TOP IV: Medizinische Versorgung von Menschen mit Behinderung

Donnerstag, 21. Mai 2009, Vormittagssitzung

Dr. Peters, ReferentDr. Peters, Referent: „Der Mensch ist ein Gefäß, das Gott mit sich gefüllt hat, um an ihm seine Werke zu erfüllen.“ Mit diesem Menschenbild, welches Hildegard von Bingen formuliert hat, möchte ich Sie, verehrte Delegierte, verehrte Damen und Herren, herzlich begrüßen. Professor Seidel und ich, wir bedanken uns bei Ihnen, beim Vorstand der Bundesärztekammer und insbesondere bei Professor Hoppe herzlich dafür, dass dieses uns am Herzen liegende Thema ein Tagesordnungspunkt auf diesem Ärztetag geworden ist.

Es freut uns, wie wir den Ausführungen von Staatssekretär Schröder entnehmen konnten, dass der Handlungsbedarf für diese Menschen mit Behinderungen erkennbar auch von unserem Bundesministerium angenommen worden ist. Wir sind gespannt und auf jeden Fall hoffnungsvoll.

Der Mensch ist ein Gefäß, das Gott mit sich gefüllt hat, um an ihm seine Werke zu erfüllen. Es steht uns Menschen und insbesondere uns Ärzten nicht an, dieses Gefäß zu zerstören, und sei es für unsere Begriffe noch so beschädigt. Darum hat der Ärztetag wiederholt jeglicher Euthanasiebestrebung eine klare Absage erteilt.

(Beifall)

Sie sehen auf der Leinwand den persönlichen Erlass Hitlers – übrigens zurückdatiert – an den obersten Reichsarzt Dr. Brandt und den Reichsleiter Bouhler am 1. September 1939, also zu Kriegsbeginn, welcher die unsägliche Euthanasie des sogenannten lebensunwerten Lebens auf den Weg bringt:

… dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann.

Als ich im Mai 1989 zum ersten Mal einen Ärztetag als Delegierter im damals noch geteilten Berlin besuchen durfte, wurde damals in einer Begleitausstellung im Foyer gezeigt, welch grausame Dimension dies angenommen hatte. Hitlers Formulierung

… dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann

war in Wahrheit der Start in eine menschenverachtende Tötungsmaschinerie. Verschleiert wurde dies als Aktion T 4 – benannt nach dem Sitz der Zentrale in der Tiergartenstraße 4 –, damit der sich abzeichnende Widerstand in der Bevölkerung umgangen wurde. Tausende von behinderten Menschen wurden in den berüchtigten grauen Bussen abtransportiert und getötet. Das darf uns nie wieder geschehen!

(Beifall)

Unseligerweise ist unser Nachbarland Holland auch auf einem fatalen Fehlweg. Eine holländische „Arbeitsgruppe“ hat im renommierten „New England Journal of Medicine“ ihre Kriterien publiziert, gemäß denen sie 22 Neugeborene mit komplexen Fehlbildungen euthanasiert haben. Es ist mir ein Rätsel, wieso solch eine Arbeit überhaupt so hochkarätig publiziert werden konnte und heute noch als Free Text im Internet ohne Gebühren abrufbar ist.

Wie sehr der Gedanke lebensunwerten Lebens nachwirkt, können Sie der mir heute noch unbegreiflichen Wortmeldung eines Delegierten im Jahre 2001 auf dem Deutschen Ärztetag in Ludwigshafen entnehmen, der als Vater von fünf Kindern und als Inhaber einer orthopädischen Praxis, die schwerpunktmäßig Menschen mit Spastik und Trisomie 21 behandelt, überhaupt keinen Eigenwert in einem behinderten Leben sieht.

Menschen mit Behinderungen haben denselben Wert und dieselbe Würde wie wir alle. Dies ist ein grundgesetzlich verbrieftes Recht. Es gibt keine krassere Benachteiligung von Behinderten, als wenn wir ihnen einen Lebenswert und das Lebensrecht absprechen. In diesem verfassungsrechtlichen Belang gibt es noch nicht einmal sogenannte „klare Fälle“, sodass das Argument, wo man hier eine Grenze ziehen wollte, noch nicht einmal greift.

(Beifall)

Engagieren wir uns besser, indem wir Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung beistehen. Sie benötigen unsere engagierte ärztliche Hilfe. Wenn wir für sie die benötigten Versorgungsstrukturen zur Verfügung stellen – darum geht es heute hier –, dann tun wir übrigens nicht nur etwas für sie, sondern auch für uns; nicht zuletzt deshalb, weil wir nie wissen, ob wir sie schon morgen selbst benötigen.

Erlauben Sie mir, dass ich jetzt kurz meine Rolle als Referent verlasse und als Delegierter zu Ihnen spreche. Wir haben am Dienstag den Beschluss auf den Weg gebracht:

Der Deutsche Ärztetag fordert die Bundesärztekammer und die Kassenärztliche Bundesvereinigung auf, die Voraussetzungen für eine generelle Einführung des Kostenerstattungsprinzips zu schaffen.

Ich muss Ihnen sagen: Ich bin in Sorge, ob nicht die Belange von Menschen mit mehrfacher Behinderung und von sozial Bedürftigen über solch eine generelle Situation noch einmal geschwächt werden.

(Beifall)

Ich habe aber gehört, dass es jetzt mehrere Anträge geben soll, die diesen Beschluss relativieren und dann auch vertretbar machen. Ich möchte Sie bitten, diese Anträge zu unterstützen.

Die Versorgung dieser Kinder verbindet sich für ihre Familien mit hohem Aufwand, den sie ohne gesellschaftliche Hilfe oft nicht werden tragen können. Die Komplexität der zu betreuenden Themen fordert bzw. überfordert aber auch die medizinischen Regelversorgungssysteme, ambulant wie stationär. Wir müssen dafür die insbesondere für Erwachsene unzulängliche Situation verbessern.

Erlauben Sie mir bitte, dass ich Ihnen am Beispiel von zwei Kindern zeige, welche Komplexität die Versorgung dieser Kinder besitzt.

Die erste Patientin, Franziska – sie heißt auch so; ich habe von der Mutter die Genehmigung, sie so darzustellen –, ist ein jetzt zehnjähriges Mädchen mit einer komplexen Mehrfachbehinderung: Sie hat infolge einer Zytomegalieembryo­pathie eine neuronale Migrationsstörung als Hirnfehlbildung. Kinder mit neuronalen Migrationsstörungen haben häufig die Trias einer massiven Entwicklungsstörung, nicht behandelbaren Krampfanfällen und einer zerebralen Bewegungsstörung. So auch Franziska, die ich seit dem frühen Säuglingsalter begleiten und behandeln darf. Bei ihr hat die Spastik zu operationswürdigen Hüftgelenksluxationen geführt. Sie hat darüber hinaus eine sehr schwer therapierbare Epilepsie, sodass schon wiederholt der Hubschrauber anfliegen musste. Sie erhält zurzeit eine intensive Mehrfachmedikation mit neuen Antikonvulsiva wie Levetiracepam und Lamotrigen sowie dem guten alten Brom. Am meisten aber profitiert sie durch eine ketogene Diät, deren Behandlungsprinzip schon in der Bibel erwähnt ist. Allerdings muss die Mutter – sie ist selbst Kinderärztin – mit ihrer Krankenkasse um die Kostenübernahme dieser Behandlung einen zermürbenden Kampf führen. Dasselbe Theater hat sie übrigens auch, wenn Franziska Hilfsmittel benötigt.

Franziska liebt ihr Leben in der Familie; wenn es ihr gut geht, geht es auch der Familie gut. Sie ist hervorragend in die Schule integriert, sie ist Fan von klassischer Guitarrenmusik – der Vater spielt auch Guitarre – und geht mit ihrer Familie gerne und oft auf Reisen. Die Mutter sagt selbst, dass sie durch ihre Tochter viel erfährt und vor allem viel gelernt und ganz viel hinzugewonnen hat.

Die zweite Patientin ist eine mittlerweile 16-jährige Patientin mit einer Spina bifida mit thorakolumbalem Lähmungsniveau und zahlreichen Begleitfehlbildungen des zentralen Nervensystems mit folgenreichen Komplikationen für die Atmung, für die Stabilität der Wirbelsäule, mit wiederholten Spontanfrakturen mit kompliziertem Verlauf, mit Krampfanfällen, einer verzögerten mentalen Entwicklung, Stuhl- und Harninkontinenz sowie rezidivierenden fieberhaften Nierenentzündungen.

Hier werden zahlreiche erfahrene Spezialisten benötigt, um weitere Komplikationen nach Möglichkeit zu verhindern. Patienten mit Spina bifida brauchen eine sorgfältige medizinische Begleitung, da der Erkrankungsverlauf dynamisch ist und zum Teil lebensbedrohliche Komplikationen wie Atemstillstände verhindert werden können, wenn sie frühzeitig erkannt werden.

Was benötigen Patienten mit geistiger und mehrfacher Behinderung?

An erster Stelle stehen unsere ärztlichen Kenntnisse und Erfahrungen in diagnostischen und therapeutischen Belangen. Ferner ist eine Betreuung komplexer Störungen nur im Team möglich. Eine langjährige Betreuung verlangt wegen der zahllosen Fakten und wegen der häufig bestehenden Entwicklungsprobleme eine kontinuierliche Betreuung in personeller Konstanz. Wenn die Familie jedes Mal einem anderen Arzt begegnen würde, wird sie bald nach Alternativen suchen. Sie will nicht jedes Mal beim Termin mit einem neuen Arzt wieder alles aufs Neue erzählen. Das schmerzt unnötig und verbindet sich mit der berechtigten Annahme, dass dieser neue Arzt dann die Komplexität nicht kennt und ihr nicht entsprechen wird. Entsprechend eingeschränkt wird dann seine Behandlungskompetenz sein.

Sie sehen hier auf der Leinwand Franziskas Patientenakte. Können Sie sich vorstellen, auf Anhieb ein klinisches Problem verantwortungsvoll zu lösen, wenn Sie Franziska jetzt zum ersten Mal begegnen würden?

Behinderte Kinder entwickeln sich. Dies ist in konstanten Teambedingungen besser sichtbar. Umgekehrt kann das Krankheitsbild eine prozesshaft dynamische Verschlechterung aufweisen, die nur im kontinuierlichen Verlauf mit konstanten Untersuchern sichtbar wird. Es ist ferner eine Case-Management-Funktion gefragt, die die verschiedenen Disziplinen intern wie extern koordiniert.

Wegen dieser Komplexität der Versorgungsthemen halten wir Kinderärzte und Sozialpädiater übrigens eine zusätzliche Qualifikation in der Form der Zusatzweiterbildung Sozialpädiatrie für erforderlich. Als ich selbst von der Kinderheilkunde als Kinderarzt in die Sozialpädiatrie wechselte, habe ich noch einmal sehr umfassend viele neue Kenntnisse und Fertigkeiten erfahren dürfen.

Die eben genannten Versorgungserfordernisse erfüllen die Sozialpädiatrischen Zentren aufgrund ihrer Aufgabenstellung und der mit ihnen verbundenen Struktur; sie verstehen sich als interdisziplinär arbeitende, vorwiegend ambulant arbeitende Einrichtungen. Das Spektrum der zu betreuenden Erkrankungen beinhaltet insbesondere die Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit geistiger und mehrfacher Behinderung. Sie nehmen aufgrund § 119 SGB V an der gesetzlichen Krankenversorgung teil und ergänzen die niedergelassenen Ärzte- und Jugendärzte in ihrer Versorgungsaufgabe. Zu ihrem Aufgabenspektrum gehören die Untersuchung, Behandlung und Rehabilitation behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder unter Berücksichtigung ihrer Entwicklungsspezifika. Besonderes Augenmerk ist in der Behandlung, wie sich die Behinderung im familiären, vorschulischen, schulischen und beruflichen Umfeld auswirkt. Zur Verbesserung der Teilhabe vermitteln sie Integrationshilfen nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz, dem KJHG. Sie bewirken oder bieten interdisziplinäre Frühförderung an, sie veranlassen schulische Fördermaßnahmen. Im Bedarfsfall leiten sie Maßnahmen zur Erziehungshilfe und zur Fremdunterbringung ein, wirken aufgrund der Kenntnisse der Behinderung bei der Pflegestufeneinschätzung mit und haben besondere Kompetenz hinsichtlich der Heil- und Hilfsmittelverordnung.

Die Betreuung und Begleitung von Kindern und Jugendlichen mit geistiger und mehrfacher Behinderung gehört dabei zu ihren vornehmsten Aufgaben. Die betreuten Krankheitsbilder betreffen vor allem neuropädiatrische Erkrankungen, also Entwicklungsstörungen, Cerebralparesen, Epilepsien, Muskelerkrankungen, Spina bifida, Hydrocephalus und anderes mehr. Ferner werden Kinder mit psychologischen Störungen, also Verhaltensauffälligkeiten, AD(H)S, Störungen des Sozialverhaltens, psychosomatische Symptome und Teilleistungsstörungen, behandelt. Eine wichtige Aufgabe ist die Langzeitbegleitung und Nachsorge nach Früh- bzw. Risikogeburten. Zum sozialpädiatrischen Spektrum gehören ferner Störungen des sozialen und familiären Umfelds wie familiäre Interaktionsstörungen, kindliche Vernachlässigung, Misshandlung oder Missbrauch.

Der Komplexität entsprechend arbeiten die Sozialpädiatrischen Zentren interdisziplinär und beziehen dabei die Familie und das soziale Umfeld mit ein. Eine Stärke ist die kontinuierliche Betreuung durch konstante Teams während der gesamten Kindheit, also von der Geburt bis zum vollendeten 18. Lebensjahr. Die Patienten und Familien schätzen es, dass die SPZ-Teams die komplexen Besonderheiten ihrer Kinder kennen und in die Betreuung mit einbeziehen. Die SPZ-Arbeit versteht sich übrigens als komplementäre Betreuung zu niedergelassenen Ärzten, sie kooperieren mit Fördereinrichtungen, Kindergärten, Schulen usw.

Der Komplexität der betreuten Störungsbilder entsprechen die sozialpädiatrischen ärztlich geleiteten Teams, die sich aus Mitarbeiterinnen aus den Bereichen der klinischen Psychologie, Physiotherapie, Logopädie, Ergotherapie, Heil-, Sonder- und Sozialpädagogik, Kinderkrankenpflege, Rehaberatung für Hilfsmittel zusammensetzen. In diesen Teams wirken nach Bedarf externe Spezialisten beispielsweise aus den Gebieten der Orthopädie oder Neurochirurgie mit.

Wie Sie an dem Beispiel der Versorgung einer Cerebralparese sehen, sind mehrere Teiltherapiemodalitäten für das Kind in Erwägung zu ziehen: Physiotherapie, Hilfsmittelversorgung, Botulinumtoxin, orthopädische sowie neurochirurgische Interventionen. In dieser Behandlung ist die Entwicklung des Kindes, seine familiäre und schulische Situation mit zu berücksichtigen. Ohne konstante Teams ist die Verlaufsbeurteilung und Betreuung nicht das wert, was sie sein könnte.

Nehmen wir davon eine Komponente heraus: die Versorgung mit Hilfsmitteln. Sie ist für Patienten von herausragendem Stellenwert, weil sie die Möglichkeit von Teilhabe besonders unterstützt und fördert. Auch hier ist eine problemgerechte Versorgung eigentlich nur im Team vorstellbar. Die Hilfsmittelangebote sind kaum noch übersehbar. Das Verfahren ist sehr komplex. Wenn wir ein hoch querschnittsgelähmtes Kind mit Gehorthesen zum aufrechten Gang bringen und es nicht mehr verkrüppelt am Boden liegt, tun wir übrigens auch etwas für seine Würde.

(Beifall)

Als wir ein Kind mit solch einer reziproken Gehorthese versorgten, sagte der kleine Steppke: Ich kann fliegen.

Wie Sie diesem Versorgungsschema eines Qualitätspapiers für Hilfsmittelversorgung entnehmen können, welches wir gerade für alle SPZs erarbeitet haben, ist der Ablauf der Hilfsmittelversorgung hoch differenziert. Mit dem alleinigen Verordnen ist es nicht mehr getan. Es gilt, in dem immer größer werdenden „Hilfsmitteldschungel“ das für das Kind angemessene Hilfsmittel zu finden, individuell anzupassen und so anzutrainieren, dass es im Alltag auch genutzt wird. Wir müssen gegenwärtig befürchten, dass diese so wichtige und wertvolle Versorgung im Rahmen der Gesundheitsreform in konkreter Gefahr ist. Wenn wir die individuellen Kooperationen, die auf langjährigen Erfahrungen aufbauen, dem „Wettbewerb“, der ja in Wahrheit keiner ist, opfern, wird sich die Versorgungsqualität wieder verschlechtern. Ob dies dann preiswerter ist, steht noch dahin.

Was uns Sozialpädiater sehr bekümmert hat, ist die teilweise sehr lange administrative Bearbeitungsdauer, bis diese Hilfen gewährt werden, und die vielen Ablehnungen von Maßnahmen, insbesondere bei privaten Krankenkassen. Der damit verbundene administrative Aufwand ist für uns Ärzte immens.

Menschen mit geistiger Behinderung können klinisch häufig Besonderheiten aufweisen, die dann auch eine besondere diagnostische wie therapeutische Vorgehensweise erfordern.

Wenn Sie sich die hier gezeigte Auflistung ansehen, können Sie sicherlich gut nachvollziehen, dass dies nicht unbedingt den Arzt-Patient-Kontakt erleichtert. Wenn die Patienten unkontrolliert schreien, immobil und inkontinent sind, speicheln, in allen Belangen gepflegt werden müssen, wenn sie auf Bezugspersonen fixiert sind und bei einem Kontakt zu Fremden schreiend abwehren: Wer möchte hier gerne in die Versorgung eintreten? Wir Kinderärzte sind hier in einem gewissen Vorteil, denn dies ist genau die Situation, wie wir sie bei Säuglingen regelhaft erleben.

Hier als Bildbeispiel ein Foto meines jüngsten Sohnes im Säuglingsalter, mit dem ich ungeachtet dieser Eigenschaften sogar 1994 die Eröffnungsfeier des damaligen Ärztetages in Köln besuchen konnte. Das ist gesellschaftliche Teilhabe auf höchstem Niveau.

(Beifall)

Am Anfang des Lebens sind die Unterschiede von behinderten Kindern zu gleich alten Säuglingen ohne Behinderung noch nicht erkennbar bzw. entwicklungsbedingt noch nicht vorhanden. Diese werden sich erst später einstellen. Deswegen benötigen diese Familien unsere Begleitung, damit die Kinder bei erkennbaren Problemen rechtzeitig gefördert und behandelt werden, aber auch damit nach Möglichkeit Übertherapien, Behandlungen mit nicht wirksamen Methoden den Kindern und ihren Familien erspart bleiben, denn viele Eltern fragen sich: Machen wir alles richtig oder zu wenig? Mit dieser Gefühlslage wird auf unseriöse Weise leider viel Geld verdient.

Geistig und mehrfach Behinderte sind grundsätzlich anfälliger für weitere Erkrankungen; sie weisen dann anders akzentuierte Symptome und besondere Erkrankungsverläufe auf, haben öfter Mehrfacherkrankungen. Dies erfordert andere Untersuchungsstrategien und ein entsprechendes aufmerksames Problembewusstsein dafür, weil sonst selbst häufige Diagnosen wie die akute Blinddarmentzündung verschleppt diagnostiziert und behandelt werden und die Mortalität dafür, wie in einer Arbeit publiziert, von 0,1 Prozent auf 23 Prozent ansteigen kann.

Deswegen benötigen die behandelnden Ärztinnen und Ärzte besondere Kenntnisse, wie sie beispielsweise in der geplanten Zusatzweiterbildung Sozialpädiatrie oder Curriculare Fortbildung für die Medizinische Versorgung für Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung vermittelt werden.

Bis wir zu dieser Versorgungsstufe gekommen sind, haben wir einen weiten Weg hinter uns. Er ist jetzt ziemlich genau 100 Jahre alt. Deshalb erlauben Sie mir bitte einen kleinen Ausflug in die Geschichte der Sozialpädiatrie.

1909 standen die Pädiater ohnmächtig dem Phänomen gegenüber, dass in den Krankenhäusern eine extrem hohe Säuglingssterblichkeit von bis zu 80 Prozent bestand. Der Münchner Kinderarzt Meinhardt von Pfaundler sprach 1909 deshalb von einem bethlehemistischen Kindermord in Permanenz. Es wurde überlegt, die Kinderabteilungen für Säuglinge zu schließen. In Ermangelung wirksamer Behandlungsmethoden konnten nur die präventiven Maßnahmen der Gesundheitsfürsorge, Früherkennung und Pädagogik dieser grausamen Situation begegnen.

1909 war die Geburtsstunde der Sozialpädiatrie, damals Vereinigung für Säuglingsschutz genannt. Die medizinische Versorgung war in hohem Maße eingebettet in die Gemeinwesenbezüge. Das Buch von Czerny von 1911, das dem Pädiater erzieherische Aufgaben zuwies, erlebte elf Auflagen. 1983 wurde es sogar noch einmal nachgedruckt. Engel und Berendt schrieben den Pädiatern 1927 in Band 4 des achtbändigen Handbuchs für Soziale Hygiene eine klare soziale Kompetenz zu. Beispielsweise war die Säuglingssterblichkeit für uneheliche Säuglinge mit fast 30 Prozent knapp doppelt so hoch wie für ehelich geborene Säuglinge. Um die Versorgung zu verbessern, entstand die Deutsche Vereinigung für Säuglingsschutz.

Da dieses Konzept im Wesentlichen von diesen und weiteren jüdischen Pädiatern entwickelt worden war – damals waren die Hälfte der deutschen Kinderärzte jüdischer Abstammung –, wurde es im Dritten Reich nicht fortgeführt, nachdem diese verdienstvollen Kollegen nicht mehr willkommen waren. Der Name der Deutschen Vereinigung für Säuglings- und Kleinkinderschutz mutierte zur Reichsarbeitsgemeinschaft für Mutter und Kind. Kinder mit Behinderung wurden Opfer der Euthanasie, starben offiziell an natürlichen Erkrankungen wie Pneumonien. Im Krieg starb auch hier die Wahrheit.

Nach dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Diktatur, nach Wiederaufbau unseres zerstörten Landes und dem erlebten Wirtschaftswunder formierte sich die Sozialpädiatrie neu. Der auch heute noch im 90. Lebensjahr ungebrochen aktive Münchner Kinderarzt Theodor Hellbrügge schuf 1968 das erste Sozialpädiatrische Zentrum, nachdem er vorher zusammen mit seinem
Oberarzt Johannes Pechstein im Band 3 des zehnbändigen Handbuchs für Kinderheilkunde die theoretischen Grundlagen dafür ausgearbeitet hatte. Pechstein war es auch, der den Begriff der Sozialpädiatrischen Zentren prägte.

Dieses erste Zentrum wurde von Anfang an sehr beachtet. Der damalige Sozialminister Heiner Geißler initiierte bereits 1971 das zweite Sozialpädiatrische Zentrum, welches Pechstein leitete und in dem ich jetzt arbeiten darf. Schon zehn Jahre später gab es bereits 21 Zentren. Den großen Durchbruch bewirkte 1989 die Aufnahme der Sozialpädiatrischen Zentren in § 119 des SGB V. Die Anzahl der Sozialpädiatrischen Zentren stieg bis heute auf über 130 Zentren an, sodass wir jetzt von einer flächendeckenden Versorgung der zu betreuenden Patienten sprechen dürfen.

Am Beispiel von Rheinland-Pfalz mit seinen acht Sozialpädiatrischen Zentren – Bad Kreuznach, Landau, Landstuhl, Ludwigshafen, Mainz, Neuwied und Trier – mit ihren dezentralen Außenstellen ist die flächendeckende Versorgung gut erkennbar.

Diese Sozialpädiatrischen Zentren sichern bundesweit flächendeckend die medizinische Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit geistiger und mehrfacher Behinderung bis zum 18. Lebensjahr. Für die betreuten Patienten bedeutet dies eine gelungene, verlässliche Versorgungsstruktur. Sie ist entstanden im Dialog der Sozialpädiater mit den verantwortlichen Sozialpolitikern und den Kostenträgern. Dass dies so gut gelungen ist, dafür sei den beteiligten Gesundheitspolitikern und Krankenkassenverantwortlichen an dieser Stelle ausdrücklich gedankt. Das haben Sie gut gemacht.

(Beifall)

Was uns allerdings bundesweit große Sorgen bereitet, ist, dass die Erfüllung der gestellten Aufgaben für die Sozialpädiatrischen Zentren zunehmend unter Druck gerät, weil die tarifbedingten Lohnsteigerungen wiederholt in der Finanzierung nicht nachgeführt worden sind. Ich versuche immer, den Journalisten das folgendermaßen zu erklären. Wenn jemand sagt „Haben Sie schon gehört, das Benzin ist wieder teurer geworden!“, antwortet der andere: „Das ist mir
egal, ich tanke sowieso nur für 20 Euro.“ Das ist auch eine Art der Rationierung. Es wird nämlich immer weniger, was wir den Patienten für einen bestimmten Betrag anbieten können.

(Beifall)

Viele Zentren haben zudem Wartelisten über viele Monate. Dieser Form der Rationierung müssen wir so entsprechen – das tun wir seit über zehn Jahren –, dass wir bei den angemeldeten Patienten Prioritäten anwenden müssen. Beispielsweise gehen angemeldete Säuglinge, Kinder mit Anfällen oder anderen drängenden klinischen Problemen nicht in die Warteliste, sondern werden zeitnah versorgt. Dafür müssen andere eben länger warten. Das ist auch eine Form der Priorisierung.

Für Patienten bricht ab dem 18. Lebensjahr diese Versorgung ab. Es gibt eine Ausnahme: Patienten mit Spina bifida dürfen in drei Sozialpädiatrischen Zentren in der Bundesrepublik, nämlich in Berlin, Erlangen und Mainz, über das 18. Lebensjahr hinaus versorgt werden.

Viele dieser Patienten leben weiterhin in ihrer Familie und sind von dieser Versorgungsmisere besonders betroffen.

Warum die Versorgung von Erwachsenen so schlecht ist – übrigens nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen anderen europäischen Ländern –, liegt unter anderem an der gestiegenen Lebenserwartung. Das mag unter anderem folgenden Grund haben, wie ich Ihnen anhand folgender Anekdote erläutern möchte: Als das Land Rheinland-Pfalz unser kleines kinderneurologisches Zentrum in Mainz aus wirtschaftlichen Gründen im Jahre 2000 dem großen öffentlichen Träger Landeskrankenhaus angliederte, besuchte mich damals sein Geschäftsführer. Ich zeigte ihm unsere Einrichtung und erwähnte als Besonderheit, wir dürften als Kindereinrichtung auch erwachsene Patienten mit Spina bifida versorgen. Daraufhin meinte die begleitende Assistentin des Geschäftsführers: „Wieso, die sterben doch alle schon im Kindesalter“. Daraufhin fragte ich, wie sie zu einer solchen Auffassung käme. Sie erwiderte, sie hätte auch eine Ausbildung als Kinderkrankenschwester. Ich fragte sie, wo sie ausgebildet worden sei. Sie antwortete: „In Paris“, aber das liege schon über 20 Jahre zurück.

Da bestätigte ich ihr, dass diese Aussage damals tatsächlich zutraf. Mittlerweile aber dürften die Patienten aufgrund des medizinischen Fortschritts erwachsen werden. 60 Prozent unserer 1 000 Patienten mit Spina bifida, die wir jährlich betreuen, sind über 18 Jahre alt.

Bei Menschen mit Trisomie 21 ist die Lebenserwartung ebenfalls sehr viel besser geworden. Innerhalb der letzten 100 Jahre ist die Lebenserwartung von 9 auf 60 Jahre angestiegen. Wenn wir für diese Patienten die Kriterien für Lebensqualität anlegen, haben sie übrigens eine bessere Lebensqualität als wir. Auch das sollte uns nachdenklich stimmen.

Wir dürfen feststellen, dass unser Gesundheitssystem auf diese verlängerte Lebenserwartung von Behinderten noch nicht eingerichtet ist. Hier besteht konkreter Handlungsbedarf. Ein Aspekt ist übrigens auch, dass diese Patienten, als sich unser Gesundheitswesen formierte, nicht zu versorgen waren, weil sie im Dritten Reich umgebracht worden waren. Das ist nach und nach nachgewachsen. Wir müssen jetzt für diese Patienten eine Versorgung finden.

So entwickelt diese Versorgung für Kinder und Jugendliche ist: Insgesamt ist die medizinische (kurative, präventive und rehabilitative) Versorgung von Menschen mit geistiger und Mehrfachbehinderung in Deutschland unzulänglich. Deswegen möchte ich Ihnen, verehrte Delegierte, danken, dass Sie im letzten Jahr in Ulm den Beschluss gefasst haben, die Versorgung dieser Patienten zu Ihrem besonderen Anliegen zu machen. Ich danke auch Herrn Professor Hoppe und dem Vorstand der Bundesärztekammer für das hohe persönliche Engagement bei diesem Thema. Schließlich betrifft es mehr als eine halbe Million Menschen in unserer Gesellschaft.

Besonders freut es mich, dass die deutsche Ärzteschaft auf diesem Ärztetag Theodor Hellbrügge, der an dieser Versorgung maßgeblich Anteil hatte, für seine Verdienste mit der Paracelsus-Medaille ehrte. Deswegen möchte ich meinen Vortrag mit einem Zitat von Paracelsus aus seinen Anagrammen beenden, das unmittelbaren Bezug zur Medaille hat:

Die Heilung kommt aus der Medizin
und die Kunst der Medizin
entspringt der Barmherzigkeit.
Geheilt zu werden ist also
kein Akt des Glaubens,
sondern ein Akt des Mitgefühls.
Das wahre Fundament der Medizin
ist die Liebe.

Das ist ein Zitat der Mitmenschlichkeit mit Vokabeln, die Sie in unseren Gesundheitsreformwerken nicht finden werden. Es freut mich, wenn der ebenfalls geehrte Herr Bialas in seiner Dankesrede auf diese Werte hinwies. Sie kommen eben nicht aus der Mode. Erlauben Sie mir, wenn ich hierzu die Begrifflichkeit der Demut hinzufüge, denn ohne sie ist für mich eine gute Patientenversorgung nur schwer vorstellbar, auch wenn sie mir manchmal nicht gelingt, wie ich es mir wünsche.

(Beifall)

Bitte helfen Sie mit, damit sich die Versorgung dieser Patienten bessert. Das beginnt in unserem Kopf mit unserer persönlichen Haltung dazu.

Mein Nachredner, Herr Professor Seidel, wird Ihnen nun die Versorgungssituation von Erwachsenen mit geistiger und mehrfacher Behinderung darstellen.

Ich danke Ihnen sehr für Ihre Aufmerksamkeit.

(Lebhafter Beifall)

Vizepräsidentin Dr. Goesmann: Sehr verehrter Herr Peters, wir danken Ihnen für dieses lehrreiche und emotionale Referat, das uns sicherlich viel beigebracht hat, das aber auch, wie ich denke, dazu hilft, die Würde der Menschen mit Behinderung zu wahren und der Öffentlichkeit zu zeigen, dass wir großen Wert darauf legen, uns auch mit unserer Vergangenheit im Nationalsozialismus auseinanderzusetzen, und das an dieser Stelle auch nicht verschweigen wollen.

Ich darf nun Herrn Professor Seidel aus Bielefeld zu seinem Referat bitten. Er ist Leitender Arzt und Geschäftsführer Stiftungsbereich Behindertenhilfe der von Bodelschwinghschen Anstalten Bethel. Herr Professor Hoppe hatte ja schon erwähnt, dass er Sie letztes Jahr besucht und dort viel gelernt hat. Ich freue mich auf Ihr Referat.

© Bundesärztekammer 2009