TOP IV: Medizinische Versorgung von Menschen mit Behinderung

Donnerstag, 21. Mai 2009, Vormittagssitzung

Prof. Dr. Seidel,
ReferentProf. Dr. Seidel, Referent: Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Hochverehrtes Präsidium! Sehr geehrter Herr Präsident! Zunächst meinen herzlichen Dank dafür, dass ich heute hier über dieses wichtige Thema sprechen darf. Zum Zweiten gilt mein ganz herzlicher Dank dafür, dass der Vorstand entschieden hat, dieses Thema zu einem der wichtigen Tagesordnungspunkte dieses 112. Deutschen Ärztetages zu machen.

Ich möchte ganz kurz etwas zum Hintergrund meines Vortrags sagen, also zu meiner Funktion. Sie haben schon gehört: Ich bin in Bethel im Stiftungsbereich Behindertenhilfe. Das ist ein Teil dieses großen Konzerns im Bereich der Behindertenhilfe. Ich bin Geschäftsführer und Leitender Arzt. Wir betreuen etwa 1 600 Menschen unter stationären Bedingungen. Sie leben in Heimen, in Wohnheimen, und zwar nicht nur in Bielefeld, sondern auch außerhalb von Bielefeld in benachbarten Kreisen, bis nach Münster, Hamm usw.

Wir versorgen aber auch im Zuge des strukturellen Wandels der Eingliederungshilfe viele Menschen – weit über 500 – ambulant. Das heißt, diese Menschen mit Behinderungen leben in ihren eigenen Wohnungen und erhalten durch uns Unterstützung.

Sie können sich sicher vorstellen, dass wir damit auf die unterschiedlichsten Gegebenheiten in den verschiedenen Gebietskörperschaften treffen. Ich weiß also, dass es durchaus eine große Zahl von Versorgungsmängeln auf diesem Gebiet gibt.

Trotzdem möchte ich vorwegschicken, dass mir daran liegt, deutlich zu machen, dass die Akzentuierung der Versorgungsmängel notwendig ist, um das Problem zu beschreiben, dass es aber gleichfalls zur Gerechtigkeit hinzugehört, deutlich zu sagen, dass es eine große Zahl von Ärztinnen und Ärzten gibt, die ihr Bestes auf diesem Gebiet tun und zum Teil erhebliche Risiken auf sich nehmen, bis hin zu Regressdrohungen und anderem. Trotzdem: Es bleibt ein versorgungsstruktureller Mangel, der viele verschiedene Ursachen hat. Ich muss vergröbern, um die Problematik zu charakterisieren.

Eine zweite Einschränkung: Ich muss auch vergröbern im Hinblick auf die Bedarfslagen von Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung. Nicht alle von ihnen benötigen diesen besonderen medizinischen Versorgungsaufwand, aber viele. Nicht alle dieser Menschen haben nur Schwächen, Defizite, sondern sehr viele von ihnen haben auch Stärken und Kompetenzen.

(Beifall)

Es ist also ein methodischer Kniff, die Defizite und die Mängel darzustellen. Man muss nur deutlich machen, dass das nicht die ganze Wahrheit ist.

Wenn ich heute über dieses Thema spreche, weiß ich, dass ich mich damit in eine Tradition Deutscher Ärztetage stelle. Dennoch ist es dieses Mal anders; denn schon in der Einführungsrede des Herrn Präsidenten und in der Rede des Staatssekretärs und in einer Reihe von begleitenden Interviews ist dieses Thema angesprochen worden.

Ich komme damit zu meinem Thema: Bedarfsgerechte medizinische Versorgung von Erwachsenen mit geistiger und mehrfacher Behinderung. Die Ziele meiner Präsentation sind schnell erklärt. Ich möchte den besonderen Versorgungsbedarf erläutern und die wichtigsten Entwicklungserfordernisse darstellen. Ich nehme dabei Bezug – auch implizit – auf unsere ärztliche Ethik und unsere ärztliche Anthropologie. Ich nehme Bezug auf die Menschenrechte, ich nehme Bezug auf fachliche Erkenntnisse.

Ich möchte zunächst, auch um der erwähnten Tradition willen, Herrn Henke zitieren, der auf dem Bremer Ärztetag 2004 gesagt hat:

Der behinderte Mensch, jeder behinderte Mensch hat von Anfang seiner Existenz an bei allen Begrenzungen seine eigene Würde, eine Würde, die nicht Unbehinderte ihm verleihen oder zuerkennen können, sondern die er als Mensch hat, nicht weniger als jeder Unbehinderte. In der Anerkennung der Würde der Schwächeren, in der Anerkennung der Würde von Menschen mit Behinderung entscheiden wir über unsere eigene Würde.

(Beifall)

Um welche Menschen geht es bei meinen Ausführungen? In Deutschland leben circa eine halbe Million Menschen – vielleicht auch einige wenige mehr – mit geistiger und mehrfacher Behinderung. Dies ist eine Angabe der Bundesvereinigung Lebenshilfe. Die Tatsache, dass wir keine genauen Zahlen haben, hängt damit zusammen, dass es in Deutschland auch aus historischen Gründen kein Register von Menschen mit Behinderung gibt. Das hat etwas mit der schrecklichen Nazivergangenheit in Deutschland zu tun.

Viele dieser Menschen haben weitere Behinderungen und chronische Erkrankungen. Wir nennen das Mehrfachbehinderungen oder Komorbiditäten. Die Gründe sind vielfältig. Häufig liegen sie in den Ätiologien der Behinderung begründet. Im Grunde genommen muss man sagen: Auch der Begriff der geistigen Behinderung ist ein hochabstrakter Begriff. Er umfasst sehr, sehr verschiedene Bilder im Hinblick auf die Ausprägung und die Komplexität, ihre Ursachen usw.

Ende 2007 lebten in Deutschland rund 6,9 Millionen Menschen mit Schwerbehindertenausweis. Das ist eine ganz andere Gruppe. Darunter waren allein rund 1,3 Millionen unter der Rubrik „Störungen, geistige und/oder seelische“. Da sind natürlich auch all jene Störungsbilder eingeschlossen, die erst im Laufe des Lebens erworben werden, sei es durch Unfall, durch einen Schlaganfall oder im Rahmen einer seelischen Erkrankung, die im Laufe des Lebens auftritt.

Viele Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung erhalten Leistungen der Sozialhilfe, genauer gesagt: der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen nach SGB XII, das ja vor einigen Jahren das Bundessozialhilfegesetz abgelöst hat. Im Jahre 2007 gab der Steuerzahler dafür rund 11,9 Milliarden Euro aus.

Nur eine Minderzahl der Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung – im Jahre 2004 waren es etwa 140 000 Personen – erhält stationäre Leistungen der Behindertenhilfe in Wohnheimen, Wohngruppen usw. Viele dieser Menschen arbeiten in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung (WfbM).

Die Behindertenhilfe als System ist in einem rapiden Wandel begriffen. Mittelfristig nimmt die Zahl der Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung zu. Wir haben schon gehört: Das hat etwas damit zu tun, dass nach dem Krieg sich langsam eine vollständige demografische Altersstruktur aufgebaut hat, dass sich auch diese Zielgruppe an die demografische Entwicklung der allgemeinen Bevölkerung angeschlossen hat, wenngleich es noch eine statistische Differenz in Abhängigkeit vom Schweregrad der Behinderung gibt.

Natürlich ist eine logische Folge dessen, dass nun eine Fülle von gerontologischen und gerontopsychiatrischen Fragestellungen auftauchen, die vor Jahrzehnten noch gänzlich unbekannt waren im Kontext der Behindertenhilfe.

Es gibt einen enormen Wandel in der Behindertenhilfe, der zwei Wurzeln hat: Zum einen ist es die fachliche Überzeugung, der Anschluss an internationale Entwicklungen, unter dem Begriff der Inklusion, unter dem Begriff der Normalisierung, der Integration usw. zu fassen; es gibt aber auch ein Kostendämpfungsinteresse der Kostenträger, das hier natürlich mit hineinspielt. Insofern gibt es eine starke Tendenz, die ambulanten Dienstleistungen für Menschen mit Behinderungen auszubauen, die großen Komplexeinrichtungen abzubauen, die stationären Wohnangebote zu dezentralisieren, also in die Gemeinde zu bringen, also herauszulösen aus entlegenen großen Einrichtungen. Es geht auch um die Entwicklung innovativer Wohnformen.

Zur Bewertung der medizinischen Versorgung: Wir wissen – das will ich nicht vertiefen –, dass diese Menschen einen besonderen Bedarf an gesundheitlicher Versorgung haben, und zwar wegen der Komplexität ihrer Behinderungen, wegen der Komorbiditäten und wegen der fachlichen Besonderheiten. Wir müssen diese Situation mit den Menschenrechten konfrontieren, die diese Menschen haben. Wir wissen: Diese Gruppe hat als Gruppe erhebliche Unzulänglichkeiten der medizinischen Versorgung hinzunehmen. Das ist eine breite alltagsempirische Datenlage, allerdings keine wissenschaftlich hinreichend fundierte, denn auf diesem Gebiet fehlt jedwede Forschungsförderung. Es ist ein wichtiger Gesichtspunkt, dass hier mehr geforscht werden muss.

Aus diesem Grunde haben wir in Bethel vor einigen Jahren die Studie „Benachteiligung durch das GMG“ veröffentlicht. Wir haben damals im Rahmen qualitativer Sozialforschungsinterviews Klientinnen und Klienten der Behindertenhilfe, und zwar geistig behinderte Menschen, psychisch behinderte Menschen und Menschen in Wohnungslosigkeit, im Hinblick auf ihre Gesundheitsversorgungssituation untersucht.

Was kam dabei heraus? Viele Klientinnen und Klienten können ihre Gesundheitsleistungen nicht mehr bezahlen. Die Klientinnen und Klienten und ihr Unterstützerumfeld sind zum Teil über ihre Rechte nicht ausreichend informiert, nicht zuletzt deshalb, weil viele der Bestimmungen unverständlich sind, und zwar nicht nur für Patientinnen und Patienten, für „normale“ Leute, sondern mittlerweile, wie wir alle wissen, selbst für uns Fachleute.

Für einmalig hohe Ausgaben für Gesundheitsleistungen müssen die Klientinnen und Klienten außerordentlich hohe Anteile des verfügbaren Einkommens aufwenden. Stellen Sie sich bitte vor, dass beispielsweise jemand, der in einem Wohnheim wohnt und in einer Werkstatt arbeitet, pro Monat etwa 80 Euro zur Verfügung hat, um seine persönlichen Bedarfslagen zu befriedigen. Dazu gehören Porto, Kinokarte, Eisbecher usw. Dazu gehören eben auch die Zuzahlungen und die Eigenbehalte bei Leistungen, die ausgegrenzt sind.

Deshalb verzichten Klientinnen und Klienten mit Behinderungen auf Gesundheitsleistungen. Sie stehen in einem Entscheidungskonflikt über die Verwendung ihrer knappen finanziellen Ressourcen.

Dass Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung erhöhte Risiken aufweisen im Hinblick auf Körperbehinderungen, Sinnesbehinderungen, Epilepsie, psychische Störungen, innere Krankheiten, Krankheiten des Bewegungsapparats usw., ist Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, sicher aus dem Alltag heraus unmittelbar anschaulich. Die Gründe dafür sind teilweise biologischer Art, teilweise auch sozialer Art. Manchmal liegen die Gründe auch im Verhalten der Gruppe selbst: mangelnde Bewegung, ungesunde Ernährung.

Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung haben verminderte Fähigkeiten, Gesundheitsrisiken zu minimieren und beginnenden Gesundheitsstörungen frühzeitig zu begegnen. Das hängt damit zusammen, dass sie oft ein eingeschränktes Wissen über diese Dinge haben, dass auch ihre Kompetenzen eingeschränkt sind, dass sie auch nicht in ausreichendem Maße vorwegnehmen können, was sich aus einer bestimmten Beschwerde, einem bestimmten Symptom entwickeln kann. Sie haben natürlich auch eine eingeschränkte Organisationskompetenz und eben einen eingeschränkten Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen. Das beginnt bei baulichen Barrieren und setzt sich über die mentalen Barrieren in den Köpfen mancher fort.

Sie haben eine Einschränkung der Selbstbeobachtungs-, Körperwahrnehmungs- und Mitteilungsfähigkeit. Die Fachleute wissen: Oft modifizieren schwere geistige und mehrfache Behinderungen auch das Erscheinungsbild und das Verlaufsbild bestimmter Krankheiten. Im Krankenhaus oder in komplizierten diagnostischen Situationen ist es wichtig, zu wissen, dass das Verständnis für die Situation und eine gewisse Mitarbeitsfähigkeit bei schwerer geistiger Behinderung eingeschränkt sind. Das ist ein großes Problem beispielsweise bei einem CT oder bei einer Röntgenuntersuchung oder bei einer gynäkologischen Untersuchung.

Natürlich gibt es auch Einschränkungen im gesundheits- und krankheitsgemäßen Verhalten. Ebenso gibt es Einschränkungen in der aktiven Mitwirkung bei bestimmten diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen.

Ich komme nun zu den Menschenrechten. Ich werde keinen großen Vortrag über die Menschenrechte halten, sondern ich beziehe mich im Wesentlichen auf das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte behinderter Menschen aus dem Jahr 2006, das nach der Ratifizierung in Deutschland bindendes deutsches Recht und einklagbares deutsches Recht geworden ist. Wesentlich sind die Art. 25 und 26. Art. 25 lautet:

Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit ohne Diskriminierung aufgrund von Behinderung.

Art. 25, der viele einzelne Bestimmungen enthält, enthält zwei Hauptaussagen: Menschen mit Behinderungen sollen eine Gesundheitsversorgung in derselben Bandbreite, von derselben Qualität und auf demselben Standard haben wie alle anderen Menschen. Sie sollen diejenigen Gesundheitsleistungen erhalten, die sie speziell wegen ihrer Behinderungen benötigen. Das ist die Kernaussage des Art. 25.

Art. 26 besagt, dass Maßnahmen zu ergreifen sind,

um Menschen mit Behinderungen in die Lage zu versetzen, ein Höchstmaß an Unabhängigkeit, umfassende körperliche, geistige, soziale und berufliche Fähigkeiten … zu erreichen und zu bewahren.

Art. 26 trifft auch Festlegungen über die Notwendigkeit von Aus- und Fortbildung usw.

Welches sind nun die strukturellen Voraussetzungen? Hier darf ich auf einen Beschluss des 111. Deutschen Ärztetages in Ulm verweisen. Ich möchte mich hauptsächlich auf den letzten Punkt beziehen, der lautet:

Die bedarfsgerechte Gesundheitsversorgung von Menschen mit Behinderungen einschließlich pflegebedürftiger Menschen ist ein besonderes Anliegen der deutschen Ärzteschaft.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Tatsache, dass Herr Kollege Peters und ich heute so explizit über dieses Thema sprechen dürfen, ist ein Beweis dafür, dass die deutsche Ärzteschaft dieses Thema ernst nimmt.

(Beifall)

Wir benötigen strukturelle Voraussetzungen im ambulanten Bereich, zu dem natürlich die niedergelassenen Ärzte, die Sozialpädiatrischen Zentren, in der Psychiatrie die psychiatrischen Institutsambulanzen, aber auch integrierte ärztliche Dienste in Einrichtungen der Behindertenhilfe usw. gehören. Wir benötigen ebenfalls angemessene organisatorisch-strukturelle Bedingungen für die stationäre medizinische Versorgung.

Im ambulanten Bereich brauchen wir vor allen Dingen dort, wo es um Spezialangebote geht, angemessene räumliche Bedingungen, ein spezielles Setting, erweiterte Hausbesuchsmöglichkeiten. Ich beziehe mich hier auf den Punkt der Abrechenbarkeit, weil viele Dinge erst im Kontext mit der Lebenswirklichkeit und des Lebensalltags sachgerecht zu interpretieren sind.

Wir brauchen in diesem Bereich auf jeden Fall mehr Zeit für eine angemessene Kommunikation mit den Betroffenen und seinen Unterstützungssystemen. Wir brauchen für diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die diese aufwendige Arbeit leisten, eine Finanzierung ihrer Arbeit, die den Mehraufwand auskömmlich vergütet, insbesondere dann, wenn sie in der Lage und willens sind, einen gewissen Schwerpunkt auszubilden. Das kann nicht ins privatwirtschaftliche Risiko verschoben bleiben, wenn sich eine Ärztin, wenn sich ein Arzt um diese Menschen besonders engagiert kümmert. Ich bitte Sie dringend, diese Forderung zu unterstützen.

(Beifall)

Auch für den Krankenhausbereich lässt sich Ähnliches sagen, denn viele Menschen mit schweren geistigen Behinderungen und vielleicht auch Verhaltensauffälligkeiten benötigen erhebliche Unterstützung im Krankenhaus. Vieles ist nicht in der Routine des Krankenhauses und auch nicht im Ressourcenaufwand des Krankenhauses abbildbar. Sie wissen, dass sich der Gesetzgeber im Moment mit einem sogenannten Pflegebedarfsassistenzgesetz befasst. Dass es unzulänglich formuliert ist, sei nur am Rande erwähnt. Es beschreibt aber ein richtiges Problem.

Wir benötigen eine angemessene Vergütung für den Mehraufwand entweder durch tagegleiche Pflegesätze oder durch Anpassungen des DRG-Systems.

Ich bin neben meiner Tätigkeit in Bethel Leiter des Arbeitskreises Gesundheitspolitik aller Fachverbände der Behindertenhilfe in Deutschland. Von daher kenne ich seit mehr als zehn Jahren die gesundheitspolitische Positionierung der Fachverbände der Behindertenhilfe, denn ich habe sie in wesentlichen Teilen mitschreiben dürfen.

Wir haben schon 1998, also vor elf Jahren, ein Positionspapier formuliert, in dem steht: Wir fordern die Verbesserung der fachlichen und organisatorischen Bedingungen des Regelversorgungssystems; wir fordern die Ergänzung des medizinischen Regelversorgungssystems durch Ambulanzen für erwachsene Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung; wir verlangen die Öffnung der vorhandenen spezialisierten Angebote medizinischer Versorgung in Einrichtungen der Behindertenhilfe für externe Nutzer. Wir haben damals konkret verlangt, dass § 27 SGB V ergänzt werden möge durch die Bestimmung, dass die Belange von Menschen mit Behinderung bei der Krankenversorgung besonders beachtet werden mögen. Wir haben verlangt, dass ein § 119 a in das SGB V eingefügt werden möge mit dem Ziel, die Grundlagen für Ambulanzen für Erwachsene mit geistiger und mehrfacher Behinderung zu schaffen.

Was ist daraus geworden? Welches sind die tatsächlichen Wirkungen auf die Gesetzgebung? Es hat durch das GMG einen § 2 a SGB V gegeben, der lautet:

Den besonderen Belangen behinderter und chronisch kranker Menschen ist Rechnung zu tragen.

Das ist ein großer Erfolg, aber zunächst eine rein deklaratorische Bestimmung, die inhaltlich ausgefüllt werden muss.

Schließlich ist ein § 119 a SGB V formuliert worden, der es Einrichtungen der Behindertenhilfe, die über eine ärztlich geleitete Abteilung verfügen, erlaubt, sich zur Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung ermächtigen zu lassen. Ich darf hier in aller Öffentlichkeit kritisch formulieren, dass leider die KVen vor Ort oft eine widerwärtige Obstruktionspolitik bei diesen Ermächtigungen betreiben.

(Beifall)

Ich erlaube mir an dieser Stelle einen Exkurs zum Thema Rationierung und Priorisierung. Meine Damen und Herren, wer liebt dieses Thema? Ich glaube, niemand von uns. Ich liebe es nicht. Gleichwohl gehört es zu den unabweisbaren Realitäten unseres Lebens, dass wir mit begrenzten Ressourcen auskommen müssen. Ich habe im Jahr 2005 im „Deutschen Ärzteblatt“ mit dem Titel „Kriterien der Leistungsgewährung für Menschen mit Behinderungen“ veröffentlicht. In diesem Artikel habe ich damals formuliert:

Menschen mit Behinderung sind nicht nur in den sozioökonomisch charakterisierbaren Merkmalen ihrer individuellen Situation … beeinträchtigt, sondern auch – in Abhängigkeit von Art und Umfang ihrer Behinderung – in der Verfügbarkeit persönlicher Ressourcen … benachteiligt. Zur Bewältigung ihres Alltages und zur Inanspruchnahme von Leistungen der gesundheitlichen Versorgung benötigen sie deshalb unter Umständen verschiedene Hilfen durch Dritte.

Das ist für mich auch in Bezug zu setzen zu dem bereits erwähnten § 2a
SGB V.

Deshalb habe ich damals formuliert, dass die Prioritätendiskussion die Lebenswelt, die individuellen Bedingungen der Patienten usw. einbeziehen muss, nicht allein die Ernsthaftigkeit einer medizinischen Problematik oder die potenziellen Folgen einer ausbleibenden Behandlung.

Meine Damen und Herren, wenn wir eine Priorisierungsdiskussion führen – ich glaube, wir werden sie führen müssen –, müssen wir nicht nur über medizinische Indikationen, sondern auch über die individuellen lebensweltlichen Konstellationen eines Patienten reden. Dann wird ein Schuh daraus, wenn wir von daher klären können, was die Belastung der Solidargemeinschaft bedeutet und was dem Einzelnen zuzuwidmen ist.

(Beifall)

Vor diesem Hintergrund, liebe Kolleginnen und Kollegen, erlaube ich mir eine kritische Anfrage zu dem Beschluss zur Kostenerstattung. Wie soll denn die regelmäßige und, wenn ich es richtig verstanden habe, vorrangige Kostenerstattungsregelung bei Patienten mit Sozialhilfebezug oder unter anderen prekären Lebensbedingungen realisiert werden? Wie soll denn die alleinerziehende Mutter, die vielleicht von einem verfügbaren Barvermögen von 300 Euro im Monat leben muss, mit einer Kostenerstattung von 600 oder 700 Euro zurechtkommen? Dann können die Kinder wahrscheinlich zur Armenküche gehen. Ich glaube, das ist keine Lösung, die die deutsche Ärzteschaft will. Bitte überdenken Sie diesen Beschluss.

(Beifall)

Nun komme ich zu den aktuellen Forderungen. Dabei beziehe ich mich nicht allein auf meine persönliche fachliche Einschätzung, sondern auch hier wieder auf den Konsens der Fachverbände der Behindertenhilfe und unsere speziellen Fachdiskurse. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Ärzte für Menschen mit geistiger Behinderung ist erwähnt worden; ich bin ihr Mitglied. Natürlich unterstütze ich auch alle diese Forderungen. Wir sind uns da auch einig.

Wir fordern die Verbesserung der fachlichen und organisatorischen Bedingungen des Regelversorgungssystems. Wir verlangen aber auch die Ergänzung des medizinischen Regelversorgungssystems durch ambulant arbeitende, interdisziplinär ausgestattete medizinische Zentren für Erwachsene mit geistiger und mehrfacher Behinderung.

Wir wollen nach wie vor die Öffnung der vorhandenen spezialisierten Angebote medizinischer Versorgung in Einrichtungen der Behindertenhilfe für externe Nutzer. Da kommen verschiedene Lösungsmöglichkeiten – medizinische Versorgungszentren, Ermächtigungen nach § 119 a SGB V usw. – infrage.

Wir wollen eine angemessene Vergütung der überdurchschnittlich aufwendigen Leistungen niedergelassener Ärzte und spezialisierter ambulanter Angebote, wenn sie Menschen mit einem besonderen Mehrbedarf betreuen. Das ist eine ganz zentrale Forderung.

(Beifall)

Wir erwarten natürlich von allen Ärzten, dass sie sich in einem gebotenen Umfang für Menschen mit Behinderungen, auch für Menschen mit schwerer geistiger und mehrfacher Behinderung, öffnen. Es wird auch hier wie überall in der Medizin auf Schwerpunktbildungen und Spezialisierungen hinauslaufen müssen. Wenn eine Kollegin, wenn ein Kollege bereit ist, einen solchen Schwerpunkt herauszubilden, dann soll sie bzw. er dafür auch angemessen vergütet werden. Gerade in diesen Bereichen muss auf jeden Fall der Zugang zu besonderen Abrechnungsmöglichkeiten geschaffen werden.

Spezialisierte Angebote, beispielsweise Ermächtigungen nach § 119 a SGB V, dürfen nicht behindert werden. Sie müssen unbürokratisch zugelassen und auskömmlich finanziert werden. Die bisherige Einzelleistungsabrechnung nach dem EBM ist nicht zielführend.

Aber noch viel schlimmer ist – ich wiederhole es – die teilweise schikanöse Prozedur der Bearbeitung dieser Anträge durch die regionalen KVen. Ich bin gern bereit, dazu Auskunft zu geben. Ich werde es aber nicht hier in der Öffentlichkeit tun.

(Beifall)

Ich möchte noch Bezug nehmen auf ein ganz aktuelles gesundheitspolitisches Dokument. Am vergangenen Wochenende hat eine Fachtagung „Gesundheit fürs Leben“ der Bundesvereinigung Lebenshilfe und der Bundesarbeitsgemeinschaft Ärzte für Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung stattgefunden. Dort sind die sogenannten Potsdamer Forderungen formuliert worden. Ich nehme einige heraus. Wir verlangten dort gemeinsam mit Betroffenen eine gute Regelversorgung. Der Übergang vom Jugend- ins Erwachsenenalter muss geregelt werden. Die Bedarfe älterer Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung müssen besonders berücksichtigt werden. Das hat sich in dem Referat von Herrn Dr. Peters schon angedeutet.

Wir benötigen spezielle Zentren in der ambulanten Versorgung Erwachsener mit geistiger oder mehrfacher Behinderung und spezialisierte Krankenhäuser, Zentren in Analogie zu Sozialpädiatrischen Zentren.

Wir fordern die Schaffung transparenter, effizienter und effektiver Versorgungsstrukturen für Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung. Wir wollen darauf hinweisen, dass im Einzelfall hier der Hausarztbegriff modifiziert werden muss; denn bei schwer behinderten Menschen können durchaus qualifizierte und sehr erfahrene Fachärzte sehr kompetent die Funktion des Hausarztes einschließlich des Fallmanagements übernehmen.

Ich will Sie ausdrücklich darauf aufmerksam machen, dass der Ansatz der evidenzbasierten Medizin bei der Bewertung von Behandlungsverfahren im Hinblick auf Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung oft nicht zielführend ist. Er muss in dieser Hinsicht unbedingt relativiert werden.

Wir müssen deutlich machen, dass die individuellen finanziellen und sonstigen Ressourcen und Lebenslagen bei der Bemessung von Leistungen der GKV berücksichtigt werden müssen. Das hatte ich vorhin schon in meinem Exkurs zur Rationierungs- und Priorisierungsdiskussion ausgeführt.

Wir müssen das Thema in die Aus-, Fort- und Weiterbildung aller Gesundheitsberufe einbeziehen. Wir müssen das Thema in die studentische Ausbildung an den Universitäten einbeziehen. Wir müssen an die Fachärzte verschiedener Herkunft herantreten. Ich nehme das Curriculum der Bundesarbeitsgemeinschaft Ärzte für Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung als Beispiel, das derzeit zum ersten Mal in der Praxis läuft. Das ist ein guter Weg, dieses Thema an viele Fachärzte verschiedener Herkunft heranzutragen.

Als Psychiater erlaube ich mir, auf das Curriculum zur (Muster-)Weiterbildungs­ordnung für Psychiatrie und Psychotherapie hinzuweisen.

Die Versorgungsforschung und die medizinische, pflegewissenschaftliche und psychologische Forschung müssen sich mehr als bisher auf dieses Klientel ausrichten.

Wir brauchen dringend die Korrektur der Fehlentwicklungen der letzten Schritte der Gesundheitsreform. Vor allen Dingen brauchen wir die Abschaffung der Zuzahlungsregelungen und der Leistungsausgrenzungen für arme Leute. Bitte unterstützen Sie diese Forderung. Es ist gleichgültig, auf welchem gesetzestechnischen Weg eine solche Regelung zustande kommt, ob beispielsweise eine Härtefallregelung im SGB V erfolgt oder im SGB XII am Ende eine Regelung durch Einmalbeihilfen vorgesehen wird. Es muss eine auslegungsfeste, sichere Lösung für diese besonders benachteiligte Gruppe von Patienten geben.

(Beifall)

Meine liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme nun in die letzte Schleife meines Vortrags. Ich sage noch etwas zu den fachlichen Voraussetzungen unter drei Unterüberschriften: Haltung, Wissen und Kompetenzen.

Zur Haltung zitiere ich den Beschluss des 107. Deutschen Ärztetages:

Der Deutsche Ärztetag appelliert an alle in Klinik und Praxis tätigen Ärztinnen und Ärzte, ihre ärztliche Tätigkeit im Rahmen von Prävention, Diagnostik, Therapie und Rehabilitation bei behinderten Menschen in besonderem Maße auf deren spezifischen Belange auszurichten.

Ich zitiere wieder Herrn Henke – hoffentlich wird er von mir nicht noch Honorar verlangen –:

Das Bild, das sich nichtbehinderte Menschen von einem Leben mit Behinderungen machen, stimmt nicht immer mit der Wirklichkeit und dem Selbstverständnis behinderter Menschen überein. Behinderungen werden oft nur mit Leiden, Schmerzen und Unglück identifiziert, eben mit negativen Elementen. Die Lebensfreude, Glück und Dankbarkeit, das Positive und Schöne, das im Leben von behinderten Menschen genauso seinen Platz hat, wird wenig wahrgenommen. Sicher erleben Menschen mit Behinderungen ihre Situation in vielfacher Hinsicht als großes „handicap“. Sie bedrückt ihre Benachteiligung in Bereichen des alltäglichen Lebens. Nur selten steht ihnen eine gleichberechtigte Teilhabe und barrierefreie Teilnahme am öffentlichen Leben offen.

Dazu gehört natürlich auch die Gesundheitsversorgung.

Bei der Haltung geht es um folgende Aspekte: die Achtung von Menschenwürde, die jedem Menschen a priori gegeben ist und nicht angetastet werden darf. Es geht um die Achtung der Selbstbestimmungsrechte und der Möglichkeiten von Menschen mit Behinderung. Es geht vor allen Dingen um eine Haltung des Respekts, der Achtsamkeit, der Fürsorglichkeit und der Verantwortlichkeit. Schließlich geht es um den allgemeinen Begriff der Gerechtigkeit.

Meines Erachtens wäre es hilfreich, wenn die deutsche Ärzteschaft für diesen Komplex eine programmatische Orientierung durch ein Grundsatzpapier hätte, wie es die Schweizer Ärzte haben. Die Schweizer Ärzte haben im vorigen Jahr ein Papier verabschiedet und veröffentlicht mit dem Titel „Medizinische Behandlung und Betreuung von Menschen mit Behinderung“. Es wäre schön, wenn wir in Deutschland etwas Ähnliches hätten. Das könnte auch die öffentliche und die fachöffentliche Diskussion über dieses Thema unterstützen.

Ich komme damit zum Thema Wissen. Geistige Behinderung ist oft mit zusätzlichen schweren Erkrankungen oder Behinderungen verknüpft. Geistige Behinderung ist oft mit besonderen Krankheitsrisiken verknüpft. Geistige Behinderung modifiziert das Erscheinungsbild von Krankheiten. Deshalb verlangt geistige Behinderung besondere fachliche Kenntnisse bei den Gesundheitsberufen.

Geistige Behinderung beeinträchtigt oft die Introspektionsfähigkeit und die Körperwahrnehmung, die Kommunikationsfähigkeit und die krankheitsbezogene Kooperationsfähigkeit. Sie verlangt besondere organisatorische und strukturelle Bedingungen der Gesundheitsversorgung, die dem besonderen Aufwand gerecht werden.

Natürlich benötigen Ärztinnen und Ärzte und andere Gesundheitsberufe, die sich um behinderte Menschen kümmern, spezielle Kenntnisse zu Krankheitsrisiken und Gesundheitsproblemen von Menschen mit geistiger Behinderung, insbesondere im Hinblick auf bestimmte Ätiologien. Ich erwähne hier das Angelman-Syndrom, ein genetisch bedingtes Syndrom, bei dem bekannt ist, dass sehr häufig Refluxerkrankungen bestehen, die oftmals schwere Verhaltensstörungen als Ausdruck der Schmerzwahrnehmung erklären.

Das Wissen um die besondere Bedeutung von Kontextfaktoren, insbesondere bei der Entstehung und der Aufrechterhaltung von psychischen Störungen und Verhaltensauffälligkeiten, ist ein Spezialgebiet. Es ist deshalb hier zu erwähnen, weil Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung häufig sehr stark somatisieren und umgekehrt sehr häufig somatische Probleme sich in Verhaltensauffälligkeiten ausdrücken.

Die speziellen Krankheits- und Beschwerdemanifestationen habe ich bereits erläutert.

Schlussendlich kommt es auf einige Kompetenzen an, nämlich eine besondere Kompetenz, interdisziplinär und transdisziplinär im Gesundheitswesen und in der Behindertenhilfe zu arbeiten. Es kommt auf bestimmte kommunikative Kompetenzen, vor allen Dingen nonverbale kommunikative Kompetenzen, mit geistig behinderten Patienten an. Es kommt auch darauf an, die durchaus andere Denkweise, Sprache und Terminologie anderer Berufsgruppen angemessen aufzunehmen und mit anderen Berufsgruppen angemessen zu kommunizieren.

Es geht um die Empathie für den Patienten und seine spezifische Situation und auch um Empathie für das Bezugssystem. Das sind die Familien, die professionellen Unterstützungssysteme, die gelegentlich auch am Rande ihrer Belastbarkeit stehen. Schließlich geht es auch um die Wahrnehmung von Kontextfaktoren, die sich als Barrieren oder Förderfaktoren erweisen können.

Zum Schluss möchte ich noch einige wenige grundsätzliche Bemerkungen machen. Meine Damen und Herren, wenn wir Ärzte uns Menschen mit Behinderung zuwenden, ist das ein Beitrag zur dringend notwendigen Wertorientierung der deutschen Gesellschaft.

(Beifall)

Eine unter uns Ärztinnen und Ärzten offensiv geführte Diskussion über die grundsätzlichen Werte – früher hätte man vielleicht vom „humanum“ oder Ähnlichem gesprochen; so etwas klingt heute schon regelrecht altmodisch, was eigentlich eine peinliche Situation ist – wird sicher einen Beitrag zur allgemeinen Anthropologie und ganz speziell zur ärztlichen Anthropologie leisten können. Das sind sicher beides Gebiete, die etwas in den Hintergrund getreten sind.

Vor allem kann eine Diskussion über die Notwendigkeit, Menschen mit Behinderung ordentlich und hochwertig zu versorgen, dazu beitragen, die schleichende Entwertung „beschädigten Lebens“ im öffentlichen Diskurs aufzuhalten. Meine Damen und Herren, bitte denken Sie an die heimliche Lebenswertdebatte im Kontext der Verrechtlichung der Anwendung der Patientenverfügung, denken Sie auch an die Kosten-Nutzen-Debatte im gesundheitsökonomischen Diskurs. Dort geht es implizit um eine Lebenswertdebatte, der wir nicht nur eine abstrakte Kritik, sondern ein konstruktives und konkretes anderes Handeln entgegensetzen müssen.

(Beifall)

Aus dem „Ulmer Papier“ zitiere ich zwei Sätze:

Es ist die Aufgabe der Ärzteschaft, Maßstäbe für die notwendige ärztliche Versorgung zu entwickeln, an denen sich ein sozialstaatlich organisiertes Versicherungssystem messen lassen muss. Zugleich ist die Stellung des Patienten ein Mittelpunkt des zu bildenden Kreises solcher Kriterien.

Weiter heißt es dort:

Der Behandlungsauftrag des Arztes und sein Berufsethos sind die Schnittstellen zum System des sozialen Schutzes.

Wenn Sie das konkretisieren im Hinblick auf das Sozialhilfegesetz, also das SGB XII, konkretisiert sich dieser abstrakte Satz sehr, sehr deutlich.

Ich darf noch einmal Herrn Henke zitieren:

Notwendig ist dagegen ein Mehr an Sensibilität für die Würde des Menschen – in allen Lebensphasen, für die Grundrechte auf Leben und Unversehrtheit, für die Achtung der Selbstbestimmungs- und Persönlichkeitsrechte behinderter Menschen. Es geht darum, unsere ethische Kompetenz für ein lebensförderndes Zusammenleben der Menschen mit und ohne Behinderung gezielt fortzuentwickeln.

Meine Damen und Herren, ich bin damit am Ende meines Vortrags angekommen. Sie sehen, ich habe dasselbe Schlussbild wie mein Vorredner, Herr Kollege Peters, gewählt. Ich wollte auch mit dieser optischen Wahrnehmung – das haben wir gestern so abgesprochen – den Gleichklang unserer inhaltlichen Ausführungen unterstreichen. Ich zitiere noch einmal, was Herr Peters schon gesagt hat: Bitte helfen Sie mit, damit sich die Versorgung dieser Menschen bessert. Das beginnt in unserem Kopf mit unserer persönlichen Haltung dazu.

Ich bitte Sie, diese Worte Ihr Herz und Ihren Verstand berühren zu lassen und in diesem Sinne diesen vorliegenden Entschließungsantrag zu unterstützen und natürlich auch weitere Verbesserungsvorschläge einzubringen.

Ich danke Ihnen herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall)

Vizepräsidentin Dr. Goesmann: Sehr verehrter Herr Professor Seidel, ich danke Ihnen im Namen des Auditoriums ganz herzlich für Ihren umfassenden, so menschlichen und beeindruckenden Vortrag. Ich denke, wir haben Ihre Botschaft verstanden. Ich glaube, dass Herr Henke, der heute nicht bei uns sein kann, weil er bei der Verleihung des Karlspreises in Aachen ist, sehr stolz sein wird, dass Sie ihn so oft zitiert haben. Wir sind stolz, dass Sie die Beschlüsse der Deutschen Ärztetage aufgegriffen haben. Herr Henke wird sicher kein Honorar verlangen. Wir danken Ihnen dafür, dass Sie darauf hingewiesen haben, dass wir schon immer auf Ihrer Seite gestanden haben und Ihre Werte mit unterstützen.

Ich denke, wir haben verstanden, dass es Aufgabe der Ärzteschaft ist, eine umfassende medizinische und soziale Versorgung für Menschen in prekären Lebenslagen, vor allem für Menschen mit Behinderung, sicherzustellen. Wir haben auch verstanden, welche Probleme sich aus den Vorträgen herauskristallisiert haben, die diese Menschen in unserer Mitte mit der Lebensbewältigung haben.

Wir haben vernommen, dass Sie ganz besonders bemerken, dass Fragen der Rationierung von Leistungen und der Priorisierung schon bei Ihnen angekommen sind. Sie haben dafür drastische Beispiele genannt.

Wir haben die Problematik der Überleitung vom Kindes- zum Erwachsenenalter vernommen. Wir haben gesehen, welche Versorgungsmängel in der ambulanten und der stationären Versorgung existieren, wohin der Kostendruck gerade für diese Menschen mit Behinderung führt.

Wir haben Ihre Forderungen vernommen. Ich denke, auch die Kolleginnen und Kollegen, die im Bereich der KVen arbeiten, haben vernommen, was es noch zu tun und zu regeln gibt.

Wir nehmen dieses Thema sehr ernst. Jeder von uns, der schon mit Menschen mit Behinderung gearbeitet hat, wird diesen Mitbürgern mit Respekt, Achtsamkeit, Fürsorglichkeit und Empathie begegnen, wie Sie es auch gesagt haben. Wir haben besonders immer wieder darauf hingewiesen, dass es unsere Aufgabe ist, auch die Familien zu unterstützen, die davon betroffen sind und diese Menschen mit versorgen.

Wir können nunmehr mit einem nochmaligen Dank an die Vorredner in die Diskussion einsteigen. Als ersten Diskussionsredner darf ich Herrn Dr. Thomas Fischbach aus Nordrhein aufrufen. Bitte schön.

© Bundesärztekammer 2009