Eröffnungsveranstaltung

Dienstag, 11. Mai 2010, Vormittagssitzung

Dr. Philipp RöslerDr. Philipp Rösler, MdB, Bundesminister für Gesundheit: Es wäre jetzt echt schwierig geworden, wenn ich doch ein Papier bräuchte.

Sehr geehrter Herr Präsident Hoppe! Sehr geehrter Herr Professor Schulze! Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Tillich! Liebe Frau Ministerkollegin Clauß! Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordnete des Europäischen Parlaments! Liebe Frau Michalk aus dem Deutschen Bundestag! Liebe Frau Aschenberg-Dugnus und liebe Frau Kipping, ebenfalls aus dem Deutschen Bundestag! Liebe Kerstin Schütz aus dem Sächsischen Landtag! Meine sehr verehrten Damen und Herren Ehrengäste! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst einmal vielen Dank für die Einladung. Vielen Dank für die Ehre, dass ich hier eine Grußansprache an – ich sage es einmal so – historischer Stelle und in einem schönen Ambiente halten darf. Ich wollte als Student schon immer zum Ärztetag. Dass sich dies nun als Gesundheitsminister ergibt, war mir so nicht ganz klar.

Ich habe gehört, dass es schon 1993 einen Deutschen Ärztetag in Dresden gab, bei dem die Eröffnungsveranstaltung ebenfalls hier in der Semperoper stattfand. Der damalige Redner war der damalige Bundesminister für Gesundheit, Herr Seehofer. Er macht heute auch noch ein bisschen Gesundheitspolitik.

(Heiterkeit)

Ich freue mich, heute hier bei Ihnen zu sein. Ich habe diesen Termin ganz bewusst gewählt, denn es findet zeitgleich eine Sondersitzung des Kabinetts statt und auch die Fraktionen führen Sondersitzungen durch, um den Euro zu retten. Ich denke, es ist wichtig, dass man als neuer Bundesminister für Gesundheit zum Deutschen Ärztetag kommt und ein bisschen seine Vorstellungen zur Gesundheitspolitik deutlich macht und auch die Gelegenheit nutzt. Das will ich vorab tun, vielleicht auch – zu den Inhalten komme ich gleich – schon einmal deutlich machen, dass der Ton ein Stück weit die Musik macht und keiner von uns in dieser Bundesregierung, in dieser Koalition vorhat, auch nur ansatzweise irgendeinen Leistungserbringer jemals zu beschimpfen. Das haben wir nicht nur in den letzten sechs Monaten nicht getan, wir werden es auch in der Zukunft nicht tun. Ich glaube, das ist grundsätzlich notwendig für ein faires Miteinander.

(Beifall)

Zunächst möchte ich mich im Gegenteil ausdrücklich für die Leistungen aller Leistungserbringer im deutschen Gesundheitswesen, im Speziellen für die Leistungen der Ärztinnen und Ärzte im Namen der gesamten Bundesregierung bedanken. Manchmal läuft man bei aller politischen Diskussion, die wir führen, auch bei aller parteipolitischen Diskussion, die wir führen und führen müssen, Gefahr, dass die Menschen den Eindruck bekommen, die Lage im Gesundheitswesen sei katastrophal schlecht.

Ich sage Ihnen aber: Zumindest in Bezug auf die Versorgung unserer Patientinnen und Patienten haben wir nach wie vor vom Ergebnis her europaweit – ich sage sogar: weltweit – eines der besten Gesundheitssysteme. Sie können stolz auf das sein, was Sie für die Patientinnen und Patienten leisten.

(Beifall)

Natürlich weiß ich auch – das klang durchaus bereits schon in den Reden und den Grußworten an –: Die Leistungen, die Sie erbringen, erbringen Sie allzu häufig nicht wegen, sondern trotz mancher Gesundheitspolitik in Deutschland. Sie leisten viel, haben aber das Gefühl, dass sich das nicht so richtig lohnt, dass Sie behindert werden von einer komplexen, komplizierten, manchmal auch verkorksten Gesundheitspolitik. Deswegen sind wir angetreten, ein Stück weit zu versuchen, dieses System zu verändern und zu verbessern.

Es gab eine Reihe von Kolleginnen und Kollegen, die wahrscheinlich auch hier standen, die versucht haben, das Gesundheitssystem zu reformieren. In den letzten 20 Jahren gab es allein sieben große Gesundheitsreformen, also im Schnitt alle drei Jahre eine sogenannte Jahrhundertreform. Nicht bei jeder Reform hatte man danach das Gefühl, dass es besser geworden ist, aber zumindest ist es durchaus immer etwas teurer geworden. Wir haben ja lange über die Praxisgebühr diskutiert, auch in den Gesprächen. Früher hat man sich als junger Arzt ja noch getraut, beim Erstkontakt mit Patientinnen und Patienten zu fragen: Guten Tag, Herr Müller, was fehlt Ihnen denn? Heute weiß man, dass die Antwort schon einmal lautet: 10 Euro, Herr Doktor.

Das zeigt nicht nur, dass Reformen teuer werden für die Versicherten, sondern dass – und das ist weniger lustig – auch die Arzt-Patient-Beziehung belastet wird, weil Sie nicht zunächst einmal mit einem vertrauensvollen Gespräch beginnen, sondern mit der Rechnung ankommen, bevor überhaupt etwas passiert. Deshalb ist nicht so ohne Weiteres auf die leichte Schulter zu nehmen, was bei diesen Gesundheitsreformen bisher passiert ist.

Was war der Fehler? Wenn man sich diese Reformen im Einzelnen anguckt, wie gesagt: sieben an der Zahl – es gibt ja übrigens auch sieben biblische Plagen; das darf man angesichts des Ökumenischen Kirchentages auch einmal sagen –,

(Beifall)

wird man feststellen, dass sie ein wesentliches Ziel hatten, das übrigens richtig ist, wie ich ausdrücklich festhalten will: Sie hatten das Ziel, die Lohnzusatzkosten stabil zu halten, also möglichst auch den Krankenversicherungsbeitrag, weil wir alle wissen, dass steigende Lohnzusatzkosten automatisch zulasten des Faktors Arbeit gehen und damit Arbeitsplätze gefährden.

Wer wüsste das nicht besser als Ärztinnen und Ärzte, gerade im niedergelassenen Bereich? Auch die sind übrigens Arbeitgeber, zumindest für ihre Kolleginnen und Kollegen in der Praxis. Sie kennen also die Diskussion über Lohnzusatzkosten.

Aber es wäre dennoch falsch, eine Reform allein danach auszurichten, die Lohnzusatzkosten stabil zu halten, die Beiträge stabil zu halten, wenn Sie nicht gleichzeitig die Kraft aufbringen, das System insgesamt zu reformieren und zu verbessern. Ansonsten wären alle diese Reformen – auch das klang eben schon kritisch an – eine mehr oder weniger versteckte Rationierung zulasten der Versicherten; denn es gibt eigentlich keinen sachlichen Zusammenhang zwischen möglichen Kostensteigerungen im deutschen Gesundheitswesen und den dazugehörigen Lohnzusatzkosten.

Es wird gesetzgeberisch aufgrund des Systems ein Zusammenhang hergestellt; einen sachlichen Zusammenhang gibt es allerdings nicht, denn wir werden womöglich auch mit Kostensteigerungen zu rechnen haben, nicht aufgrund der Maßlosigkeit der Teilnehmer im System, sondern schlichtweg – auch das klang mehrfach an, gerade im Zusammenhang mit dem Freistaat Sachsen – aufgrund der demografischen Entwicklung. Diese können wir, selbst wenn wir uns kurzfristig vornehmen, sie zu ändern, nicht sofort ändern. Wir hätten Wartezeiten von neun Monaten. Wir hätten im Übrigen auch nur dann eine Chance, wenn jede Familie im Schnitt ungefähr drei Kinder hätte, was definitiv nicht der Fall ist.

Gleichzeitig haben wir den medizinisch-technischen Fortschritt.

Das sind die beiden Kostentreiber im Gesundheitssystem. Wenn man diesen Kostentreibern nicht gerecht wird, wenn man nicht versucht, in irgendeiner Form damit umzugehen, sondern allein diesen Zusammenhang bestehen lässt zwischen den Lohnzusatzkosten auf der einen Seite und den Krankenversicherungskosten auf der anderen Seite, dann führt ein Geldbedarf im System aufgrund der demografischen Entwicklung nicht dazu, dass die Arbeitgeber plötzlich sagen „Super, dann machen wir das und geben Geld in das deutsche Gesundheitssystem“, sondern das Gegenteil ist der Fall. Es geht eben wiederum die Diskussion los, die Beiträge möglichst stabil zu halten. Bisher ging diese Diskussion immer zulasten des deutschen Gesundheitssystems aus.

Wenn man wirklich etwas ändern will, muss man sich nicht nur die Einnahmenseite vornehmen, sondern man muss sich das System insgesamt anschauen. Wir wissen alle: Im gesamten Gesundheitssystem gibt es annähernd 5 Millionen Beschäftigte und über 300 000 Ärztinnen und Ärzte. Hand aufs Herz: Wenn ich Sie jetzt fragen würde, ob Sie das Gefühl haben, in einem fairen System zu leben und zu arbeiten, ob Sie das Gefühl haben, dass sich Ihre tägliche Arbeit für die Patientinnen und Patienten lohnt, dann würden die meisten eher sagen: So richtig haben wir nicht das Gefühl, aktuell in einem freien und fairen System zu arbeiten.

Man bekommt im Gegenteil häufig zu hören, dass man eher das Gefühl hat, man befinde sich in einem System der unfairen Konkurrenz statt in einem System des fairen Wettbewerbs.

Der Unterschied ist einfach zu beschreiben. In einem System der unfairen Konkurrenz haben Sie fest vorgegebene Töpfe: das Budget, meinetwegen auch Regelleistungsvolumina und viele Vorgaben und starre Regeln, wer bei welcher Krankheit was bekommen kann und wer nicht.

Vor allem hat in einem unfairen System nicht derjenige Erfolg, der besonders gute Leistungen zeigt, sondern derjenige, der sich besonders gut in diesem System und mit dem Regelwerk des Systems auskennt. Das ist der Unterschied gegenüber dem freien Wettbewerb.

(Beifall)

Ich halte das für gefährlich, weil es heutzutage schon längst Computerprogramme gibt, die einem genau sagen, was man in einem bestimmten Quartal noch machen darf, vielleicht auch machen muss, um bis an die Grenzen seines Budgets zu kommen. Man darf aber auch keinesfalls in Regressforderungen hineingeraten. Meine Damen und Herren, in dieser Sekunde haben nicht mehr Sie die Therapiehoheit über das, was Ihre Patientinnen und Patienten brauchen, sondern der Computer. Und dafür haben Sie, glaube ich, nicht Medizin studiert, haben Ihre Facharztausbildung gemacht und sind erfolgreich geworden – anders, als das bei mir der Fall ist.

(Beifall)

Wie will man ein solches System verändern? Die Klage über die Bürokratie ist bekannt. Auch ich habe in der Hoffnung, eines Tages einen Beruf erlernt zu haben, mit dem man viel mit Menschen zu tun hat, angefangen, Medizin zu studieren. Nach dem Studium musste ich dann feststellen, dass Qualitätssicherungsbögen und Arbeitsdokumentationen wichtiger sind als die Zeit am und mit dem Patienten.

Ich habe mich dann entschieden, in die Politik zu gehen. Das sollten nun nicht alle tun, denn sonst hätten wir das Problem bei der ärztlichen Versorgung in Deutschland noch verschärft.

Warum gibt es so viel Bürokratie auch – aber nicht nur – im deutschen Gesundheitssystem? Ich glaube, das ist nicht nur eine Frage von Gesundheitspolitik – ich erlaube mir, das auch an dieser Stelle zu sagen –, sondern das ist eine grundsätzliche Frage, denn Bürokratie gibt es auch im Steuersystem, auch im Bildungssystem, aber eben auch im Gesundheitssystem. Ich glaube, entscheidend ist die Mentalität, die dahinter steht. Es ist ganz bezeichnend – vielleicht werden das die ausländischen Gäste bestätigen –, dass gerade in Deutschland dann, wenn ein Problem besteht, zuallererst das Vertrauen existiert, dass der Staat das Problem besonders gut lösen kann. Das gilt bei vielen Problemen. Im Gesundheitssystem ist es besonders ausgeprägt. Es gilt aber auch, wie gesagt, für viele andere Bereiche.

Aber einmal zu Ende gedacht: Angenommen, man würde glauben, dass jede gute Aufgabe künftig vom Staat geleistet werden müsste, wie sähe Deutschland dann aus oder auch der 113. Deutsche Ärztetag? Stellen Sie sich einmal vor, Sie würden nicht sagen, das solle die Selbstverwaltung, das solle die Bundesärztekammer regeln, sondern das solle künftig Aufgabe des Staates, Aufgabe der Bundesregierung, mindestens Aufgabe des Deutschen Bundestages sein. Was würden dann Frau Aschenberg-Dugnus, Frau Michalk und Frau Kipping tun? – Sie täten das Einzige, was Politiker wirklich gut können: Sie machten ein Gesetz, das „Deutscher Ärztetag Aufbaudurchführungs- und Qualitätssicherungsgesetz (DÄTQSG)“.

(Heiterkeit)

Sie bräuchten eine Menge Verordnungen und Vorschriften, die genau zu klären haben, wie Sie hier hereinzukommen haben, wohin Sie sich zu setzen haben – ich habe allerdings gehört, dass das hier festgelegt war –, was es zu essen gibt, wie die Rednerreihenfolge ist. Sie bräuchten nicht nur die Menschen, die das hier alles organisieren und mit aufbauen, sondern Sie bräuchten natürlich passend dazu das Doppelte an Personal, um die Verordnungen und Vorschriften, die Sie selber gemacht haben, am Ende kontrollieren zu lassen. Und wenn das nicht reicht, gründen wir noch ein Qualitätssicherungsinstitut, natürlich unabhängig, paritätisch besetzt von allen Selbstverwaltungsorganen.

Das alles müssen Sie aber auch bezahlen. Das wird teuer. Beim nächsten Mal kostet der Ärztetag Eintritt.

(Heiterkeit – Beifall)

Also muss es bessere Wege geben, als allein zu glauben, dass die Verwaltung in der Lage ist, Probleme zu lösen. Im Gesundheitssystem haben Sie an vielen Stellen den Wunsch, dass die Verwaltung Probleme löst.

Wie Sie wissen, bekommen Gesundheitsminister relativ viel Post. Ich habe ein eigenes Referat, das nur damit beauftragt ist, die Bürgerbriefe zu beantworten. Letztens habe ich von einem Radiologen, Herr Montgomery – das ist jetzt nicht persönlich gemeint –, einen Brief bekommen, der sich über die Bürokratie im System beklagt hat. Er hat sich zunächst einmal darüber beklagt, dass er jeden Morgen aufs Neue seine Monitore testen und kalibrieren muss. Das alles muss er natürlich auch dokumentieren. Das hat jeden Morgen aufs Neue zu geschehen. Bis vor ein paar Jahren hatte er dafür Verständnis; damals gab es Röhrenbildschirme. Er meinte, damals sei die Prüfung technisch notwendig gewesen. Heutzutage hat er Flachbildschirme, da ist zumindest das Kalibrieren nicht mehr notwendig.

Man könnte ja sagen: Der Rösler muss nur diesen Qualitätssicherungsbogen abschaffen, dann wäre ein Stück Bürokratie verschwunden. Abgesehen davon, dass es nicht mein Qualitätssicherungsbogen ist – das sage ich voller Respekt an die Damen und Herren der Selbstverwaltung –, reicht das, wie ich glaube, nicht aus. Sie werden das Problem nicht lösen, indem Sie Gesetze, Verordnungen und Vorschriften nach Anzahl oder vielleicht sogar nach Gewicht abschaffen, wenn Sie nicht die dahinter stehende Mentalität verändern können.

Der Kollege hat weiter gefragt: Herr Rösler, was, glauben Sie, sorgt eigentlich mehr für Qualität bei der Versorgung meiner Patientinnen und Patienten: mein sechsjähriges Studium, meine fünfjährige Weiterbildung, meine zweijährige Zusatzausbildung, meine diversen Fortbildungskurse, die Hunderte von Fortbildungspunkten, meine 20-jährige Berufserfahrung oder aber Ihr Qualitätssicherungsbogen?

Ich denke, meine Damen und Herren, die Antwort ist klar und einfach. Wir werden diese Bürokratie niemals bekämpfen können, wenn wir nicht die dahinter stehende Geisteshaltung verhindern. Ich werde es niemals schaffen, hinter die 330 000 Ärztinnen und Ärzte in Deutschland jeweils eine meiner Mitarbeiterinnen bzw. einen meiner Mitarbeiter zu stellen, um zu gucken, ob Sie leitliniengerecht evidenzbasiert behandeln, sondern ich werde Ihnen endlich wieder vertrauen müssen. Deswegen plädiere ich dafür, Schluss zu machen mit der Kontrollwut, der Kontrollitis und endlich wieder zu einer neuen Kultur des Vertrauens und des Miteinander zu kommen.

(Beifall)

Den Kritikern, die es im Gesundheitssystem ja auch geben soll, sage ich: Das bedeutet nicht, dass wir unsere Patientinnen und Patienten völlig preisgeben. An die Stelle von staatlichen Verordnungen und Vorschriften kann aber etwas anderes treten als Bürokratie. Wenn eine Lücke entstünde, wäre das übrigens nicht liberal, sondern liberallalla. Deswegen ist es richtig, zu überlegen: Was könnte denn an die Stelle von staatlichen Kontrollen treten?

Ich frage Sie ganz locker: Wann kommen junge Ärzte, Assistenzärzte besonders stark ins Schwitzen? Klar, zunächst einmal dann, wenn die Chefarztvisite ansteht. Zweitens aber dann, wenn ein Patient zu ihnen kommt, sich hinsetzt und sagt: Guten Tag, Herr Doktor, nur damit Sie es wissen, ich bin chronisch krank. Dann wissen Sie zumindest als junger Assistenzarzt eines sehr genau: Der Patient, der Ihnen in dieser Sekunde gegenübersitzt, kennt sich hervorragend aus mit seiner Krankheit, mit seinen Therapien, mit seinen Spezialtherapien, auch mit den dazugehörigen Spezialisten.

Das ist eine hervorragende Motivation für junge Assistenzärzte, sich abends hinzusetzen, noch einmal ein Buch über die entsprechende Krankheit zu lesen. Es ist jedenfalls eine wesentlich bessere Motivation, als wenn mein Chefarzt sagen würde: Rösler, bis morgen hast du das Buch auswendig gelernt! Es ist auch besser, als wenn ich per Verordnung vorgeben würde, Assistenzärzte hätten einmal im Quartal ein Buch zu lesen.

Das zeigt, dass es natürlich möglich ist, zwar nicht vollständig, aber ein Stück weit durch einen mündigen Versicherten und einen aufgeklärten Patienten auch – vielleicht sogar besser als mit Kontrollen und Vorschriften – für Qualität im deutschen Gesundheitswesen zu sorgen.

Natürlich brauchen wir dazu einen mündigen Patienten. Wir wissen, dass es immer eine Informationsasymmetrie zwischen dem Therapeuten auf der einen Seite und dem Patienten auf der anderen Seite geben wird. Jeder, der schon einmal beim Zahnarzt auf dem Stuhl lag, weiß, wovon ich rede. Dass man die Patientinnen und Patienten trotzdem ertüchtigen kann, ist, glaube ich, unstreitig. Das ist eigentlich auch die Kernaufgabe von ernst gemeinter Prävention, die über die Rückenschule, die natürlich außerordentlich wichtig ist, hinausgehen sollte. Es ist erforderlich, die Ertüchtigung von Patientinnen und Patienten, Gesundheitswissen, Gesundheitsbildung und auch Gesundheitsaufklärung mit in das System hineinzubringen. Sie werden nicht alles durch einfache Kostenerstattung oder durch Verordnungen und Vorschriften regeln können; Sie brauchen ein Stück weit auch das eigenverantwortliche Handeln von Patientinnen und Patienten. Dafür brauchen diese zunächst einmal Gesundheitsbildung und Gesundheitswissen.

Gleichzeitig gilt: Wenn Sie als Patient in diesem nicht ganz einfachen System eine richtige Entscheidung treffen sollen, brauchen Sie nicht nur Wissen, sondern auch Informationen. Information heißt – da werden wir jetzt sehr politisch –, dass wir aus meiner Sicht das bisherige System ein Stück weit verändern müssen. Häufig ist es so, dass die Patientinnen und Patienten zu Ihnen kommen, ihre Krankenversicherungskarte abgeben, behandelt werden, die Praxis dann wieder verlassen, aber nicht so richtig wissen, was zu welchem Preis geleistet wurde. Meine Theorie ist ja, dass dies ein Stück weit die Unzufriedenheit mancher Patientinnen und Patienten erklärt, eine gewisse Anspruchshaltung, weil man gar nicht weiß, was umgesetzt wurde, und übrigens auch, was nicht umgesetzt wurde. Wenn Sie dem Patienten erzählen, dass Sie für ihn ein Regelleistungsvolumen pro Quartal von vielleicht 23 Euro haben, wird ihm klar, wie oft er eigentlich pro Quartal zu Ihnen kommen kann. Möglicherweise wird er einen Vergleich mit den Kosten für eine Kinokarte anstellen. Ich weiß, dass dies ein schlechter Vergleich ist, weil man möglicherweise einen schlechten Film geboten bekommt, aber immer eine gute Behandlung.

Die Deutschen nutzen übrigens diese Gelegenheit, wenn sie einmal beim Arzt waren, regelmäßig und häufig zu ihm zu gehen, viel häufiger, als das in anderen europäischen Staaten der Fall ist. Das liegt eben daran, dass die Menschen bisher ganz bewusst im Unklaren darüber gelassen werden, wie viel Geld im System täglich umgesetzt wird. Sie können von den Menschen nur dann verlangen, dass sie in der Lage sind, ein vernünftiges Preis-Leistungs-Verhältnis zu beurteilen, wenn Sie den Menschen nicht nur die Leistung zeigen, sondern ihnen auch den Preis dafür nennen. Deswegen sage ich hier sehr klar: Wer Reformen, wer Veränderungen im System möchte, muss wegkommen von dem sehr anonymen Sachleistungsprinzip und muss viel stärker als bisher auf Kostenerstattung setzen. Anders wird man es nie schaffen, dass sich die Patienten in diesem System eigenverantwortlich kostenbewusster verhalten, als das bisher der Fall ist.

(Beifall)

Das werden wesentliche Aufgaben auch der Gesundheitspolitik in dieser Legislaturperiode sein, den Weg dahin zu verbessern und zu vereinfachen. Sie wissen: Es ist theoretisch schon jetzt möglich. Aber praktisch nutzen das nur 0,2 Prozent der Patientinnen und Patienten.

Wir müssen viel stärker eine echte Prävention auf den Weg bringen. Wir diskutieren darüber, nicht nur die betriebliche Gesundheitsförderung zu verbessern, sondern auch – dazu gibt es bereits von meiner Vorgängerin im Amte Studien – Ärztinnen und Ärzte viel stärker beim Thema Prävention mit einzubinden. Es gibt ja nicht nur bildungsferne Schichten in der Begrifflichkeit der deutschen Politik, sondern es gibt in der Gesundheitspolitik aus meiner Sicht auch präventionsferne Schichten. Wenn es überhaupt noch jemanden gibt, der diese Menschen erreichen kann und von der Notwendigkeit eines gesunden Lebenswandels überzeugen kann, dann sind dies eben Ärztinnen und Ärzte. Insofern müssen wir auch darüber diskutieren, wie wir die Ärzteschaft stärker in das Thema Prävention mit einbinden können.

Ich jedenfalls bin davon überzeugt, dass es selbstverständlich gelingen kann, ein System nicht nur von der Einnahmenseite her zu reformieren – dazu komme ich noch –, sondern dass man vor allem Reformen innerhalb des Systems braucht. Man braucht mehr Eigenverantwortung für Patientinnen und Patienten. Man braucht etwas mehr Wahlfreiheiten, man braucht wettbewerblichere Elemente.

Aber es ist möglich, dass Therapeuten frei sind bei der Auswahl der Therapie für ihre Patientinnen und Patienten, dass sich die Patienten ihre Therapeuten frei aussuchen können, unabhängig von vertraglichen Regeln, die der eine mit dem anderen vereinbart hat, dass Versicherungsunternehmen selber entscheiden können, wen sie in welcher Form behandeln wollen und zu welchem Preis, was momentan in Deutschland nicht möglich ist, weil es einen Einheitspreis gibt. Natürlich ist es möglich, dass sich die Versicherten ihre Krankenversicherung selber aussuchen können.

Dies, meine Damen und Herren, ist ein System, das auf Eigenverantwortung aufbaut und besser in der Lage ist, effizient zu wirken, als das jede Verwaltung und jede Bürokratie in Deutschland jemals könnte. Trotzdem weiß ich, dass es einen Unterschied, einen wesentlichen Unterschied gibt zwischen einem beliebigen wettbewerblichen Modell im Rahmen der sozialen Marktwirtschaft auf der einen Seite und einem sozialen Sicherungssystem wie der gesetzlichen Krankenversicherung auf der anderen Seite. Sie können sich aussuchen, ob Sie sich ein Fahrrad oder einen Roller kaufen wollen, ein Brötchen oder ein Brot. Da haben Sie wirklich die freie Auswahl. Sie können sich aber nicht aussuchen, ob Sie krank sind oder gesund. Das erlebt jeder von Ihnen täglich in der Praxis.

Weil es diesen Unterschied gibt, muss es auch unterschiedliche Systeme geben. Sie können vieles aus dem System der sozialen Marktwirtschaft auch in das Gesundheitssystem übertragen, aber eben nicht alles. Dieser entscheidende Unterschied lässt sich aus meiner Sicht mit einem Begriff zusammenfassen, nämlich mit dem Begriff der Solidarität. Solidarität bedeutet im ursprünglichen Sinne: Der Starke hilft dem Schwachen. In Bezug auf unser Krankenversicherungssystem heißt dies, dass die gesunden Starken den schwächeren Kranken zu jeder Zeit helfen müssen.

Das, meine Damen und Herren, ist der Kern, ist die Aufgabe eines jeden guten Krankenversicherungssystems. Darauf muss man auch eine Krankenversicherung konzentrieren. Nur wenn ein System diese Aufgabe erfüllt, ist es ein gutes System, das dem Begriff der Solidarität gerecht wird. Bei allen anderen Systemen sollte man schnellstmöglich nacharbeiten.

(Beifall)

Wir haben in Deutschland in unserem aktuellen System nicht nur den Ausgleich zwischen Gesund und Krank, sondern gleichzeitig auch den Ausgleich zwischen Arm und Reich. Es gibt einen einheitlichen Krankenversicherungsbeitrag von 14,9 Prozent. Das heißt, höhere Einkommen zahlen für die gleiche Leistung mehr als niedrigere Einkommen.

Man darf sich durchaus auch einmal die Frage stellen, ob denn eine Blinddarmoperation bei einem Generaldirektor teurer ist als bei einer Sekretärin. Aber diese Diskussion will ich jedenfalls an dieser Stelle nicht führen, sondern ausdrücklich darauf hinweisen, dass es in jeder freien Gesellschaft immer einen Ausgleich zwischen Arm und Reich geben muss. Nur gehört dieser Ausgleich aus meiner Sicht nicht in das Krankenversicherungssystem. Dafür ist es nicht ausgelegt.

(Beifall)

Bei dem Versuch, beides zu erreichen, nämlich die Solidarität der Gesunden mit den Kranken und gleichzeitig die Solidarität der Reichen mit den Ärmeren, scheitert dieses System, und zwar regelmäßig. Man kann sich nämlich nur auf eines konzentrieren; wenn man das eine tut, kann man das andere nicht erreichen. Das erkennen Sie schon daran, dass dieser Ausgleich zwischen Arm und Reich nur in Bezug auf das Lohneinkommen gilt, auch nur mit einem einheitlichen Satz, mit einer, wenn Sie so wollen, Flat Tax von 14,9 Prozent, und das auch nur bis zur Beitragsbemessungsgrenze von 3 750 Euro pro Monat oder, wenn es ganz hart kommt, bis zur Versicherungspflichtgrenze von 4 162 Euro pro Monat. Darüber hinaus können Sie das System gänzlich verlassen.

Deshalb ist die Argumentation, Generaldirektoren würden in einem anderen System genauso viel bezahlen wie ihre Sekretärinnen, etwas merkwürdig. Tatsache ist nämlich, wenn man sich das System anschaut, dass die meisten Generaldirektoren, die heute gar nicht mehr so heißen, sondern schick CEO, gar nicht mehr in der gesetzlichen Krankenversicherung sind, sondern größtenteils längst in der privaten Krankenversicherung, bis auf ein paar Wenige, die freiwillig versichert geblieben sind. Damit läuft der Ausgleich zwischen Arm und Reich heute längst zwischen den Sekretärinnen untereinander und eben nicht mehr gemeinsam unter allen.

Das erklärt, weshalb der Ausgleich zwischen Arm und Reich im Steuersystem besser aufgehoben ist. Dort wird man nicht nur mit 14,9 Prozent für diesen Ausgleich herangezogen, sondern jeder wird nach seiner Leistungsfähigkeit besteuert, mit allen Einkunftsarten, nicht nur in Bezug auf das Lohneinkommen. Es gibt dort keine Beitragsbemessungsgrenze. Jeder – auch Privatversicherte – wird für diesen Ausgleich zwischen Arm und Reich herangezogen.

Sie können ein System, das Eigenverantwortung fordert, nur dann auf den Weg bringen, wenn Sie sicherstellen können, dass die Kernaufgabe der Solidarität nicht geschwächt, sondern im Gegenteil gestärkt wird. Das erklärt, warum man sich so viel Mühe gibt und viele Diskussionen führt, um dieses System zu verbessern. Wenn Sie versuchen, beides zu erreichen, werden Sie am Ende feststellen, dass Sie nichts von beidem bekommen. Das erklärt den Kampf, den wir täglich im Parlament führen.

Es ist nicht das Ziel, eine bestimmte Finanzierungsform durchzusetzen, weil sie vielleicht in dem einen oder anderen Wahlprogramm steht – in meinem übrigens nicht, um auch das einmal zu sagen –, sondern es geht darum, Eigenverantwortung möglich zu machen. Das geht eben niemals ohne Solidarität.

Ich weiß natürlich auch, dass mich am Ende die Menschen nicht daran messen werden, ob ich ein tolles System auf den Weg gebracht habe oder nicht, sondern die Patientinnen und Patienten werden zu Recht sagen: Die Gesundheitspolitik ist dann gut, wenn ich vor Ort einen Arzt finde und wenn ich dort möglichst schnell einen Termin bekomme. Deshalb haben wir das Thema Versorgung auch auf Bundesebene aufgegriffen. Sie haben vollkommen recht, Herr Tillich: Das war so enorm neu nicht, sondern ganz im Gegenteil, die Länder, gerade diejenigen, die besonders unter der demografischen Entwicklung zu leiden haben, haben dieses Thema schon vor Jahren entdeckt und hervorragende Maßnahmen auf den Weg gebracht, Frau Clauß – es gibt ja ein paar, die auch für die Quote sind; das finde ich super –; sie haben sich vor allem darum gekümmert, dass die Versorgung trotz der demografischen Entwicklung gewährleistet ist.

Das gilt übrigens auch für die Selbstverwaltungsorgane, für die Bundesärztekammer, die dafür Modelle hat, auch für die Kassenärztliche Bundesvereinigung. Es gilt für viele Organisationen und Institutionen. Wir haben in den vergangenen zwei Wochen lediglich versucht, das Thema einmal aufzubringen, damit es auch auf bundespolitischer Ebene diskutiert wird, wohl wissend, dass wir die Probleme nicht allein auf Bundesebene werden lösen können.

Ich sage durchaus in Richtung der Länderkolleginnen und -kollegen: Jetzt hat der Föderalismus die einmalige Chance, seine Leistungsfähigkeit für die Menschen unter Beweis zu stellen, wie Bund, Länder, Kommunen und Selbstverwaltungsorgane das Thema der Versorgung der Menschen in Deutschland lösen können.

Ich bedanke mich bei der Bundesärztekammer für die ersten Gespräche, die wir geführt haben. Wir fangen beispielsweise bei der Frage der Auswahl von jungen Ärztinnen und Ärzte für diesen besonderen Beruf an. Wir sind uns einig, dass der Notendurchschnitt allein nichts darüber aussagt, ob man ein guter Arzt wird oder nicht. Deshalb freue ich mich, dass Sie sich bereit erklärt haben, gemeinsam mit den Länderkollegen darüber zu diskutieren, wie man beispielsweise ein Auswahlverfahren von Ärzten besser organisieren kann als nur über den Numerus clausus.

Ich weiß sehr wohl, dass ich dafür nicht zuständig bin. Ich habe immer gesagt, zwei Dinge wolle ich niemals machen: zum einen Kultusminister auf Landesebene und zum anderen Bundesminister für Gesundheit auf Bundesebene. Wenigstens hinsichtlich des Kultusministers will ich mir treu bleiben. Deswegen werden das die Kolleginnen und Kollegen untereinander klären.

Ich glaube, es macht Sinn, zum einen über den Zugang nachzudenken, zum anderen auch über das Medizinstudium selber. Die Studenten lernen eher in Richtung auf die Prüfung – rote Reihe, schwarze Reihe, was es da so alles gibt –; man kann durchaus die Frage Landarzt mit einbauen. Das ist bisher begrenzt der Fall. Man kann auch darüber nachdenken, ob man andere Krankenhäuser als nur die Lehrkrankenhäuser ins Praktische Jahr mit einbezieht. Man kann auch durchaus etwas an der Ausbildung tun.

Aber eines – das will ich hier sehr klar sagen – werden wir nicht an der Ausbildung ändern: Das ist die Betonung des Staatsexamens bei Zahnmedizin und Humanmedizin. Ich wende mich vehement gegen jeden Versuch, Bachelor und Master in irgendeiner Form auf das Studium der Humanmedizin zu übertragen.

(Beifall)

Die Grundidee von Bachelor und Master war sicher, einen modularisierten Aufbau zu ermöglichen, also den Bachelor als ersten berufsqualifizierenden Abschluss zu haben.

Ich sehe nicht die Möglichkeit, das große Medizinstudium, das in sich eine geschlossene Einheit darstellt, zu modularisieren. Sie können auch einen Elefanten nicht modularisieren, es sei denn, Sie schneiden die Ohren und den Rüssel ab. Dann ist es aber schwierig mit dem Elefant sein.

(Heiterkeit – Beifall)

Deshalb sollte man klar sagen, dass dies ein Qualitätsaspekt ist, den man gerade in der aktuellen Diskussion berücksichtigen muss, denn die ersten Ansätze kommen ja schon: Wir haben zu wenig Ärzte, also verkürzen wir die Ausbildung. Aber so einfach ist es in Deutschland zum Glück nicht.

Die gute Nachricht ist: Auch wenn ich nicht Bildungsminister bin, für die Ausbildung im Humanmedizinstudium ist in Deutschland der Gesundheitsminister zuständig.

(Beifall)

Wenn Sie sich die jungen Kolleginnen und Kollegen ansehen, werden Sie feststellen – das ist ja auch allgemein bekannt –, dass wir dort größtenteils mehr Frauen als Männer haben. Das war übrigens bei der Bundeswehr schon zu meiner Zeit so. Das bedeutet, dass vielleicht auch die Frage des Arztbildes und des Arztberufs gemeinsam miteinander neu diskutiert werden muss. Wenn es eine Feminisierung – blöder Begriff – des Arztberufs gibt, dann heißt es: Man muss sofort an die Vereinbarkeit von Familie und Beruf denken. Das ist richtig, daran müssen wir denken. Aber ich weise auch darauf hin, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf nicht nur die Sache von jungen Frauen ist. Auch Männer müssen sich, wenn sie studieren, um solche Dinge kümmern. Das ist eine gemeinsame Sache der Eltern.

(Beifall)

Es ist ein bisschen schwierig, wenn man selbst anders lebt. Ich will auch nur sagen: Man muss grundsätzlich darauf hinweisen. Ich bin übrigens auch vielen Großeltern dankbar; auch das gehört zur Ehrlichkeit. Ohne sie würde die Kinderbetreuung in meiner Generation schon gleich gar nicht funktionieren.

Man muss sich also auch Gedanken darüber machen, dass sich das Arztbild, das Ansehen des Berufs und die Herausforderungen vielleicht geändert haben.

Meine Bitte an die Kliniken lautet, darüber nachzudenken, den Arbeitsalltag anders zu strukturieren, als das bisher der Fall ist, um vielleicht auch die Vereinbarkeit von Familie und Beruf besser möglich zu machen.

Es ist auch zu diskutieren, wie wir mit Themen wie den medizinischen Versorgungszentren und den angestellten Ärztinnen und Ärzten umgehen. Ich weiß, dass dies ein heikles Thema ist. Aber für viele, gerade junge Eltern sind medizinische Versorgungszentren eben eine Alternative zur beruflichen Selbstständigkeit als niedergelassener Arzt. Gerade weil wir das erleben und auch wissen, dass diejenigen, die in medizinischen Versorgungszentren arbeiten, und auch diejenigen, die dort behandelt werden, sehr zufrieden sind, muss man – das werde ich als Gesundheitsminister tun – auf eine Sache besonders Wert legen, nämlich dass trotz aller angestellten Tätigkeit die Idee, das Wissen der Freiberuflichkeit nicht verloren geht. Freiberuflichkeit heißt nämlich nicht, dass Sie nicht etwa auch als angestellter Arzt tätig sein dürften, sondern Freiberuflichkeit heißt, dass Ihre medizinische, Ihre therapeutische Entscheidung allein nach medizinischen und therapeutischen Kriterien durchzuführen ist, unbeeinflusst von betriebswirtschaftlichen Vorgaben.

Das, meine Damen und Herren, ist das erklärte Ziel dieser Bundesregierung: Wir stehen zur Freiberuflichkeit des Arztberufs in Deutschland.

(Beifall)

Ich sage das nicht, weil ich weiß, bei Freiberuflern muss das ja wahnsinnig gut ankommen, sondern weil es aus Sicht der Patientinnen und Patienten von Vorteil ist. Deswegen – das wissen Sie – bereiten wir auch gesetzgeberische Maßnahmen vor, um uns das Thema der medizinischen Versorgungszentren – das sind übrigens auch sektorenübergreifende Verhandlungen – noch einmal genau anzusehen. Da geht es um Chancengleichheit, um fairen Wettbewerb innerhalb des Systems.

Die Länder unterstützen ja die Krankenhäuser durch Investitionskostenzuschüsse. Das ist zwar immer zu wenig, aber sie zahlen immerhin. Die Praxen bekommen diese Zuschüsse nicht. Gerade im Zusammenhang mit § 116 b SGB V muss man über solche Fragen noch einmal intensiv diskutieren.

Ich halte es für falsch, wenn Aktiengesellschaften sagen, sie möchten medizinische Versorgungszentren betreiben; denn da läuft man Gefahr, dass medizinische Versorgungszentren am Ende eben doch eher nach den Regeln von Kapitalmärkten funktionieren und nicht nach den Regeln der Freiberuflichkeit.

(Beifall)

Was passiert, wenn man sich zu sehr den Regeln des Kapitalmarkts unterwirft, muss ich gerade angesichts der heutigen Sondersitzungen von Kabinett und Bundestagsfraktionen nicht in besonderer Weise erwähnen.

Trotzdem weiß auch ich, dass am Ende die Frage der ärztlichen Versorgung vor allem auch mit der Attraktivität des Arztberufs als solchem zu tun hat. Da spielt die Freiberuflichkeit eine Rolle, aber natürlich auch die Frage der Honorierung. Viele Kolleginnen und Kollegen aus dem niedergelassenen Bereich beklagen sich darüber, dass sie zwar ein durchaus einkömmliches Praxiseinkommen haben, aber nur, weil sie alle möglichen verschiedenen Programme, die so angeboten werden, in verschiedenen Formen nutzen, weil sie alle möglichen Verträge unterschrieben haben, die Vorverträge, dass sie bei den DMPs dabei sind, dass sie Akupunktur machen. Alles das nutzen sie. Sie haben allerdings relativ wenig Zeit und Möglichkeiten für die medizinischen Grundversorgungsleistungen, weil diese schlichtweg zu schlecht honoriert werden.

(Beifall)

Ich sage Ihnen sehr klar: Über einen Teil wird man diskutieren müssen. Ich habe es da als Politiker leicht, weil es am Ende die Selbstverwaltungsorgane machen müssen. Nichtsdestotrotz wird man genau darüber diskutieren müssen; sonst werden Sie nie die Attraktivität des Arztberufs in den Griff bekommen.

Ich will fairerweise auch sagen, weil ich ja auch Zeitung lese, dass ich niemandem im System am Ende mehr Geld versprechen kann. Im Gegenteil, manchen Kolleginnen und Kollegen aus der Pharmabranche musste ich ja schon Geld nehmen. Aber ich kann Ihnen dafür in jedem Fall immer ein faires System versprechen. Wir wissen längst, warum Sie die Diskussion über Rationierung und Priorisierung führen, nämlich weil Sie täglich vor Ort – in der Klinik genauso wie im niedergelassenen Bereich – häufig zu Hunderten, vielleicht sogar zu Tausenden – ich hoffe, nicht zu Zehntausenden – bei Patienten vor der Entscheidung stehen, den Patienten entweder zu behandeln und damit das dazugehörige Budget zu überziehen, oder die Behandlung sein zu lassen, um ja nicht in Regressforderungen hineinzugeraten.

Die gute Nachricht des Tages ist, dass diese Hunderten, diese Tausenden, vielleicht Zehntausenden Entscheidungen immer zugunsten der Patientinnen und Patienten ausgehen. Darauf können Sie stolz sein. Aber wir wissen auch, dass es bei diesem System nicht bleiben kann, weil man die Frage der Morbiditätslast, der Krankheitslast einer Gesellschaft nicht auf die Ärzteschaft abwälzen kann, die am Ende sitzt – Herzchirurgen würden wahrscheinlich sagen: an der letzten Wiese –, um hier abzuverlangen, bei Patientinnen und Patienten zu Entscheidungen zu kommen, die sie durchaus mit versteckter Rationierung beschreibt. Das ist kein faires System, das wäre in der Tat unethisch.

(Beifall)

Soweit zum Befund. Bei der Diagnose würden wir uns vielleicht ein wenig streiten müssen. Die Forderung, weil man feststellt, es ist zu wenig Geld vorhanden, aus der versteckten Rationierung lieber eine vorgegebene Priorisierung zu machen, ist durchaus nachvollziehbar, wenn man sich mit denjenigen unterhält, die tagtäglich in der Behandlung aktiv sind.

Aber nun einmal weiter gedacht: Das würde bedeuten, Sie würden den Mangel gesetzgeberisch festschreiben, Sie würden Vorgaben machen, wann Sie was zu welcher Zeit machen dürfen und was nicht. So richtig viel mit Freiberuflichkeit hat das aus meiner Sicht nicht zu tun. Ich glaube auch nicht, dass man das bis zum letzten Ende durchdeklinieren kann und durchdeklinieren darf.

Es gibt manche Überlegungen, die kann man anstellen im Bereich der Marktwirtschaft – Sie wissen: Ich war früher einmal Wirtschaftsminister –, aber man kann sie eben nicht anstellen im Zusammenhang mit der Gesundheit. Sie können bei Autos von einem wirtschaftlichen Totalschaden sprechen, bei dem sich eine Reparatur nicht mehr lohnt. In der Gesundheitspolitik darf so etwas niemals der Fall sein.

Wir werden gemeinsam daran arbeiten – das ist mein Alternativvorschlag –, dass die eingesetzten Gelder – das ist nicht ganz wenig; das sind 170 Milliarden Euro nur in der gesetzlichen Krankenversicherung – durch ein besseres System – Stichworte: Eigenverantwortung und Solidarität – besser verwaltet werden, als das bisher der Fall ist. Jeder kennt irgendwo einen Bereich, wo das Geld offensichtlich nicht richtig bei den Patienten ankommt, sondern vielleicht sogar verschwendet wird.

Deswegen sage ich: Unethisch ist es vor allem, Verschwendung in diesem System zuzulassen. Aufgabe der Politik ist es, ein System auf den Weg zu bringen, das Verschwendung möglichst vermeidet und nicht in gesetzliche Formen und Ranglisten einordnet.

(Beifall)

Wenn wir dann feststellen, dass wir ein effizientes System haben, aber immer noch zu wenig Geld, wäre ich übrigens der Erste, der dann – aber auch erst dann; nicht zu früh freuen – für mehr Geld im System kämpfen würde. Wenn Sie es ernst meinen mit der Solidarität, dass die Gesunden den Kranken zu jeder Zeit helfen müssen, dann müssen Sie eben auch erkennen, dass Sie ein solches System haben, bei dem die Patienten immer die Gewissheit haben, dass sie gut behandelt werden, so wie sich das gehört. Gleichzeitig haben die Versicherten die Gewissheit, dass ihr Geld, das sie einbezahlen, so effizient verwaltet wird, dass es ihnen dann, wenn sie es für Leistungen, für Vorsorge und für Versorgung brauchen, auch zur Verfügung steht. Das ist die Grunddiskussion, die wir gemeinsam führen.

Sie brauchen also ein System, das die Eigenverantwortung fördert und ermöglicht durch weniger Bürokratie und Konzentration auf die Versicherten und Patienten.

Sie müssen sicherstellen, dass die Solidarität durch eine Verbreiterung der Einnahmenbasis ermöglicht wird. Sie müssen den Arztberuf wieder attraktiver machen, damit Sie wieder Freude haben, Ärztinnen und Ärzte zu sein.

Jetzt stellt man sich die Frage: Wie kann man so etwas machen? Es ist ja schon aufgefallen, dass der Posten eines Gesundheitsministers nicht vergnügungssteuerpflichtig ist, weil es durchaus immer wieder Wünsche, Anregungen und auch Kritik gibt. Ich glaube, Sie müssen bei den anstehenden Themen durchaus auch unangenehme Dinge miteinander diskutieren.

Ich würde Sie übrigens bitten, dass wir auch noch einmal über das Thema der Delegation miteinander sprechen, wenn es um das Bild des Arztes geht. Man muss ehrlich miteinander umgehen. Auch jetzt gibt es nicht nur versteckte Rationierung, sondern auch versteckte Delegation. Das geht übrigens auch zulasten der Ärztinnen und Ärzte, weil sie sich sonst in einer Grauzone bewegen, in der sie nicht mehr versichert sind, wo sie trotzdem aus Mangel an Personal und eigenen Kapazitäten Dinge abgeben. Deswegen bitte ich Sie einfach, mich bei dieser Frage der Delegation zu unterstützen.

Ich halte hier ausdrücklich fest: Anders als meine Vorgängerin im Amte haben wir nicht vor, über Substitution zu sprechen. Aber ich glaube, die Frage der Delegation muss man ansprechen, wenn es um die Versorgung geht, aber auch dann, wenn es um die Entlastung von Ärztinnen und Ärzten geht.

(Beifall)

Aber wie bringe ich unangenehme Botschaften an die Frau und an den Mann? Wenn Sie heiraten, dann fragt Sie Ihre Frau, die Braut: Schatz, bin ich zu dick? – Als Offizier und Gentleman sagen Sie: Nein, auf gar keinen Fall. – Dann fragt sie noch einmal: Bin ich wirklich nicht zu dick? – Dann antwortet man – man ist ja Politiker, man hat gelernt, konsequent zu sein –: Nein, wirklich gar nicht. – Dann holt sie die Keule heraus und sagt: Schatz, wir sind bald verheiratet, Eheleute müssen sich die Wahrheit sagen! – Als junger Bräutigam glaubt man das ja noch. Wenn Sie dann den entscheidenden Fehler machen und sagen: Schatz, hier hast du das eine oder andere Röllchen, dann sagt sie: Oh, du bist gemein!

Genauso ist es allzu häufig auch in der Politik. Viele erklären – Herr Tillich wird das bestätigen –: Ihr müsst jetzt sparen, ihr müsst jetzt kürzen, ihr müsst eure Haushalte konsolidieren. Wenn man dann Vorschläge macht, nimmt die Begeisterung gleich ab. Abgesehen davon, dass meine Frau definitiv nicht zu dick ist, stellt sich dann die Frage: Wie kriegen Sie solche Botschaften, wie kriegen Sie schwierige Reformen in Deutschland erfolgreich umgesetzt? Vielleicht ist es da ausnahmsweise einmal gut, dass Sie einen Gesundheitsminister haben, der Arzt ist. Zum ersten Mal ist ein Gesundheitsminister in Deutschland Arzt, was mich verwundert. Meine europäischen Kollegen sind größtenteils Ärzte. An Himmelfahrt treffe ich mich sogar mit dem saudi-arabischen Gesundheitsminister. Er ist nicht nur Minister, sondern er ist Arzt und auch Prinz.

(Heiterkeit)

Es kommt noch viel besser: Neulich hatten wir 85 Botschafter und Sozialreferenten bei uns zu Gast. Da habe ich mich auch auf dieses Treffen am Himmelfahrtstag gefreut. Daraufhin stand die Botschafterin aus Saudi-Arabien auf und sagte: Herr Rösler, unser Minister ist nicht nur Minister, Arzt und Prinz, sondern auch Chirurg.

(Heiterkeit)

So viel habe ich jetzt verstanden: Die Steigerung von Prinz ist Chirurg.

Nehmen Sie an, Sie sind Arzt und ein sehr dicker Mann kommt zu Ihnen. Jeder hat dazu seine eigenen Vorstellungen im Kopf. Dieser Mann fragt Sie: Herr Doktor, bin ich zu dick? – Dann haben Sie drei Möglichkeiten, Ihrem Patienten zu antworten. Die erste Möglichkeit ist die sogenannte Konfrontationstherapie. Sie sagen: Ja, du bist zu dick, du bist sogar zu fett; wenn du nicht sofort mit weniger essen und mehr Sport anfängst und das ein Leben lang durchhältst, wirst du erhebliche Probleme bekommen. – Ich garantiere Ihnen: Der Patient kommt nie wieder zu Ihnen zurück. Das ist wie bei einem Wähler, wie bei einem scheuen Reh: Ein Schuss verschreckt für immer.

Die zweite Möglichkeit ist: Sie lügen den Patienten konsequent an: Nein, du bist nicht zu dick, du musst dich nur anders sehen; dick ist schick, wir legen noch ein paar Kohlen drauf.

(Heiterkeit)

Ich sage jetzt nichts zur aktuellen Diskussion.

Die dritte Möglichkeit ist: Sie geben zumindest Hinweise auf klar erkannte Problemfälle: Ob du zu dick bist, weiß ich nicht genau, aber schau doch mal in den Spiegel, vielleicht bist du einfach nur zu klein für dein Gewicht.

(Heiterkeit)

Aber mache dir keine Sorgen, gemeinsam werden wir einen Diätplan aufstellen. Damit wirst du nicht schlagartig dein Idealgewicht erreichen, aber deine Lebensqualität kann sich schon deutlich bessern. Die Diät wird hart, schwer und manchmal auch unangenehm.

Wenn Sie ein guter Arzt sind – ich war keiner; deswegen bin ich Minister geworden –, dann vertraut Ihnen Ihr Patient und ist auch bereit, schwierige Diäten – sprich: Reformen – mit Ihnen schrittweise umzusetzen. Anders wird es in Deutschland nicht funktionieren können. Sie brauchen nur das Vertrauen.

Ich weiß, dass viele ärztliche Kollegen in den letzten Monaten – ich will nicht sagen enttäuscht, doch aber sehr ungeduldig gewesen sind. Seien Sie versichert: Mindestens seit Sonntag wissen wir, dass man Menschen enttäuschen kann, indem man nach der Wahl nicht das macht, was man vor der Wahl versprochen hat.

(Beifall)

Diesen Fehler haben wir nicht gemacht. Sie können Menschen aber auch enttäuschen, indem Sie manchmal gar nichts machen und die in Sie gesetzten Erwartungen schlichtweg nicht erfüllen.

Das heißt, dass die Notwendigkeit zur Reform nicht nur erkannt ist, sondern langsam auch ihre Früchte tragen muss. Nur weil Sie nicht ständig etwas von uns gehört haben, von Ergebnissen, von Plänen, von Gesetzesvorhaben, bedeutet das nicht, dass wir keine haben. Selbstverständlich muss man die Dinge vorbereiten und zum richtigen Zeitpunkt auch herausholen

Ich finde, Sie haben lange genug gewartet auf eine vernünftige Gesundheitsreform, auf ein vernünftiges System. Lange Wege fangen mit dem ersten Schritt an. Deswegen lohnt es sich, auch den ersten Schritt schnellstmöglich zu tun.

Die gute Nachricht ist ja: Im deutschen Gesundheitswesen gibt es viele Interessengruppen. Es gibt keine Entscheidung, bei der Sie nicht kritisiert werden. Aber das gibt Ihnen am Ende auch die innere Freiheit, gar nicht erst den Versuch zu machen, irgendwelchen Kritikern hinterherzulaufen, sondern einfach einmal das zu tun, was richtig ist. Das ist in der Politik auch nicht so ganz schlecht.

Seien Sie versichert: Genau das wollen wir tun, ein System auf den Weg bringen, das auf Eigenverantwortung setzt, Bürokratie vermeidet, Solidarität ermöglicht und den Arztberuf endlich wieder attraktiv gestaltet, weil wir anerkennen, dass die freiberufliche Tätigkeit nicht im Interesse einer Standesorganisation ist, sondern im Interesse von Patientinnen und Patienten.

Man muss ja immer mit irgendwelchen Sprichwörtern schließen. Ich nehme gerne asiatische, denn erstens kann keiner die Quelle ausfindig machen, zweitens wirken sie bei mir sehr authentisch. Es heißt ja: Der Bambus wiegt sich im Wind, wiegt sich im Sturm, aber er bricht nicht, nie.

Das vielleicht als Hinweis für die nächsten Tage und Wochen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Lebhafter Beifall)

© Bundesärztekammer 2010