteressen geht, sondern um die Sicherung von Autonomie von Patienten und Ärzten, also um deren medizinische und informationelle Selbstbestimmung.

Vielen Dank.

(Beifall)

Vizepräsident Dr. Montgomery: Vielen Dank, lieber Herr Weichert, für dieses hervorragende Referat. Diejenigen, die vor zehn Jahren auf dem Ärztetag in Köln dabei waren, wissen, dass Herr Weichert nahtlos an die damaligen Ausführungen des sächsischen Beauftragten Giesen anknüpfen konnte, der uns damals auch in hervorragender und ruhiger Weise über die Chancen und Risiken der Telematik und der Mitwirkung der Ärzteschaft berichtet hat. Es lohnt durchaus, das Beschlussprotokoll dieses Ärztetages nachzulesen. Die zentralen Beschlüsse dieses Ärztetages könnte man auch heute wieder einbringen. Ich glaube, sie hätten die gute Chance, von Ihnen angenommen zu werden.

An dieser Stelle würde ich gern mit Herrn Weichert der Gruppe der Datenschutzbeauftragten der Länder dafür danken, dass sie sich mit uns im Diskurs bewegen. Das ist immer hilfreich gewesen und nützt uns, glaube ich, in der Debatte insgesamt. Ich hoffe, dass wir weiter so konstruktiv miteinander reden können. Herzlichen Dank für die gute Zusammenarbeit.

(Beifall)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor Franz-Joseph Bartmann zu seinem Referat ans Rednerpult tritt, bitte ich Sie, ganz kurz das Konvolut der Anträge zur Hand zu nehmen, das Sie bereits bekommen haben. Ihnen müssten eigentlich 13 Anträge schon umgedruckt vorliegen. Ein 14. Antrag ist noch in der Pipeline. Er wird in Kürze auf Ihrem Tisch liegen. Es gibt zwei Änderungen, die vier Anträge betreffen. Die erste Änderung betrifft den Antrag IV-13 des Kollegen Sauermann. Wir schulden Herrn Kollegen Sauermann eine Entschuldigung, denn dieser Antrag ist versehentlich zuerst in das Konvolut der Anträge zum Tagesordnungspunkt VI - Tätigkeitsbericht - eingeordnet worden. Herr Kollege Sauermann war einer der ersten Antragsteller. Der Antrag müsste also eine viel niedrigere Nummer haben. Ich hoffe auf das Verständnis von Herrn Sauermann, dass wir den Antrag aus dem Konvolut der anderen Anträge wieder herausgezogen und ihn jetzt unter der Nummer IV-13 vorgelegt haben.

Bei den Anträgen IV-8, IV-10 und IV-11 gehört Herr Fritz Stagge, Delegierter der Ärztekammer Nordrhein, immer in die erste Zeile der Antragsteller. Bei der Projektion nachher würden wir es ändern, im Beschlussprotokoll gegebenenfalls sicherlich auch. Ich bitte auch hier um Verständnis.

Meine Damen und Herren, bevor wir in der Tagesordnung fortfahren, gestatten Sie mir, unseren Ehrenpräsidenten Dr. Karsten Vilmar zu begrüßen, der wieder bei uns ist.

(Beifall)

In seiner Begleitung ist der Ehrenpräsident des diesjährigen Deutschen Ärztetages, Herr Professor Kolkmann, der ehemalige Präsident der Ärztekammer Baden-Württemberg. Herzlich willkommen, Fritz!

(Beifall)

Ebenfalls sind heute bei uns der amtierende Präsident des Weltärztebundes, Herr Kollege Dr. Snaedal, und der Generalsekretär des Weltärztebundes, der Kollege Dr. Otmar Kloiber. Herzlich willkommen!

(Beifall)

Sie sehen eine für den dritten Tag fast ungewöhnlich große Anzahl von ausländischen Gästen, die heute noch zuhören. Das liegt sicherlich an der globalen Wichtigkeit des Themas Telematik und ist Ausdruck der Tatsache, dass wir mit unseren Themen voll im Zentrum der Aufmerksamkeit liegen. Ich sage unseren ausländischen Gästen ein herzliches Willkommen!

(Beifall)

Unter uns sind zwei Geburtstagskinder. Ihnen wollen wir ganz herzlich gratulieren. Es ist der Vizepräsident der Ärztekammer Westfalen-Lippe, unser Kollege Reinhardt,

(Beifall)

und der "Finanzminister" der Ärztekammer Westfalen-Lippe, unser Kollege Czeschinski. Beiden einen herzlichen Glückwunsch von hier oben und vom Plenum!

(Beifall)

Jetzt bitte ich unseren Kollegen Franz-Joseph Bartmann zu seinem Referat. Er wird uns aus der Sicht des Vorstands der Bundesärztekammer und der Telematikgremien der Bundesärztekammer die Positionen zum Einsatz von Telematik im Gesundheitswesen erläutern. Bitte, Franz-Joseph.

© Bundesärztekammer 2008