TOP IV: Medizinische Versorgung von Menschen mit Behinderung

Donnerstag, 21. Mai 2009, Vormittagssitzung

Dr. Fischbach, Nordrhein: Sehr verehrtes Präsidium! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Peters, lieber Herr Seidel, ich danke Ihnen als Kinder- und Jugendarzt, der in einer großen Gemeinschaftspraxis tätig ist, und auch als aktives Mitglied im Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte ganz ausdrücklich für Ihre beiden sich so gut ergänzenden Referate. Das eine Referat konnte die emotionale Seite des Problems sehr deutlich machen; das andere Referat hat sehr deutlich gezeigt, dass man eine sehr gute Kenntnis der bestehenden Regelungen in unserem Lande haben muss, damit man die ganzen Tücken des Systems erfassen kann.

Ich möchte vorausschicken, dass ich glaube, dass zumindest die Versorgung von Kindern und Jugendlichen, die behindert oder von Behinderung bedroht sind, in Deutschland im Vergleich mit der internationalen Situation gut geregelt ist. Dennoch haben Sie, lieber Herr Peters, völlig zu Recht auf einige Schwachpunkte hingewiesen, die wir als Ärztetag sicherlich unbedingt einer Regelung zuführen sollten.

Ich will kurz einige Punkte ansprechen. Sie haben die bürokratische Belastung der Eltern erwähnt. Das ist auch aus meiner Erfahrung in der Praxis eines der Hauptprobleme. Insbesondere Familien, die einen relativ niedrigen Sozialstatus haben, die bildungsfern sind, finden sich in diesem ganzen Gestrüpp der Sozialgesetzgebung, in diesem Dschungel von SGB V, SGB VIII, SGB IX und SGB XII überhaupt nicht zurecht.

Man muss sicherlich selbstkritisch zugestehen: Viele unserer Kolleginnen und Kollegen finden sich dort auch nicht zurecht, weil es ein außerordentlich kompliziertes Thema ist, das sich ständig ändert.

Sie haben auf die SPZ-Problematik hingewiesen. Das möchte ich ausdrücklich unterstützen. Wir sind froh, dass wir Sozialpädiatrische Zentren haben, denn auch ein aktiver und in der Behindertenbetreuung erfahrener Kinder- und Jugendarzt benötigt die Unterstützung durch ein multiprofessionelles Team immer wieder. Da haben wir entgegen der Bekundung von mancher Seite noch immer Nachholbedarf.

Ich komme aus Solingen, einer Stadt mit 164 000 Einwohnern. Dort gibt es kein SPZ. In der Umgebung gibt es SPZs, allerdings mit Wartezeiten von acht oder neun Monaten oder gar noch mehr. Das ist inakzeptabel und ist den Eltern schon aus psychischen Gründen und den Kindern aus medizinischen und sozialen Gründen nicht zuzumuten.

Ich möchte kurz etwas zur interdisziplinären Frühförderung sagen, die hier nicht erwähnt wurde, die aber in diesem Kontext genauso wichtig ist. Wir haben schon, wenn ich mich recht entsinne, im Jahr 2003 eine Frühförderverordnung vom Bundesgesetzgeber erhalten, die bislang nicht annähernd flächendeckend umgesetzt ist. Warum ist sie das nicht? – Weil es nicht möglich war, sich im föderalen Kontext auf gemeinsame Rahmenbedingungen der Umsetzung zu einigen. Somit ist es mehr oder weniger dem Zufall oder der Finanzkraft der jeweiligen Kommune überlassen, die ein Großteil der Kosten für die interdisziplinäre Frühförderung aufwenden muss, ob es zu einem solchen Angebot kommt oder nicht.

Ich möchte kurz auf das Thema der Honorierung zu sprechen kommen. Es ist in diesem Kontext natürlich ganz schwierig, über Geld zu reden. Wir als Hausärzte – Kinder- und Jugendärzte sind in der Regel Hausärzte – sind mit einem Regelleistungsvolumen ausgestattet, das es sicherlich nicht ermöglicht, eine aufwendige Betreuung von schwerstbehinderten Kindern unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu ermöglichen. Ich denke, hier besteht noch ein gewisser Nachholbedarf. Darum müssten sich insbesondere die KVen und die Krankenkassen kümmern.

Zum Schluss noch zwei Punkte. Die Familien dieser Kinder, insbesondere der schwerstbehinderten Kinder, sind außerordentlich stark belastet. Wenn dann noch Geschwister in der Familie sind, die gesund sind, ist es häufig so, dass diese Kinder irgendwo am Rande untergehen. Das habe ich in meiner Praxis schon mehrfach erlebt. Ganze Familien zerbrechen oftmals an der Bürde dieses Krankheitsbildes, beispielsweise einer komplexen tetraspastischen Cerebralparese mit schwerster geistiger Behinderung und Epilepsie-Krankheitsbildern, die gerade auch von Herrn Kollegen Peters dargestellt worden sind. Ich glaube, wir müssen etwas tun, um die Entlastung dieser Familien zu verbessern. Darüber sollten wir uns als Ärztinnen und Ärzte Gedanken machen.

Ich komme zu meinem letzten Punkt. Sie haben auf die Übertherapie hingewiesen. Auch das ist in der Tat ein Problem. Das ist menschlich total verständlich, gerade in den bildungsnahen Schichten. Man überlegt sich natürlich: Was kann ich noch alles tun, um die Situation meines Kindes zu verbessern? Häufig ist dann viel eher weniger. Dann haben wir das Problem, die Eltern wieder etwas herunterzuregulieren und sie davor zu bewahren, zu viel zu tun. Das soll auch ein Appell dafür sein, sich nicht zu sehr von den Eltern in Geiselhaft nehmen zu lassen und nachzugeben. Natürlich tut auch uns das Herz weh, wenn die Eltern verzweifelt nach Hilfe suchen und völlig ungeeignete Therapieformen für sich beanspruchen.

Ich denke, Transition kann nur vor Ort funktionieren, kann nur funktionieren zwischen Kinder- und Jugendärzten und Allgemeinärzten. Ich denke, das funktioniert immer so gut, wie die einzelnen Kolleginnen und Kollegen miteinander klarkommen und miteinander arbeiten. Ich möchte hier den Appell aussprechen, die Transition zu ermöglichen durch Telefonate, durch persönliche Kontakte und durch die Hilfestellung für die Familien, den Übergang vom 18. Lebensjahr ins Erwachsenenleben zu ermöglichen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall)

Vizepräsidentin Dr. Goesmann: Vielen Dank, Herr Fischbach.

(Zuruf)

– Es ist der Antrag auf Begrenzung der Redezeit auf drei Minuten gestellt. Spricht jemand dagegen? – Ich sehe niemanden. Dann stimmen wir darüber ab. Wer ist für die Begrenzung der Redezeit auf drei Minuten? – Eine große Mehrheit. Wer ist dagegen? – Wenige. Wer enthält sich? – Einige. Dann ist das so beschlossen. Herr Voigt ist leider der erste Redner, der bei diesem Thema die drei Minuten einhalten muss. Bitte, Herr Voigt.

© Bundesärztekammer 2009