Dr. Klaus Theo Schröder,
Staatssekretär im Bundesministerium für Gesundheit: Herr Präsident Hoppe!
Herr Präsident Hessenauer! Herr Ehrenpräsident Engelhard! Sehr verehrte Frau
Staatsministerin! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordneten des
Europäischen Parlaments, des Deutschen Bundestages und des
rheinland-pfälzischen Landtages! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren!
Herzlichen Dank für die Einladung, zum 112. Deutschen Ärztetag zu Ihnen
sprechen zu können. Die Bundesministerin für Gesundheit, Ulla Schmidt,
überbringt durch mich ihre besten Grüße. Sie hat ja in Ulm zugesagt, sie kommt
wieder. Sie wäre auch wiedergekommen, wenn wir nicht die sogenannte neue Grippe
hätten, wenn nicht seit gestern die Weltgesundheitsorganisation in der Weltgesundheitsversammlung
in Genf tagte und, wie Herr Hessenauer gesagt hat, unter anderem die sogenannte
G-7-Runde plus Mexiko heute zusammensäße, um gemeinsam mit der WHO zu überlegen
– das ist eine der entscheidenden Schlüsselfragen –: Welche Impfstrategie
sollen wir eigentlich einschlagen?
Diese Frage ist deshalb
entscheidend, meine sehr geehrten Damen und Herren: Wenn wir eine falsche
Entscheidung treffen, blockieren wir auf Monate hin die Kapazität für die
Impfproduktion, die wir haben. Dann kann möglicherweise, was ja einige
befürchten, in einer zweiten Welle der Virus in einer Form auftauchen, gegen
die eine Impfung nicht möglich oder nicht entscheidend wäre.
Deshalb bitte ich um Verständnis,
dass die Ministerin diese Entscheidung getroffen hat, nach Genf zu reisen und
nicht nach Mainz zu kommen. Die Entscheidung ist ihr schwergefallen.
(Unruhe)
– Ich nehme das Bedauern gern mit.
(Heiterkeit – Beifall)
Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Herr Ministerpräsident Beck hat es schon gesagt: In vier Tagen feiern
wir in Deutschland das 60-jährige Bestehen unseres Grundgesetzes. Vor 60 Jahren
wurde nach dem furchtbaren Terror der Nazis und nach einem Krieg, der von
Deutschland ausging, unser Land neu begründet und aufgebaut. Mit dem
Grundgesetz haben wir eine demokratische Verfassung geschaffen, die in der Tat
ein belastbares Fundament unseres Zusammenlebens darstellt. Mit der Verfassung
wurde auch die Sozialstaatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland verfasst, die
uns 60 Jahre Wohlstand, Prosperität und alles in allem sozialen Frieden
beschert hat.
Ärztliches Handeln, meine sehr
geehrten Damen und Herren, ist aufs Engste mit dem Sozialstaatsgebot im
Grundgesetz verbunden. Oberstes Ziel unseres Sozialstaates ist es, den Menschen
die gleichen Chancen auf Teilhabe am sozialen, kulturellen und politischen
Leben zu eröffnen. Eine medizinische Versorgung, die allen Menschen unabhängig
vom Einkommen, vom Stand und vom Wohnort zugänglich ist, ist dabei eine
unabdingbare Voraussetzung.
Unser solidarisches, selbstverwaltetes
Gesundheitswesen gewährleistet, dass jeder, der eine medizinische Behandlung
benötigt, sie auch bekommt – und das auf dem Niveau
des medizinischen Fortschritts und in einem Umfang, um den uns viele in der
Welt beneiden.
Ich stehe gerne hier, um an dieser
Stelle zu sagen: Ihnen, Ihren Kolleginnen und Kollegen, die Tag für Tag und
Woche für Woche und oft genug in der Nacht nicht nur in den Kliniken, nicht nur
in der Praxis, auch beim Sanitätskorps der Bundeswehr, im öffentlichen
Gesundheitsdienst, aber auch in den Forschungsinstituten ihre Arbeit tun, Dank
zu sagen, dass Sie für kranke Menschen sorgen, dass unsere Versorgung
verlässlich ist und dass medizinischer Fortschritt in Deutschland weiterhin
Platz greift.
In der aktuellen, manchmal
populistisch motivierten Diskussion um die Frage, was machen wir eigentlich mit
den Kassenärztlichen Vereinigungen, vermisse ich, dass auf den Kern der
Daseinsvorsorge eingegangen wird. Es geht um den Rechtsanspruch der
Versicherten in Deutschland auf einen uneingeschränkten und
diskriminierungsfreien Zugang zur gesundheitlichen Versorgung. Das ist der
Dreh- und Angelpunkt. Das stellt notwendigerweise die Sicherstellung in den
Mittelpunkt der weiteren Diskussion.
Das System der Kassenärztlichen
Vereinigungen hat die Aufgabe, die wohnortnahe ärztliche Versorgung im
ambulanten Bereich zu gewährleisten. Deshalb muss derjenige, meine sehr
geehrten Damen und Herren, der das infrage stellt, eine Antwort auf die Frage
geben: Wer sollte es denn anstelle der KVen anders machen? Wie könnte es anders
gemacht werden?
Der
Staat vielleicht? Von einem staatlich regulierten System haben wir in
Deutschland bewusst abgesehen. Ein Blick auf staatlich organisierte
Gesundheitssysteme sagt mir, dass dies keine Option ist. Der Staat, zumal auf der
Ebene des Bundes, hat viel zu wenig Einsicht in die notwendigen differenzierten
Lagebeurteilungen in den einzelnen Regionen. Man braucht zu einer guten
Versorgung selbstverständlich medizinisches Fachwissen. Das gilt im Übrigen
auch für die Honorarverteilung und erst recht für die Beurteilung der Qualität
ärztlicher Leistung.
Die Krankenkassen? Wollen wir denen die Sicherstellung überantworten? Wer die
Geschichte kennt – nicht nur die Mainzer –, der weiß, dass es dies bereits
einmal gab. Es wurde ganz bewusst abgeschafft. Ich glaube, die Entscheidung war
gut so.
(Beifall)
So schwierig das ist, auch für Sie,
die Sie die Verantwortung tragen: Es gibt sehr wahrscheinlich keinen besseren
Rahmen für die Steuerung der wohnortnahen Versorgung als durch die gemeinsame
Selbstverwaltung. Wenn es da etwas zu verbessern gibt – gut, dann packen wir’s
an. Aber bleiben wir dabei: Wir wollen den Rechtsanspruch auf Versorgung
sicherstellen – das ist das Markenzeichen des deutschen Systems – für alle zu
gleichen Bedingungen.
(Beifall)
Meine Damen und Herren, dabei kann
man ja ganz legitim darüber nachdenken: Sind wir denn mit der
Leistungsfähigkeit und der Gestaltungsfähigkeit der bisherigen Bedarfsplanung
wirklich gut gefahren? Ich habe über 60 gute Jahre geredet. Gleichzeitig gilt,
dass in bestimmten ländlichen Regionen, aber auch in sozial schwierigen
Stadtbezirken eher Unterversorgung droht und wir im städtischen Ballungsraum
und in gut situierten Stadtbereichen eine Überversorgung haben. Das ist unser
Problem. Darum müssen wir uns, glaube ich, gemeinsam kümmern.
Die Frage ist also: Welche
Gestaltungsspielräume brauchen wir und können wir nutzen? Ich zumindest halte
es für vernünftig, unterversorgte Regionen auch über finanzielle Anreize so zu
steuern, dass in Zukunft eine optimale Versorgung möglich ist. Das steht
bereits im Gesetz und ist ab dem nächsten Jahr durch entsprechende Zuschläge im
ambulanten Bereich möglich.
Natürlich, meine sehr geehrten
Damen und Herren, wird das nicht ausreichen. Niemand kann in unserer
freiheitlichen Ordnung gezwungen werden, sich im ländlichen Raum
niederzulassen, auch wenn die meisten sehr wahrscheinlich ein bisschen mit
modischer Attitüde unterschätzen, wie reizvoll das sein kann.
Die Länder haben zum Teil
Überlegungen angestellt, ob sie nicht Stipendien mit der Bedingung vergeben,
dann auch im ländlichen Raum zu arbeiten. Ich halte das für eine gute Lösung.
Wir sollten sie offensiv weiter diskutieren. An der Stelle wären wir auch gar
nicht allein; das tun andere auch.
Mit welchem Typus von angehendem
Arzt und angehender Ärztin haben wir es denn zu tun? Ich glaube, bessere
Teamarbeit, eine Kooperation auch mit dem nichtärztlichen Personal und – das
sage ich vor diesem Hintergrund bewusst – neuere Entwicklungen, die man unter
dem Stichwort „Schwester AGnES“ zusammenfasst, sind Rahmenbedingungen, die für
die Zukunft bedeutsam sind und bedeutsam sein können.
Ich bin der festen Überzeugung,
meine sehr geehrten Damen und Herren, dass ergänzend zum Kollektivvertrag
einzelvertragliche und auch sektorübergreifende Versorgungslösungen notwendig
sind. Das gilt für die integrierte Versorgung, das gilt für die hausärztliche
Versorgung, das gilt auch für Medizinische Versorgungszentren, die einen
Beitrag zur Verbesserung der Versorgung leisten können.
Das gilt auch dafür, dass wir in
diesem System Schritt für Schritt in den nächsten Jahren einen elektronischen
Backbone für den Informations- und Kommunikationsaustausch brauchen auf einer
flexiblen, sicheren und natürlich den Datenschutz gewährleistenden Grundlage.
Die Diskussionen, die wir im letzten Jahr auch und gerade mit der
Bundesärztekammer hatten, haben gezeigt: Das ist nicht so einfach, es ist
schwierig. Aber wir haben die Chance, ein solches System, das in der Zukunft
umso wichtiger werden wird, zu entwickeln.
Ich will an der Stelle auch
hinzufügen: Ich kenne niemanden, der irgendjemanden in dieses System zwingen
will, am Anfang allemal nicht. Was sollte das auch?
Wenn wir die Versorgung
weiterentwickeln, dann ist die Frage: Wie ist eigentlich das Verhältnis von
einzelvertraglichen Lösungen und Kollektivvertrag gewährleistet? Wir brauchen
ein ausbalanciertes System, um die Chancen und Möglichkeiten des Systems
wirklich vollständig zu entwickeln.
Niemand, meine sehr geehrten Damen
und Herren, hat ein Interesse daran, „dass sich
hochinnovative Inseln der Spitzenversorgung in einem Umfeld von Unterversorgung
entwickeln“, wie es einmal sehr schön ein KV-Vorstand dargestellt hat. Wir
brauchen also eine kollektivvertragliche, belastbare Grundlage und einzelvertragliche
Ergänzungen da, wo notwendig und sinnvoll, wo auch klar ist, dass wir damit
mehr Effizienz erreichen können. – Ich gucke nicht ohne Grund in Richtung der
Vorstände der KBV, vor dem Hintergrund der Beschlusslage, die mir übermittelt
worden ist.
Ein zweites Stichwort dominiert
immer wieder die Diskussionen: Bei allen gebotenen Änderungen – ich sehe
wirklich eine ganze Reihe von Notwendigkeiten der Veränderungen – steht die
freiberufliche Tätigkeit von Ärztinnen und Ärzten nicht zur Debatte, überhaupt
nicht.
(Beifall)
Das gilt für die Bundesministerin,
das gilt für jeden in unserem Hause, der Verantwortung trägt.
(Zuruf)
– „In unserem Hause“ habe ich
gesagt.
Wir haben nie einen Zweifel daran
gelassen, dass wir zu diesem System ohne Wenn und Aber stehen, zu den
Vereinbarungen, die wir getroffen haben, zur Basis, auf der wir die letzte
Gesundheitsreform gemeinsam realisiert haben.
Es ist völlig klar: Die ambulante
Versorgung beruht im Kern auf den beiden Schultern der Hausärzteschaft und der
Fachärzteschaft. Natürlich ist es sinnvoll, auch die Krankenhausversorgung in
diese Versorgung mit einzubeziehen.
Wer verloren gegangene
Freiheitsgrade in der Diskussion ab und zu bedauert, den lade ich ein, konkret
zu benennen, wo denn eine wirkliche Beeinträchtigung und Beeinflussung
freiheitlicher Tätigkeit geschieht.
(Zurufe)
Medizinische Versorgungszentren –
das ist ein zweites Stichwort in dieser Reihe – sind, wie ich eben sagte, aus
unserer Sicht eine sinnvolle Ergänzung des Angebots. Von einer „feindlichen
Übernahme“ zu reden, davon sind wir, meine sehr geehrten Damen und Herren, doch
wirklich meilenweit entfernt. Wir haben ungefähr 125 000 Ärztinnen und
Ärzte in niedergelassener Tätigkeit und 1 200 Versorgungszentren. Sie
haben ihren Platz gefunden und finden ihren Platz, nicht nur weil sie eine
Antwort auf Bedürfnisse von Ärztinnen und Ärzten sind, sondern auch von
Patientinnen und Patienten.
Die Ärzte orientieren sich vielfach
an Teamarbeit, einige wollen die finanziellen Risiken einer Praxisgründung nicht
eingehen, bei anderen wiederum steht deutlich mehr als in der Vergangenheit im
Vordergrund, dass sie ihre ärztliche Tätigkeit mit ihren familiären
Bedürfnissen vereinbaren möchten. Neue Ordnungsmöglichkeiten,
Organisationsmöglichkeiten für ärztliche Tätigkeit zu entwickeln, das kann doch
nicht als Einschränkung der Freiheit missverstanden werden.
Wir dürfen, glaube ich – Sie und
alle, die Verantwortung im Gesundheitswesen tragen –, die Augen nicht vor der
Realität verschließen, die schon viel weiter fortentwickelt ist, als man es
manchmal wahrhaben will. Zu dieser Realität gehört die Feminisierung des
Arztberufs. Sie ist auf dem Vormarsch. Wenn unsere Buchhaltung stimmt, sind
mittlerweile 58 Prozent der Erstmeldungen bei den Landesärztekammern Frauen. Es
würde niemand verstehen, wenn wir nicht Organisationsformen entwickelten, mit
denen wir diese Talente, die vorhanden sind und dort schlummern, nutzen. Das
Berufsverständnis hat sich geändert. Aber es gibt genügend Möglichkeiten, die
ganzen Potenziale an ärztlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten, die vorhanden
sind, in unser System zu integrieren und es gleichzeitig weiterzuentwickeln.
Meine sehr geehrten Damen und
Herren, was wäre ein Deutscher Ärztetag, bei dem nicht über Honorierung
diskutiert würde? Es war ein langer Weg bis zur Honorarreform, die am 1. Januar
in Kraft getreten ist. Weil das manchmal vergessen wird, muss man an das Jahr
1997 erinnern. Im 2. GKV-Neuordnungsgesetz war das Regelleistungsvolumen zum
ersten Mal, wenn Sie so wollen, etabliert. Vorschläge kamen nicht zuletzt aus
der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Das war 2003 und 2004 ähnlich. Auch bei
den Diskussionen um das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz gab es Vorschläge, die
die Politik geprüft, aufgegriffen und in die gesetzlichen Grundlagen des SGB V
aufgrund von Vorschlägen aus der Ärzteschaft selber aufgenommen hat.
Wir wissen alle miteinander: Es
gibt seit Wochen eine heftige Diskussion; die Selbstverwaltung kämpft immer
noch mit dem Thema. Der Kern ist: feste Preise einer Euro-Gebührenordnung,
Kalkulierbarkeit des Honorars, Übertragung des Morbiditätsrisikos auf die
Krankenkassen. All das, meine Damen und Herren, waren in der Vergangenheit doch
zentrale Forderungen der deutschen Ärzteschaft, die mit dem Gesetz umgesetzt
worden sind.
Natürlich gibt es, wenn man das
heute anschaut, Verwerfungen. Hatten wir die in der Vergangenheit nicht? Wieso
erklären sich in der Vergangenheit eigentlich die Unterschiede der Honorierung
beispielsweise in Baden-Württemberg und in Thüringen?
Ganz besonders wichtig war bei
dieser Reform – ich unterstreiche das ausdrücklich –, dass 20 Jahre nach dem
Fall von Mauer und Stacheldraht die Vergütung in den neuen Ländern endlich an
das Westniveau angeglichen wurde. Das war ein überfälliger Schritt. Es ist gut,
dass er getan worden ist, auch wenn er damit in eine ganz bestimmte Richtung
Honorarvolumen bindet.
Die Honorarreform hat das System
auch transparenter gemacht. Da ist so manche Schieflage, manche Ungereimtheit,
manche Ungerechtigkeit erst offensichtlich geworden. Zumindest meine
Gesprächspartner können mir nicht immer erklären, warum es klare, rationale
Ursachen für die Unterschiede gibt, die festzustellen waren und zum Teil immer
noch festzustellen sind.
Meine sehr geehrten Damen und
Herren, vertrauen wir doch in die Fähigkeit, diesen Prozess
zu gestalten. Wir stehen nicht am Ende dieser Honorarreform, wir stehen
doch erst am Anfang dieser Honorarreform.
(Unruhe)
Die Möglichkeiten, die der
gesetzliche Rahmen bietet, den die Selbstverwaltung ausschöpfen kann, zeigen,
dass wir Schritt für Schritt auch Fehler, die gemacht worden sind, korrigieren
können und damit am Ende zu einer Honorarverteilung kommen, die heute natürlich
nicht in Stein gemeißelt ist, die weiterentwickelt werden kann.
Natürlich wird es darüber immer
wieder Diskussionen geben. Aber die Möglichkeiten, die vorhanden sind, die
wirklich historischen Möglichkeiten, die vorhanden sind, gemessen an dem, was
früher zu Recht kritisiert worden ist, sollten wir ausschöpfen.
Natürlich kann man ein System mit
begrenzten Ressourcen – damit komme ich zu einem weiteren wichtigen Punkt auf
der Agenda dieses 112. Deutschen Ärztetages – nicht ohne Mengensteuerung
fahren, selbst wenn der Heilige Stuhl von Mainz mithelfen würde, an allerhöchster
Stelle zu intervenieren. Solange wir uns auf dieser Erde befinden, sind die
Ressourcen leider begrenzt. Das heißt, wir müssen immer wieder darüber
nachdenken: Wie können wir das System immer wieder Schritt für Schritt
optimieren, effektiver machen? Deshalb ist die Frage der vermeintlichen
Rationierung, die heute ja nicht zum ersten Mal diskutiert wird, die Ärztetage
schon manchmal angesprochen haben, aus meiner Sicht ein bisschen vor dem
Hintergrund der Sachdaten zu beleuchten.
In diesem Jahr stehen allein in der
GKV 11 Milliarden Euro mehr zur Verfügung, ohne jeden Abstrich. Die sind – ich
betone es noch einmal – für die Versorgung garantiert.
Wir bewegen uns immer noch an vierthöchster
Stelle, weil wir 11 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die gesundheitliche
Versorgung ausgeben.
In deutschen Krankenhäusern sind
die Patientinnen und Patienten im Schnitt 8,4 Tage. Bezogen auf die
WHO-Statistik, kommen hierzulande auf 10 000 Einwohner 83 Klinikbetten. Im
EU-Vergleich hat lediglich die Tschechische Republik eine größere Zahl mit 84.
Zur Versorgungsdichte in der
ambulanten Versorgung: Im EU-Durchschnitt gibt es 326 praktizierende Ärztinnen
und Ärzte pro 100 000 Einwohner, bei uns sind es 357. Von dem
Grundvermögen des Systems her, von den objektiven Möglichkeiten her, meine sehr
geehrten Damen und Herren, kann, glaube ich, nicht wirklich jemand behaupten,
wir hätten ein Rationierungsproblem.
In der letzten Woche hat ein
Vertreter einer KV darauf aufmerksam gemacht, dass die Deutschen
überproportional häufig zum Arzt gehen. Die Antwort, die darauf gekommen ist,
können wir nicht mittragen; das sage ich deutlich. Die Erhöhung der
Praxisgebühr ist nicht auf der Tagesordnung, meine sehr geehrten Damen und
Herren.
Es geht deshalb weiter – wie in der
Vergangenheit auch – aus unserer Sicht darum: Wie können wir das System
effizienter machen? Welche Potenziale können wir ausschöpfen? Ich glaube, wenn
wir das gemeinsam diskutieren, haben wir auch eine Chance, das, was im
Augenblick an Kritik vorhanden ist, zu überwinden. Natürlich müssen wir uns
dann offen dazu bekennen: Auch die ärztliche Tätigkeit hat eine ökonomische
Dimension. Wir können uns aus dem System nicht völlig entfernen.
Meine sehr geehrten Damen und
Herren, wer Entscheidungsfreiheit für sich in Anspruch nimmt, zu Recht in
Anspruch nimmt, hat natürlich auch daraus erwachsende Verpflichtungen
wahrzunehmen. Wo bewegen wir uns denn? Seien wir doch mal ehrlich: Ist diese
Debatte nicht manchmal auch kleinmütig? Ich will nur ein paar Stichworte
nennen. Es ist, glaube ich, ziemlich genau 42 Jahre her, da hat Christiaan
Barnard im Groote-Schuur-Krankenhaus in Kapstadt das erste Herz verpflanzt. Was
hätten wir damals wohl gesagt? Heute ist das eine Regelleistung in der GKV,
Standard, Normalität.
Mir hat einmal ein alter Chefarzt
gesagt: Mitte der 60er-Jahre gab es im ganzen Ruhrgebiet eine einzige
Dialysestation, heute ist das Standardversorgung.
Wir brauchen nicht 40 Jahre
zurückzugehen. Wer die Situation 1988/89 in der damaligen DDR kannte, weiß,
dass da ein riesiges Problem war. Das haben wir zu Recht beseitigt und wir
finanzieren das. Das gilt für die Onkologie, das gilt für anderes mehr.
Ich will auch daran erinnern: Das
Wettbewerbsstärkungsgesetz hat an vielen Stellen sehr bewusst – die Diskussion
war nicht einfach, am Ende musste ja der Beitragssatz beschlossen werden –
dort, wo neue Leistungen notwendig waren, diese auch beschlossen.
Die spezialisierte ambulante
Palliativversorgung war ein großes Defizit in diesem Land. Ich glaube, wir
standen gemeinsam dafür, dass wir sagen: Die Sterbebegleitung ist die einzige
ethisch vertretbare Alternative zur Verkürzung des Lebens.
Die Rehabilitation zur
Pflichtleistung zu machen vor dem Hintergrund der älter werdenden Gesellschaft, das war eine notwendige Entscheidung, weil wir möglichst lange
schaffenskräftige, gesunde Menschen in unserem Lande brauchen.
Die Impfung als wichtige Prävention
zur Pflichtleistung zu machen, das war eine weitere solche Entscheidung.
Meine Damen und Herren, wir wollen,
dass auch in Zukunft – um es deutlich zu sagen – alle am medizinischen
Fortschritt teilnehmen, auch wenn sie keine ergänzende Privatversicherung
abgeschlossen haben. Dieses System hat das in der Vergangenheit geleistet und
wird es auch in der Zukunft leisten. Niemand sollte ein Interesse daran haben,
auf eine Zusatzversicherung zu verweisen, die man gefälligst abschließen soll,
damit bestimmte Leistungen erbracht werden. Dann stünden wir wirklich in
Gefahr, in diesem Land über eine Zweiklassenmedizin reden zu müssen.
(Lachen)
Meine sehr geehrten Damen und
Herren, wir reden zu Recht und notwendigerweise über die Weiterentwicklung: Wie
sieht es mit Kosten und Nutzen aus, wie sieht es mit den Leitlinien aus, wie
sieht es mit der Evidence Based Medicine aus? Lassen Sie mich ein kurzes Zitat
eines Ihrer Kollegen vortragen. Es geht um einen Onkologen und Hämatologen, der
lange in den USA geforscht und praktiziert hat. Er hat gesagt: Ich bin deshalb
aus Amerika nach Deutschland zurückgekommen, weil ich hier alle meine Patienten
nach den neuesten Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft behandeln kann.
Das geht in den USA nicht.
Da ist vielleicht an der einen oder
anderen Stelle die Spitzenversorgung besser. Das mag ja sein, für 1, 1,5, 0,5
Prozent, an einigen Stellen, wenn überhaupt. – Ich kann Ihr Kopfschütteln gut
nachvollziehen, Herr Henke. Aber in der Breite gibt es das Angebot nicht.
Meine sehr geehrten Damen und
Herren, wir sollten auch das Thema Patientenrechte und Patientensicherheit
nicht in der falschen Ecke diskutieren. Ich bekenne offen: Für uns war die
Orientierung auf die Patientin und den Patienten bei der Weiterentwicklung der
Gesundheitspolitik der letzten Jahre von zentraler Bedeutung. Patientenrechte
zu stärken, die Patienten in ihrem Selbstverständnis zu stabilisieren, hilft
nach meiner festen Überzeugung niemandem mehr als Ihnen, weil aufgeklärte
Patientinnen und Patienten die besseren Patientinnen und Patienten sind.
Ich bin dankbar, dass wir gemeinsam
mit vielen aus Ihren Reihen, aus den Reihen der deutschen Ärzteschaft –
beispielsweise im „Aktionsbündnis Patientensicherheit“ – in den letzten Jahren
kontinuierliche Verbesserungen erreicht haben. Ich nenne folgende Stichworte:
anonyme Fehlermeldesysteme, die bundesweite Statistik der Gutachter- und
Schlichtungsstellen, das Fortbildungsangebot zum Fehler- und Risikomanagement,
die Versorgungsforschung auf dem Gebiet der Patientensicherheit und die
kritische Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Obduktionspraxis.
Lassen Sie uns dort weiterarbeiten.
Die Menschen werden es uns danken.
Meine sehr geehrten Damen und
Herren, es gibt natürlich bei der Vielzahl der Patientinnen und Patienten
Gruppen, die nicht allein in dem Sinne ihre Rechte vertreten können. Dazu
gehören auch Menschen mit Behinderung. Ich bin Ihnen ausdrücklich im Namen der
Bundesgesundheitsministerin sehr dankbar, dass Sie dieses Thema prominent auf
die Tagesordnung gesetzt haben. In Ihrem Dokument zum Deutschen Ärztetag
schreiben Sie: „Jeder Mensch in Deutschland – ob mit oder ohne Behinderung –
hat Anspruch auf eine bedarfsgerechte gesundheitliche Versorgung.“ Ja, wir
sollten uns gemeinsam auf diesen Satz verständigen, weil er das Credo des
Versorgungssystems in unserem Land ist. Behinderte Menschen brauchen Angebote,
die ihre besondere Situation berücksichtigen und ihnen so viel Teilhabe und
Selbstständigkeit wie nur eben möglich eröffnen. Das war unter anderem der
Hintergrund, dass im sogenannten WSG die häusliche Krankenpflege, die neuen
Wohnformen, die neuen Wohngemeinschaften ausgeweitet wurden, um auch dafür die
entsprechende Versorgung sicherzustellen.
Der Leistungsanspruch auf ambulante
und mobile Rehabilitation findet eine seiner Begründungen genau in diesem Feld.
Wir wissen, dass es natürlich noch
einer ganzen Reihe von weiteren Instrumenten bedarf, aber es gilt, dass in der
hausärztlichen wie in der fachärztlichen Versorgung entsprechende Instrumente
ebenso zur Verfügung stehen wie im Fallpauschalensystem, das wir in unseren
Krankenhäusern anwenden. Hier werden Mehrkosten entsprechend berücksichtigt
oder es werden über die Zusatzentgelte für die Versorgung von
Schwerstbehinderten krankenhausindividuell Mehrkosten berücksichtigt.
Meine sehr geehrten Damen und
Herren, ich würde mich freuen, wenn Ihre praktischen alltäglichen Erfahrungen
in die Weiterentwicklung des Systems eingehen würden. Akut diskutieren der
Deutsche Bundestag und der Gesundheitsausschuss darüber, ob es nicht
Möglichkeiten gibt, behinderten Menschen beim Krankenhausaufenthalt die
gewohnte Assistenz weiterhin zur Verfügung zu stellen, was auch bedeuten würde,
dass man diejenigen, die die Pflege und die ärztliche Behandlung im Krankenhaus
durchführen, entlasten könnte.
Noch eine letzte Bemerkung, meine
sehr geehrten Damen und Herren, zu diesem Themenkreis. Ich bin froh, dass der
Bundestag in der Debatte um die sogenannte Spätabtreibung eine Lösung gefunden
hat, bei der Behindertenverbände und Ärzteschaft zustimmen können. Das ist
zumindest mein Eindruck. Der angenommene Gesetzentwurf sieht eine bessere
psychosoziale Beratung bei vorgeburtlichen Untersuchungen vor sowie eine
dreitägige Bedenkzeit, bevor die Entscheidung über einen
Schwangerschaftsabbruch fällt. Das ist ein guter Ansatz, um den betroffenen
Frauen in einer unheimlich schwierigen und belastenden Situation die
größtmögliche Unterstützung zu geben. Ganz erfolgreich wären wir, wenn wir alle
gemeinsam ein behindertenfreundliches Land aufbauen würden, sodass die
Entscheidung vielleicht gar nicht zu fällen ist.
(Beifall)
Meine sehr geehrten Damen und
Herren, ich komme zum Schluss und damit zurück zum Tagungsort. Von Mainz ging
im 14. Jahrhundert eine Revolution aus, deren Bedeutung und Reichweite erst
viel später offenbar wurde. Die Erfindung des Drucks mit beweglichen Lettern
durch Johannes Gutenberg war die Voraussetzung für umwälzende politische, soziale
und kulturelle Veränderungen durch Bildung und Wissen der nachfolgenden
Jahrhunderte.
Inzwischen wissen wir alle: Im
Gesundheitswesen gibt es keine Revolutionen, noch nicht einmal eine
Jahrhundertreform. Aber es gibt die Notwendigkeit, das System kontinuierlich
weiterzuentwickeln. Ich bin ganz sicher, dass durch die Reformfreudigkeit der
Mainzer der Deutsche Ärztetag in diesem Jahr inspiriert
wird, dazu weitere gute Gedanken beizutragen. Ich bin gespannt auf die
Ergebnisse. Ich wünsche Ihnen gute Beratungen und bedanke mich herzlich für
Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall)
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