Prof. Dr. Seidel,
Referent: Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Hochverehrtes
Präsidium! Sehr geehrter Herr Präsident! Zunächst meinen herzlichen Dank dafür,
dass ich heute hier über dieses wichtige Thema sprechen darf. Zum Zweiten gilt
mein ganz herzlicher Dank dafür, dass der Vorstand entschieden hat, dieses
Thema zu einem der wichtigen Tagesordnungspunkte dieses 112. Deutschen
Ärztetages zu machen.
Ich möchte ganz kurz etwas zum
Hintergrund meines Vortrags sagen, also zu meiner Funktion. Sie haben schon
gehört: Ich bin in Bethel im Stiftungsbereich Behindertenhilfe. Das ist ein
Teil dieses großen Konzerns im Bereich der Behindertenhilfe. Ich bin
Geschäftsführer und Leitender Arzt. Wir betreuen etwa 1 600 Menschen unter
stationären Bedingungen. Sie leben in Heimen, in Wohnheimen, und zwar nicht nur
in Bielefeld, sondern auch außerhalb von Bielefeld in benachbarten Kreisen, bis
nach Münster, Hamm usw.
Wir versorgen aber auch im Zuge des
strukturellen Wandels der Eingliederungshilfe viele Menschen – weit über 500 –
ambulant. Das heißt, diese Menschen mit Behinderungen leben in ihren eigenen
Wohnungen und erhalten durch uns Unterstützung.
Sie können sich sicher vorstellen,
dass wir damit auf die unterschiedlichsten Gegebenheiten in den verschiedenen
Gebietskörperschaften treffen. Ich weiß also, dass es durchaus eine große Zahl
von Versorgungsmängeln auf diesem Gebiet gibt.
Trotzdem möchte ich vorwegschicken,
dass mir daran liegt, deutlich zu machen, dass die Akzentuierung der
Versorgungsmängel notwendig ist, um das Problem zu beschreiben, dass es aber
gleichfalls zur Gerechtigkeit hinzugehört, deutlich zu sagen, dass es eine
große Zahl von Ärztinnen und Ärzten gibt, die ihr Bestes auf diesem Gebiet tun
und zum Teil erhebliche Risiken auf sich nehmen, bis hin zu Regressdrohungen
und anderem. Trotzdem: Es bleibt ein versorgungsstruktureller Mangel, der viele
verschiedene Ursachen hat. Ich muss vergröbern, um die Problematik zu
charakterisieren.
Eine zweite Einschränkung: Ich muss
auch vergröbern im Hinblick auf die Bedarfslagen von Menschen mit geistiger und
mehrfacher Behinderung. Nicht alle von ihnen benötigen diesen besonderen
medizinischen Versorgungsaufwand, aber viele. Nicht alle dieser Menschen haben
nur Schwächen, Defizite, sondern sehr viele von ihnen haben auch Stärken und
Kompetenzen.
(Beifall)
Es ist also ein methodischer Kniff,
die Defizite und die Mängel darzustellen. Man muss nur deutlich machen, dass
das nicht die ganze Wahrheit ist.
Wenn ich heute über dieses Thema
spreche, weiß ich, dass ich mich damit in eine Tradition Deutscher Ärztetage
stelle. Dennoch ist es dieses Mal anders; denn schon in der Einführungsrede des
Herrn Präsidenten und in der Rede des Staatssekretärs und in einer Reihe von
begleitenden Interviews ist dieses Thema angesprochen worden.
Ich komme damit zu meinem Thema:
Bedarfsgerechte medizinische Versorgung von Erwachsenen mit geistiger und mehrfacher
Behinderung. Die Ziele meiner Präsentation sind schnell erklärt. Ich möchte den
besonderen Versorgungsbedarf erläutern und die wichtigsten
Entwicklungserfordernisse darstellen. Ich nehme dabei Bezug – auch implizit –
auf unsere ärztliche Ethik und unsere ärztliche Anthropologie. Ich nehme Bezug
auf die Menschenrechte, ich nehme Bezug auf fachliche Erkenntnisse.
Ich möchte zunächst, auch um der
erwähnten Tradition willen, Herrn Henke zitieren, der auf dem Bremer Ärztetag
2004 gesagt hat:
Der behinderte Mensch, jeder
behinderte Mensch hat von Anfang seiner Existenz an bei allen Begrenzungen
seine eigene Würde, eine Würde, die nicht Unbehinderte ihm verleihen oder
zuerkennen können, sondern die er als Mensch hat, nicht weniger als jeder
Unbehinderte. In der Anerkennung der Würde der Schwächeren, in der Anerkennung
der Würde von Menschen mit Behinderung entscheiden wir über unsere eigene
Würde.
(Beifall)
Um welche Menschen geht es bei
meinen Ausführungen? In Deutschland leben circa eine halbe Million Menschen –
vielleicht auch einige wenige mehr – mit geistiger und mehrfacher Behinderung.
Dies ist eine Angabe der Bundesvereinigung Lebenshilfe. Die Tatsache, dass wir
keine genauen Zahlen haben, hängt damit zusammen, dass es in Deutschland auch
aus historischen Gründen kein Register von Menschen mit Behinderung gibt. Das
hat etwas mit der schrecklichen Nazivergangenheit in Deutschland zu tun.
Viele dieser Menschen haben weitere
Behinderungen und chronische Erkrankungen. Wir nennen das Mehrfachbehinderungen
oder Komorbiditäten. Die Gründe sind vielfältig. Häufig liegen sie in den
Ätiologien der Behinderung begründet. Im Grunde genommen muss man sagen: Auch
der Begriff der geistigen Behinderung ist ein hochabstrakter Begriff. Er
umfasst sehr, sehr verschiedene Bilder im Hinblick auf die Ausprägung und die
Komplexität, ihre Ursachen usw.
Ende 2007 lebten in Deutschland
rund 6,9 Millionen Menschen mit Schwerbehindertenausweis. Das ist eine ganz
andere Gruppe. Darunter waren allein rund 1,3 Millionen unter der Rubrik
„Störungen, geistige und/oder seelische“. Da sind natürlich auch all jene
Störungsbilder eingeschlossen, die erst im Laufe des Lebens erworben werden,
sei es durch Unfall, durch einen Schlaganfall oder im Rahmen einer seelischen
Erkrankung, die im Laufe des Lebens auftritt.
Viele Menschen mit geistiger und
mehrfacher Behinderung erhalten Leistungen der Sozialhilfe, genauer gesagt: der
Eingliederungshilfe für behinderte Menschen nach SGB XII, das ja vor einigen
Jahren das Bundessozialhilfegesetz abgelöst hat. Im Jahre 2007 gab der
Steuerzahler dafür rund 11,9 Milliarden Euro aus.
Nur eine Minderzahl der Menschen
mit geistiger und mehrfacher Behinderung – im Jahre 2004 waren es etwa
140 000 Personen – erhält stationäre Leistungen der Behindertenhilfe in Wohnheimen,
Wohngruppen usw. Viele dieser Menschen arbeiten in einer Werkstatt für Menschen
mit Behinderung (WfbM).
Die Behindertenhilfe als System ist
in einem rapiden Wandel begriffen. Mittelfristig nimmt die Zahl der Menschen
mit geistiger und mehrfacher Behinderung zu. Wir haben schon gehört: Das hat
etwas damit zu tun, dass nach dem Krieg sich langsam eine vollständige
demografische Altersstruktur aufgebaut hat, dass sich auch diese Zielgruppe an
die demografische Entwicklung der allgemeinen Bevölkerung angeschlossen hat,
wenngleich es noch eine statistische Differenz in Abhängigkeit vom Schweregrad
der Behinderung gibt.
Natürlich ist eine logische Folge
dessen, dass nun eine Fülle von gerontologischen und gerontopsychiatrischen
Fragestellungen auftauchen, die vor Jahrzehnten noch gänzlich unbekannt waren
im Kontext der Behindertenhilfe.
Es gibt einen enormen Wandel in der
Behindertenhilfe, der zwei Wurzeln hat: Zum einen ist es die fachliche
Überzeugung, der Anschluss an internationale Entwicklungen, unter dem Begriff
der Inklusion, unter dem Begriff der Normalisierung, der Integration usw. zu
fassen; es gibt aber auch ein Kostendämpfungsinteresse der Kostenträger, das
hier natürlich mit hineinspielt. Insofern gibt es eine starke Tendenz, die ambulanten
Dienstleistungen für Menschen mit Behinderungen auszubauen, die großen
Komplexeinrichtungen abzubauen, die stationären Wohnangebote zu
dezentralisieren, also in die Gemeinde zu bringen, also herauszulösen aus
entlegenen großen Einrichtungen. Es geht auch um die Entwicklung innovativer
Wohnformen.
Zur Bewertung der medizinischen
Versorgung: Wir wissen – das will ich nicht vertiefen –, dass diese Menschen
einen besonderen Bedarf an gesundheitlicher Versorgung haben, und zwar wegen
der Komplexität ihrer Behinderungen, wegen der Komorbiditäten und wegen der
fachlichen Besonderheiten. Wir müssen diese Situation mit den Menschenrechten
konfrontieren, die diese Menschen haben. Wir wissen: Diese Gruppe hat als
Gruppe erhebliche Unzulänglichkeiten der medizinischen Versorgung hinzunehmen.
Das ist eine breite alltagsempirische Datenlage, allerdings keine
wissenschaftlich hinreichend fundierte, denn auf diesem Gebiet fehlt jedwede
Forschungsförderung. Es ist ein wichtiger Gesichtspunkt, dass hier mehr
geforscht werden muss.
Aus diesem Grunde haben wir in
Bethel vor einigen Jahren die Studie „Benachteiligung durch das GMG“
veröffentlicht. Wir haben damals im Rahmen qualitativer
Sozialforschungsinterviews Klientinnen und Klienten der Behindertenhilfe, und
zwar geistig behinderte Menschen, psychisch behinderte Menschen und Menschen in
Wohnungslosigkeit, im Hinblick auf ihre Gesundheitsversorgungssituation
untersucht.
Was kam dabei heraus? Viele
Klientinnen und Klienten können ihre Gesundheitsleistungen nicht mehr bezahlen.
Die Klientinnen und Klienten und ihr Unterstützerumfeld sind zum Teil über ihre
Rechte nicht ausreichend informiert, nicht zuletzt deshalb, weil viele der
Bestimmungen unverständlich sind, und zwar nicht nur für Patientinnen und
Patienten, für „normale“ Leute, sondern mittlerweile, wie wir alle wissen,
selbst für uns Fachleute.
Für einmalig hohe Ausgaben für
Gesundheitsleistungen müssen die Klientinnen und Klienten außerordentlich hohe
Anteile des verfügbaren Einkommens aufwenden. Stellen Sie sich bitte vor, dass
beispielsweise jemand, der in einem Wohnheim wohnt und in einer Werkstatt
arbeitet, pro Monat etwa 80 Euro zur Verfügung hat, um seine persönlichen
Bedarfslagen zu befriedigen. Dazu gehören Porto, Kinokarte, Eisbecher usw. Dazu
gehören eben auch die Zuzahlungen und die Eigenbehalte bei Leistungen, die
ausgegrenzt sind.
Deshalb verzichten Klientinnen und
Klienten mit Behinderungen auf Gesundheitsleistungen. Sie stehen in einem
Entscheidungskonflikt über die Verwendung ihrer knappen finanziellen
Ressourcen.
Dass Menschen mit geistiger und
mehrfacher Behinderung erhöhte Risiken aufweisen im Hinblick auf
Körperbehinderungen, Sinnesbehinderungen, Epilepsie, psychische Störungen,
innere Krankheiten, Krankheiten des Bewegungsapparats usw., ist Ihnen, liebe
Kolleginnen und Kollegen, sicher aus dem Alltag heraus unmittelbar anschaulich.
Die Gründe dafür sind teilweise biologischer Art, teilweise auch sozialer Art.
Manchmal liegen die Gründe auch im Verhalten der Gruppe selbst: mangelnde
Bewegung, ungesunde Ernährung.
Menschen mit geistiger und
mehrfacher Behinderung haben verminderte Fähigkeiten, Gesundheitsrisiken zu
minimieren und beginnenden Gesundheitsstörungen frühzeitig zu begegnen. Das
hängt damit zusammen, dass sie oft ein eingeschränktes Wissen über diese Dinge
haben, dass auch ihre Kompetenzen eingeschränkt sind, dass sie auch nicht in
ausreichendem Maße vorwegnehmen können, was sich aus einer bestimmten
Beschwerde, einem bestimmten Symptom entwickeln kann. Sie haben natürlich auch
eine eingeschränkte Organisationskompetenz und eben einen eingeschränkten
Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen. Das beginnt bei baulichen Barrieren und
setzt sich über die mentalen Barrieren in den Köpfen mancher fort.
Sie haben eine Einschränkung der
Selbstbeobachtungs-, Körperwahrnehmungs- und Mitteilungsfähigkeit. Die
Fachleute wissen: Oft modifizieren schwere geistige und mehrfache Behinderungen
auch das Erscheinungsbild und das Verlaufsbild bestimmter Krankheiten. Im
Krankenhaus oder in komplizierten diagnostischen Situationen ist es wichtig, zu
wissen, dass das Verständnis für die Situation und eine gewisse
Mitarbeitsfähigkeit bei schwerer geistiger Behinderung eingeschränkt sind. Das
ist ein großes Problem beispielsweise bei einem CT oder bei einer Röntgenuntersuchung
oder bei einer gynäkologischen Untersuchung.
Natürlich gibt es auch
Einschränkungen im gesundheits- und krankheitsgemäßen Verhalten. Ebenso gibt es
Einschränkungen in der aktiven Mitwirkung bei bestimmten diagnostischen und
therapeutischen Maßnahmen.
Ich komme nun zu den
Menschenrechten. Ich werde keinen großen Vortrag über die Menschenrechte
halten, sondern ich beziehe mich im Wesentlichen auf das Übereinkommen der
Vereinten Nationen über die Rechte behinderter Menschen aus dem Jahr 2006, das
nach der Ratifizierung in Deutschland bindendes deutsches Recht und
einklagbares deutsches Recht geworden ist. Wesentlich sind die Art. 25 und 26.
Art. 25 lautet:
Die Vertragsstaaten anerkennen
das Recht von Menschen mit Behinderungen auf das erreichbare Höchstmaß an
Gesundheit ohne Diskriminierung aufgrund von Behinderung.
Art. 25, der viele einzelne
Bestimmungen enthält, enthält zwei Hauptaussagen: Menschen mit Behinderungen
sollen eine Gesundheitsversorgung in derselben Bandbreite, von derselben
Qualität und auf demselben Standard haben wie alle anderen Menschen. Sie sollen
diejenigen Gesundheitsleistungen erhalten, die sie speziell wegen ihrer
Behinderungen benötigen. Das ist die Kernaussage des Art. 25.
Art. 26 besagt, dass Maßnahmen zu
ergreifen sind,
um Menschen mit Behinderungen
in die Lage zu versetzen, ein Höchstmaß an Unabhängigkeit, umfassende
körperliche, geistige, soziale und berufliche Fähigkeiten … zu erreichen und zu
bewahren.
Art. 26 trifft auch Festlegungen
über die Notwendigkeit von Aus- und Fortbildung usw.
Welches sind nun die strukturellen
Voraussetzungen? Hier darf ich auf einen Beschluss des 111. Deutschen
Ärztetages in Ulm verweisen. Ich möchte mich hauptsächlich auf den letzten
Punkt beziehen, der lautet:
Die bedarfsgerechte
Gesundheitsversorgung von Menschen mit Behinderungen einschließlich
pflegebedürftiger Menschen ist ein besonderes Anliegen der deutschen
Ärzteschaft.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die
Tatsache, dass Herr Kollege Peters und ich heute so explizit über dieses Thema
sprechen dürfen, ist ein Beweis dafür, dass die deutsche Ärzteschaft dieses
Thema ernst nimmt.
(Beifall)
Wir benötigen strukturelle
Voraussetzungen im ambulanten Bereich, zu dem natürlich die niedergelassenen
Ärzte, die Sozialpädiatrischen Zentren, in der Psychiatrie die psychiatrischen
Institutsambulanzen, aber auch integrierte ärztliche Dienste in Einrichtungen
der Behindertenhilfe usw. gehören. Wir benötigen ebenfalls angemessene
organisatorisch-strukturelle Bedingungen für die stationäre medizinische Versorgung.
Im ambulanten Bereich brauchen wir
vor allen Dingen dort, wo es um Spezialangebote geht, angemessene räumliche
Bedingungen, ein spezielles Setting, erweiterte Hausbesuchsmöglichkeiten. Ich
beziehe mich hier auf den Punkt der Abrechenbarkeit, weil viele Dinge erst im
Kontext mit der Lebenswirklichkeit und des Lebensalltags sachgerecht zu
interpretieren sind.
Wir brauchen in diesem Bereich auf
jeden Fall mehr Zeit für eine angemessene Kommunikation mit den Betroffenen und
seinen Unterstützungssystemen. Wir brauchen für diejenigen Kolleginnen und
Kollegen, die diese aufwendige Arbeit leisten, eine Finanzierung ihrer Arbeit,
die den Mehraufwand auskömmlich vergütet, insbesondere dann, wenn sie in der
Lage und willens sind, einen gewissen Schwerpunkt auszubilden. Das kann nicht
ins privatwirtschaftliche Risiko verschoben bleiben, wenn sich eine Ärztin,
wenn sich ein Arzt um diese Menschen besonders engagiert kümmert. Ich bitte Sie
dringend, diese Forderung zu unterstützen.
(Beifall)
Auch für den Krankenhausbereich
lässt sich Ähnliches sagen, denn viele Menschen mit schweren geistigen
Behinderungen und vielleicht auch Verhaltensauffälligkeiten benötigen
erhebliche Unterstützung im Krankenhaus. Vieles ist nicht in der Routine des
Krankenhauses und auch nicht im Ressourcenaufwand des Krankenhauses abbildbar.
Sie wissen, dass sich der Gesetzgeber im Moment mit einem sogenannten
Pflegebedarfsassistenzgesetz befasst. Dass es unzulänglich formuliert ist, sei
nur am Rande erwähnt. Es beschreibt aber ein richtiges Problem.
Wir benötigen eine angemessene
Vergütung für den Mehraufwand entweder durch tagegleiche Pflegesätze oder durch
Anpassungen des DRG-Systems.
Ich bin neben meiner Tätigkeit in
Bethel Leiter des Arbeitskreises Gesundheitspolitik aller Fachverbände der Behindertenhilfe
in Deutschland. Von daher kenne ich seit mehr als zehn Jahren die
gesundheitspolitische Positionierung der Fachverbände der Behindertenhilfe,
denn ich habe sie in wesentlichen Teilen mitschreiben dürfen.
Wir haben schon 1998, also vor elf Jahren,
ein Positionspapier formuliert, in dem steht: Wir fordern die Verbesserung der
fachlichen und organisatorischen Bedingungen des Regelversorgungssystems; wir
fordern die Ergänzung des medizinischen Regelversorgungssystems durch
Ambulanzen für erwachsene Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung;
wir verlangen die Öffnung der vorhandenen spezialisierten Angebote
medizinischer Versorgung in Einrichtungen der Behindertenhilfe für externe
Nutzer. Wir haben damals konkret verlangt, dass § 27 SGB V ergänzt werden möge
durch die Bestimmung, dass die Belange von Menschen mit Behinderung bei der
Krankenversorgung besonders beachtet werden mögen. Wir haben verlangt, dass ein
§ 119 a in das SGB V eingefügt werden möge mit dem Ziel, die Grundlagen für Ambulanzen
für Erwachsene mit geistiger und mehrfacher Behinderung zu schaffen.
Was ist daraus geworden? Welches
sind die tatsächlichen Wirkungen auf die Gesetzgebung? Es hat durch das GMG
einen § 2 a SGB V gegeben, der lautet:
Den besonderen Belangen
behinderter und chronisch kranker Menschen ist Rechnung zu tragen.
Das ist ein großer Erfolg, aber
zunächst eine rein deklaratorische Bestimmung, die inhaltlich ausgefüllt werden
muss.
Schließlich ist
ein § 119 a SGB V formuliert worden, der es Einrichtungen der Behindertenhilfe,
die über eine ärztlich geleitete Abteilung verfügen, erlaubt, sich zur
Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung ermächtigen zu lassen. Ich darf
hier in aller Öffentlichkeit kritisch formulieren, dass leider die KVen vor Ort
oft eine widerwärtige Obstruktionspolitik bei diesen Ermächtigungen betreiben.
(Beifall)
Ich erlaube mir
an dieser Stelle einen Exkurs zum Thema Rationierung und Priorisierung. Meine
Damen und Herren, wer liebt dieses Thema? Ich glaube, niemand von uns. Ich
liebe es nicht. Gleichwohl gehört es zu den unabweisbaren Realitäten unseres
Lebens, dass wir mit begrenzten Ressourcen auskommen müssen. Ich habe im Jahr
2005 im „Deutschen Ärzteblatt“ mit dem Titel „Kriterien der Leistungsgewährung
für Menschen mit Behinderungen“ veröffentlicht. In diesem Artikel habe ich
damals formuliert:
Menschen mit Behinderung sind
nicht nur in den sozioökonomisch charakterisierbaren Merkmalen ihrer
individuellen Situation … beeinträchtigt, sondern auch – in Abhängigkeit von
Art und Umfang ihrer Behinderung – in der Verfügbarkeit persönlicher Ressourcen
… benachteiligt. Zur Bewältigung ihres Alltages und zur Inanspruchnahme von
Leistungen der gesundheitlichen Versorgung benötigen sie deshalb unter
Umständen verschiedene Hilfen durch Dritte.
Das ist für
mich auch in Bezug zu setzen zu dem bereits erwähnten § 2a
SGB V.
Deshalb habe ich damals formuliert,
dass die Prioritätendiskussion die Lebenswelt, die individuellen Bedingungen
der Patienten usw. einbeziehen muss, nicht allein die Ernsthaftigkeit einer
medizinischen Problematik oder die potenziellen Folgen einer ausbleibenden
Behandlung.
Meine Damen und Herren, wenn wir
eine Priorisierungsdiskussion führen – ich glaube, wir werden sie führen müssen
–, müssen wir nicht nur über medizinische Indikationen, sondern auch über die
individuellen lebensweltlichen Konstellationen eines Patienten reden. Dann wird
ein Schuh daraus, wenn wir von daher klären können, was die Belastung der
Solidargemeinschaft bedeutet und was dem Einzelnen zuzuwidmen ist.
(Beifall)
Vor diesem Hintergrund, liebe
Kolleginnen und Kollegen, erlaube ich mir eine kritische Anfrage zu dem
Beschluss zur Kostenerstattung. Wie soll denn die regelmäßige und, wenn ich es
richtig verstanden habe, vorrangige Kostenerstattungsregelung bei Patienten mit
Sozialhilfebezug oder unter anderen prekären Lebensbedingungen realisiert
werden? Wie soll denn die alleinerziehende Mutter, die vielleicht von einem
verfügbaren Barvermögen von 300 Euro im Monat leben muss, mit einer
Kostenerstattung von 600 oder 700 Euro zurechtkommen? Dann können die Kinder
wahrscheinlich zur Armenküche gehen. Ich glaube, das ist keine Lösung, die die
deutsche Ärzteschaft will. Bitte überdenken Sie diesen Beschluss.
(Beifall)
Nun komme ich zu den
aktuellen Forderungen. Dabei beziehe ich mich nicht allein auf meine
persönliche fachliche Einschätzung, sondern auch hier wieder auf den Konsens
der Fachverbände der Behindertenhilfe und unsere speziellen Fachdiskurse. Die
Bundesarbeitsgemeinschaft der Ärzte für Menschen mit geistiger Behinderung ist
erwähnt worden; ich bin ihr Mitglied. Natürlich unterstütze ich auch alle diese
Forderungen. Wir sind uns da auch einig.
Wir fordern die Verbesserung der
fachlichen und organisatorischen Bedingungen des Regelversorgungssystems. Wir
verlangen aber auch die Ergänzung des medizinischen Regelversorgungssystems
durch ambulant arbeitende, interdisziplinär ausgestattete medizinische Zentren
für Erwachsene mit geistiger und mehrfacher Behinderung.
Wir wollen nach wie vor die Öffnung
der vorhandenen spezialisierten Angebote medizinischer Versorgung in
Einrichtungen der Behindertenhilfe für externe Nutzer. Da kommen verschiedene
Lösungsmöglichkeiten – medizinische Versorgungszentren, Ermächtigungen nach §
119 a SGB V usw. – infrage.
Wir wollen eine angemessene
Vergütung der überdurchschnittlich aufwendigen Leistungen niedergelassener
Ärzte und spezialisierter ambulanter Angebote, wenn sie Menschen mit einem
besonderen Mehrbedarf betreuen. Das ist eine ganz zentrale Forderung.
(Beifall)
Wir erwarten natürlich von allen
Ärzten, dass sie sich in einem gebotenen Umfang für Menschen mit Behinderungen,
auch für Menschen mit schwerer geistiger und mehrfacher Behinderung, öffnen. Es
wird auch hier wie überall in der Medizin auf Schwerpunktbildungen und Spezialisierungen
hinauslaufen müssen. Wenn eine Kollegin, wenn ein Kollege bereit ist, einen
solchen Schwerpunkt herauszubilden, dann soll sie bzw. er dafür auch angemessen
vergütet werden. Gerade in diesen Bereichen muss auf jeden Fall der Zugang zu
besonderen Abrechnungsmöglichkeiten geschaffen werden.
Spezialisierte Angebote,
beispielsweise Ermächtigungen nach § 119 a SGB V, dürfen nicht behindert
werden. Sie müssen unbürokratisch zugelassen und auskömmlich finanziert werden.
Die bisherige Einzelleistungsabrechnung nach dem EBM ist nicht zielführend.
Aber noch viel schlimmer ist – ich
wiederhole es – die teilweise schikanöse Prozedur der Bearbeitung dieser
Anträge durch die regionalen KVen. Ich bin gern bereit, dazu Auskunft zu geben.
Ich werde es aber nicht hier in der Öffentlichkeit tun.
(Beifall)
Ich möchte noch Bezug nehmen auf
ein ganz aktuelles gesundheitspolitisches Dokument. Am vergangenen Wochenende
hat eine Fachtagung „Gesundheit fürs Leben“ der Bundesvereinigung Lebenshilfe
und der Bundesarbeitsgemeinschaft Ärzte für Menschen mit geistiger oder
mehrfacher Behinderung stattgefunden. Dort sind die sogenannten Potsdamer
Forderungen formuliert worden. Ich nehme einige heraus. Wir verlangten dort
gemeinsam mit Betroffenen eine gute Regelversorgung. Der Übergang vom Jugend-
ins Erwachsenenalter muss geregelt werden. Die Bedarfe älterer Menschen mit
geistiger oder mehrfacher Behinderung müssen besonders berücksichtigt werden.
Das hat sich in dem Referat von Herrn Dr. Peters schon angedeutet.
Wir benötigen spezielle Zentren in
der ambulanten Versorgung Erwachsener mit geistiger oder mehrfacher Behinderung
und spezialisierte Krankenhäuser, Zentren in Analogie zu Sozialpädiatrischen
Zentren.
Wir fordern die Schaffung
transparenter, effizienter und effektiver Versorgungsstrukturen für Menschen
mit geistiger oder mehrfacher Behinderung. Wir wollen darauf hinweisen, dass im
Einzelfall hier der Hausarztbegriff modifiziert werden muss; denn bei schwer
behinderten Menschen können durchaus qualifizierte und sehr erfahrene Fachärzte
sehr kompetent die Funktion des Hausarztes einschließlich des Fallmanagements
übernehmen.
Ich will Sie ausdrücklich darauf
aufmerksam machen, dass der Ansatz der evidenzbasierten Medizin bei der
Bewertung von Behandlungsverfahren im Hinblick auf Menschen mit geistiger oder
mehrfacher Behinderung oft nicht zielführend ist. Er muss in dieser Hinsicht
unbedingt relativiert werden.
Wir müssen deutlich machen, dass
die individuellen finanziellen und sonstigen Ressourcen und Lebenslagen bei der
Bemessung von Leistungen der GKV berücksichtigt werden müssen. Das hatte ich
vorhin schon in meinem Exkurs zur Rationierungs- und Priorisierungsdiskussion
ausgeführt.
Wir müssen das Thema in die Aus-,
Fort- und Weiterbildung aller Gesundheitsberufe einbeziehen. Wir müssen das
Thema in die studentische Ausbildung an den Universitäten einbeziehen. Wir
müssen an die Fachärzte verschiedener Herkunft herantreten. Ich nehme das
Curriculum der Bundesarbeitsgemeinschaft Ärzte für Menschen mit geistiger oder
mehrfacher Behinderung als Beispiel, das derzeit zum ersten Mal in der Praxis
läuft. Das ist ein guter Weg, dieses Thema an viele Fachärzte verschiedener
Herkunft heranzutragen.
Als Psychiater erlaube ich mir, auf
das Curriculum zur (Muster-)Weiterbildungsordnung für Psychiatrie und
Psychotherapie hinzuweisen.
Die Versorgungsforschung und die
medizinische, pflegewissenschaftliche und psychologische Forschung müssen sich
mehr als bisher auf dieses Klientel ausrichten.
Wir brauchen dringend die Korrektur
der Fehlentwicklungen der letzten Schritte der Gesundheitsreform. Vor allen
Dingen brauchen wir die Abschaffung der Zuzahlungsregelungen und der
Leistungsausgrenzungen für arme Leute. Bitte unterstützen Sie diese Forderung.
Es ist gleichgültig, auf welchem gesetzestechnischen Weg eine solche Regelung
zustande kommt, ob beispielsweise eine Härtefallregelung im SGB V erfolgt oder
im SGB XII am Ende eine Regelung durch Einmalbeihilfen vorgesehen wird. Es muss
eine auslegungsfeste, sichere Lösung für diese besonders benachteiligte Gruppe
von Patienten geben.
(Beifall)
Meine liebe Kolleginnen und
Kollegen, ich komme nun in die letzte Schleife meines Vortrags. Ich sage noch
etwas zu den fachlichen Voraussetzungen unter drei Unterüberschriften: Haltung,
Wissen und Kompetenzen.
Zur Haltung zitiere ich den
Beschluss des 107. Deutschen Ärztetages:
Der Deutsche Ärztetag
appelliert an alle in Klinik und Praxis tätigen Ärztinnen und Ärzte, ihre
ärztliche Tätigkeit im Rahmen von Prävention, Diagnostik, Therapie und Rehabilitation
bei behinderten Menschen in besonderem Maße auf deren spezifischen Belange
auszurichten.
Ich zitiere wieder Herrn Henke –
hoffentlich wird er von mir nicht noch Honorar verlangen –:
Das Bild, das sich
nichtbehinderte Menschen von einem Leben mit Behinderungen machen, stimmt nicht
immer mit der Wirklichkeit und dem Selbstverständnis behinderter Menschen
überein. Behinderungen werden oft nur mit Leiden, Schmerzen und Unglück
identifiziert, eben mit negativen Elementen. Die Lebensfreude, Glück und Dankbarkeit,
das Positive und Schöne, das im Leben von behinderten Menschen genauso seinen
Platz hat, wird wenig wahrgenommen. Sicher erleben Menschen mit Behinderungen
ihre Situation in vielfacher Hinsicht als großes „handicap“. Sie bedrückt ihre
Benachteiligung in Bereichen des alltäglichen Lebens. Nur selten steht ihnen
eine gleichberechtigte Teilhabe und barrierefreie Teilnahme am öffentlichen
Leben offen.
Dazu gehört natürlich auch die
Gesundheitsversorgung.
Bei der Haltung geht es um folgende
Aspekte: die Achtung von Menschenwürde, die jedem Menschen a priori gegeben ist
und nicht angetastet werden darf. Es geht um die Achtung der
Selbstbestimmungsrechte und der Möglichkeiten von Menschen mit Behinderung. Es
geht vor allen Dingen um eine Haltung des Respekts, der Achtsamkeit, der
Fürsorglichkeit und der Verantwortlichkeit. Schließlich geht es um den
allgemeinen Begriff der Gerechtigkeit.
Meines Erachtens wäre es hilfreich,
wenn die deutsche Ärzteschaft für diesen Komplex eine programmatische
Orientierung durch ein Grundsatzpapier hätte, wie es die Schweizer Ärzte haben.
Die Schweizer Ärzte haben im vorigen Jahr ein Papier verabschiedet und
veröffentlicht mit dem Titel „Medizinische Behandlung und Betreuung von
Menschen mit Behinderung“. Es wäre schön, wenn wir in Deutschland etwas
Ähnliches hätten. Das könnte auch die öffentliche und die fachöffentliche
Diskussion über dieses Thema unterstützen.
Ich komme damit zum Thema Wissen.
Geistige Behinderung ist oft mit zusätzlichen schweren Erkrankungen oder Behinderungen
verknüpft. Geistige Behinderung ist oft mit besonderen Krankheitsrisiken
verknüpft. Geistige Behinderung modifiziert das Erscheinungsbild von
Krankheiten. Deshalb verlangt geistige Behinderung besondere fachliche
Kenntnisse bei den Gesundheitsberufen.
Geistige Behinderung beeinträchtigt
oft die Introspektionsfähigkeit und die Körperwahrnehmung, die
Kommunikationsfähigkeit und die krankheitsbezogene Kooperationsfähigkeit. Sie
verlangt besondere organisatorische und strukturelle Bedingungen der Gesundheitsversorgung,
die dem besonderen Aufwand gerecht werden.
Natürlich benötigen Ärztinnen und
Ärzte und andere Gesundheitsberufe, die sich um behinderte Menschen kümmern,
spezielle Kenntnisse zu Krankheitsrisiken und Gesundheitsproblemen von Menschen
mit geistiger Behinderung, insbesondere im Hinblick auf bestimmte Ätiologien.
Ich erwähne hier das Angelman-Syndrom, ein genetisch bedingtes Syndrom, bei dem
bekannt ist, dass sehr häufig Refluxerkrankungen bestehen, die oftmals schwere
Verhaltensstörungen als Ausdruck der Schmerzwahrnehmung erklären.
Das Wissen um die besondere
Bedeutung von Kontextfaktoren, insbesondere bei der Entstehung und der
Aufrechterhaltung von psychischen Störungen und Verhaltensauffälligkeiten, ist
ein Spezialgebiet. Es ist deshalb hier zu erwähnen, weil Menschen mit geistiger
und mehrfacher Behinderung häufig sehr stark somatisieren und umgekehrt sehr
häufig somatische Probleme sich in Verhaltensauffälligkeiten ausdrücken.
Die speziellen Krankheits- und
Beschwerdemanifestationen habe ich bereits erläutert.
Schlussendlich kommt es auf einige
Kompetenzen an, nämlich eine besondere Kompetenz, interdisziplinär und
transdisziplinär im Gesundheitswesen und in der Behindertenhilfe zu arbeiten.
Es kommt auf bestimmte kommunikative Kompetenzen, vor allen Dingen nonverbale
kommunikative Kompetenzen, mit geistig behinderten Patienten an. Es kommt auch
darauf an, die durchaus andere Denkweise, Sprache und Terminologie anderer
Berufsgruppen angemessen aufzunehmen und mit anderen Berufsgruppen angemessen
zu kommunizieren.
Es geht um die Empathie für den
Patienten und seine spezifische Situation und auch um Empathie für das
Bezugssystem. Das sind die Familien, die professionellen Unterstützungssysteme,
die gelegentlich auch am Rande ihrer Belastbarkeit stehen. Schließlich geht es
auch um die Wahrnehmung von Kontextfaktoren, die sich als Barrieren oder
Förderfaktoren erweisen können.
Zum Schluss möchte ich noch einige
wenige grundsätzliche Bemerkungen machen. Meine Damen und Herren, wenn wir Ärzte
uns Menschen mit Behinderung zuwenden, ist das ein Beitrag zur dringend
notwendigen Wertorientierung der deutschen Gesellschaft.
(Beifall)
Eine unter uns Ärztinnen und Ärzten
offensiv geführte Diskussion über die grundsätzlichen Werte – früher hätte man
vielleicht vom „humanum“ oder Ähnlichem gesprochen; so etwas klingt heute schon
regelrecht altmodisch, was eigentlich eine peinliche Situation ist – wird
sicher einen Beitrag zur allgemeinen Anthropologie und ganz speziell zur
ärztlichen Anthropologie leisten können. Das sind sicher beides Gebiete, die
etwas in den Hintergrund getreten sind.
Vor allem kann eine Diskussion über
die Notwendigkeit, Menschen mit Behinderung ordentlich und hochwertig zu
versorgen, dazu beitragen, die schleichende Entwertung „beschädigten Lebens“ im
öffentlichen Diskurs aufzuhalten. Meine Damen und Herren, bitte denken Sie an
die heimliche Lebenswertdebatte im Kontext der Verrechtlichung der Anwendung
der Patientenverfügung, denken Sie auch an die Kosten-Nutzen-Debatte im gesundheitsökonomischen
Diskurs. Dort geht es implizit um eine Lebenswertdebatte, der wir nicht nur
eine abstrakte Kritik, sondern ein konstruktives und konkretes anderes Handeln
entgegensetzen müssen.
(Beifall)
Aus dem „Ulmer Papier“ zitiere ich
zwei Sätze:
Es ist die Aufgabe der
Ärzteschaft, Maßstäbe für die notwendige ärztliche Versorgung zu entwickeln, an
denen sich ein sozialstaatlich organisiertes Versicherungssystem messen lassen
muss. Zugleich ist die Stellung des Patienten ein Mittelpunkt des zu bildenden
Kreises solcher Kriterien.
Weiter heißt es dort:
Der Behandlungsauftrag des
Arztes und sein Berufsethos sind die Schnittstellen zum System des sozialen
Schutzes.
Wenn Sie das konkretisieren im
Hinblick auf das Sozialhilfegesetz, also das SGB XII, konkretisiert sich dieser
abstrakte Satz sehr, sehr deutlich.
Ich darf noch einmal Herrn Henke
zitieren:
Notwendig ist dagegen ein Mehr
an Sensibilität für die Würde des Menschen – in allen Lebensphasen, für die
Grundrechte auf Leben und Unversehrtheit, für die Achtung der
Selbstbestimmungs- und Persönlichkeitsrechte behinderter Menschen. Es geht
darum, unsere ethische Kompetenz für ein lebensförderndes Zusammenleben der
Menschen mit und ohne Behinderung gezielt fortzuentwickeln.
Meine Damen und Herren, ich bin damit
am Ende meines Vortrags angekommen. Sie sehen, ich habe dasselbe Schlussbild
wie mein Vorredner, Herr Kollege Peters, gewählt. Ich wollte auch mit dieser
optischen Wahrnehmung – das haben wir gestern so abgesprochen – den Gleichklang
unserer inhaltlichen Ausführungen unterstreichen. Ich zitiere noch einmal, was
Herr Peters schon gesagt hat: Bitte helfen Sie mit, damit sich die Versorgung
dieser Menschen bessert. Das beginnt in unserem Kopf mit unserer persönlichen
Haltung dazu.
Ich bitte Sie, diese Worte Ihr Herz
und Ihren Verstand berühren zu lassen und in diesem Sinne diesen vorliegenden
Entschließungsantrag zu unterstützen und natürlich auch weitere
Verbesserungsvorschläge einzubringen.
Ich danke Ihnen herzlich für Ihre
Aufmerksamkeit.
(Beifall)
Vizepräsidentin Dr.
Goesmann: Sehr verehrter Herr Professor Seidel, ich danke Ihnen im Namen
des Auditoriums ganz herzlich für Ihren umfassenden, so menschlichen und
beeindruckenden Vortrag. Ich denke, wir haben Ihre Botschaft verstanden. Ich
glaube, dass Herr Henke, der heute nicht bei uns sein kann, weil er bei der
Verleihung des Karlspreises in Aachen ist, sehr stolz sein wird, dass Sie ihn
so oft zitiert haben. Wir sind stolz, dass Sie die Beschlüsse der Deutschen
Ärztetage aufgegriffen haben. Herr Henke wird sicher kein Honorar verlangen.
Wir danken Ihnen dafür, dass Sie darauf hingewiesen haben, dass wir schon immer
auf Ihrer Seite gestanden haben und Ihre Werte mit unterstützen.
Ich denke, wir haben verstanden,
dass es Aufgabe der Ärzteschaft ist, eine umfassende medizinische und soziale
Versorgung für Menschen in prekären Lebenslagen, vor allem für Menschen mit
Behinderung, sicherzustellen. Wir haben auch verstanden, welche Probleme sich
aus den Vorträgen herauskristallisiert haben, die diese Menschen in unserer
Mitte mit der Lebensbewältigung haben.
Wir haben vernommen, dass Sie ganz
besonders bemerken, dass Fragen der Rationierung von Leistungen und der
Priorisierung schon bei Ihnen angekommen sind. Sie haben dafür drastische
Beispiele genannt.
Wir haben die Problematik der
Überleitung vom Kindes- zum Erwachsenenalter vernommen. Wir haben gesehen,
welche Versorgungsmängel in der ambulanten und der stationären Versorgung
existieren, wohin der Kostendruck gerade für diese Menschen mit Behinderung
führt.
Wir haben Ihre Forderungen
vernommen. Ich denke, auch die Kolleginnen und Kollegen, die im Bereich der
KVen arbeiten, haben vernommen, was es noch zu tun und zu regeln gibt.
Wir nehmen dieses Thema sehr ernst.
Jeder von uns, der schon mit Menschen mit Behinderung gearbeitet hat, wird
diesen Mitbürgern mit Respekt, Achtsamkeit, Fürsorglichkeit und Empathie
begegnen, wie Sie es auch gesagt haben. Wir haben besonders immer wieder darauf
hingewiesen, dass es unsere Aufgabe ist, auch die Familien zu unterstützen, die
davon betroffen sind und diese Menschen mit versorgen.
Wir können nunmehr mit einem
nochmaligen Dank an die Vorredner in die Diskussion einsteigen. Als ersten
Diskussionsredner darf ich Herrn Dr. Thomas Fischbach aus Nordrhein aufrufen.
Bitte schön.
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