Prof. Dr. Selbmann,
Referent: Sehr geehrte Frau Vizepräsidentin! Hohes Präsidium! Sehr verehrte
Damen und Herren! Es ist mir eine besondere Freude, hier zu sein, weil ich ein
bisschen auch die AWMF mit vertrete. Ich bin Präsidiumsmitglied der AWMF. Die
AWMF hat 156 medizinisch-wissenschaftliche Fachgesellschaften. Damit ist fast
jeder von Ihnen auch Mitglied in der AWMF, wenn Sie nur in einer der gängigen
Fachgesellschaften Mitglied sind. So gesehen spreche ich innerhalb der AWMF zu
Ihnen.
Ich habe mir die Behandlung des
Themas, das ja ein bisschen weiter gespannt ist als nur die Förderung der
Versorgungsforschung der Bundesärztekammer, so vorgestellt: Um zum Glanz und zu
den Grenzen ärztlicher Behandlungsleitlinien zu kommen, muss man ein bisschen
über die Details Bescheid wissen. Ich möchte Ihnen am Anfang kurz darstellen,
wie diese Leitlinien entstehen und dass Leitlinie nicht gleich Leitlinie ist.
Dann möchte ich zu einem der wichtigsten Punkte kommen, nämlich zur
Implementierung der Leitlinien. Was nützt eine exzellente Leitlinie, wenn sie
überhaupt nicht eingesetzt wird, also sozusagen l’art pour l’art ist? Zum
Schluss möchte ich Ihnen als Resümee der Ausführungen über den Glanz und die
Grenzen berichten.
Der Sachverständigenrat für die
Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen hat 1994 ausgeführt:
Leitlinien und Standards sind
Instrumente, um vorhandene Defizite und Verschwendungen abzubauen.
Mir hat dabei etwas gefehlt,
nämlich: Leitlinien und Standards sind Instrumente, um die Versorgung für
Patienten, Leistungserbringer und das Gesundheitssystem sicherzustellen und zu
verbessern. Das ist im Wesentlichen das Hauptziel der Aktivitäten der AWMF.
Es ist mir ganz wichtig, dass wir
unter dem Begriff „Leitlinie“ das Gleiche verstehen. Leitlinien sind
Entscheidungshilfen für Ärzte und Patienten in einer bestimmten
Entscheidungssituation. Es sind keine Richtlinien. Richtlinien haben einen
Richter, der sagt: Das ist richtig bzw. das ist falsch; dafür gibt es eine
Belohnung bzw. Sanktionen. Das ist bei Leitlinien nicht der Fall. Eine
Leitlinie ist gedacht als Entscheidungshilfe für die eigene
Entscheidungssituation und Arzt und Patient haben unterschiedliche
Vorstellungen. Beide versuchen natürlich, von außen her externes Wissen
heranzuziehen: Was hat man gelernt? Was ist irgendwo publiziert worden?
Da man ja nicht alle Studien lesen
kann, die in unzähligen medizinisch-wissenschaftlichen Fachzeitschriften
erscheinen, braucht man jemanden, der das Wissen vorsortiert und auf das
abstrahiert, was man im Alltag braucht. Das externe Wissen muss in die
Entscheidung einfließen.
Alles vollzieht sich natürlich in
einem vorgegebenen ethisch-sozialen und ökonomischen Rahmen. Darüber will ich
jetzt gar nicht reden.
Damit Sie sehen, dass eine
Leitlinie kein Korridor ist, wie man ja oft lesen kann, bei dem man entscheiden
darf, sich mal auf die linke, mal auf die rechte Seite fallen zu lassen, sehen
Sie hier einen Ausschnitt aus der Leitlinie zur Prophylaxe der venösen Thromboembolie,
die im September letzten Jahres erschienen ist und im Internet mittlerweile
unglaublich oft abgerufen wird. Sie sehen zunächst einmal als Symbole zwei Pfeile
nach oben, einen Pfeil nach oben oder ein querliegendes Pfeilpaar. Zwei Pfeile
nach oben bedeuten, dass es sich um eine starke Empfehlung handelt. Bei
Patienten mit mittlerem und hohem Thromboserisiko soll eine medikamentöse
VTE-Prophylaxe durchgeführt werden. Für Patienten mit niedrigem VTE-Risiko
sollten Basismaßnahmen regelmäßig angewendet werden. Eine optionale Empfehlung
lautet: Die Basismaßnahmen können durch medizinische Thromboseprophylaxestrümpfe
ergänzt werden. Sie sehen: Die Leitlinie ist an manchen Stellen ganz eng,
nämlich dort, wo es „soll“ heißt, aber an anderen Stellen auch ganz breit, wo
es „kann“ heißt, wo man angesichts des individuellen Behandlungsfalles
entscheiden muss: angebracht oder nicht angebracht.
Sie können schon daran erkennen,
dass die Leitlinie gar keine Richtlinie sein kann, denn sie hat solche weiten
Bereiche, in denen die Therapiefreiheit voll zum Zuge kommt.
Mittlerweile haben wir das Problem,
dass solche Leitlinien der Fachgesellschaften auch juristisch eingesetzt werden.
Ziemlich maßgebend ist ein Urteil des Bundesgerichtshofs von 2008, in dem es
heißt:
Leitlinien … können … nicht
unbesehen mit dem zur Beurteilung eines Behandlungsfehlers gebotenen
medizinischen Sachverstand gleichgesetzt werden.
Der Gutachter muss sagen, dass die
Leitlinie in diesem Teil der Entscheidungsempfehlung eingesetzt werden müsste.
Er muss auch sagen, ob die Leitlinie noch auf dem neuesten Stand ist. Es reicht
nach meiner Information nicht aus, dass man sagt: Das ist nicht
leitlinienkonform, also liegt eine schlechte Qualität vor. Man kann von den
Leitlinien abweichen. Wenn man abweicht, muss man zum einen zeigen können, dass
man sie gekannt hat, zweitens muss man begründen können, warum man abgewichen
ist. Dann ist die Leitlinie auch in trockenen Tüchern.
Was macht eine gute Leitlinie aus?
Es gibt Leitlinien, bei denen sich ein paar Kolleginnen und Kollegen
zusammengesetzt und gesagt haben: Lasst uns einmal niederschreiben, wie wir
Patienten in einer bestimmten Situation behandeln. Es gibt auch die hohe Schule
der Leitlinien; das sind die sogenannten S3-Leitlinien, auf die ich noch zu
sprechen kommen werde.
Damit komme ich zu der Frage: Was
macht eine gute Leitlinie aus? Die vier wichtigsten Eigenschaften einer guten
Leitlinie sind: eine repräsentative Entwicklergruppe, eine systematische Evidenzbasierung,
die klinische Bewertung und eine strukturierte Konsensfindung. Aus diesen vier
Punkten ergibt sich die Klassifikation von Leitlinien. Die höchste
Klassifikation ist S3. Hier ist das Gremium repräsentativ. In ihm sitzen
übrigens nicht nur die Experten, sondern auch Patienten und Anwender der
Leitlinie. Das ist ein ganz wichtiger Gesichtspunkt. S3-Leitlinien weisen eine
systematische Evidenzbasierung und eine strukturierte Konsensfindung auf. S1-Leitlinien
sind Handlungsempfehlungen eines nicht repräsentativen Gremiums. Hier hat man
nicht systematisch die Literatur gesichtet. Unter Umständen hat auch keine
strukturierte Konsensfindung stattgefunden. Das, was auf einem Deutschen
Ärztetag geschieht, wäre nach unserer Definition eine strukturierte
Konsensfindung.
Die AWMF hat ein Leitlinienregister
erstellt mit über 750 Leitlinien. 200 gehören zur großen Klasse der S2- und
S3-Leitlinien. Im Laufe der Jahre ist diese Klasse der guten Leitlinien immer größer
geworden.
Darüber hinaus gibt es ein
AWMF-Anmelderegister. Man sagt uns: Wir möchten gern diese oder jene Leitlinie
erstellen, lasst uns dabei sein. Zurzeit gibt es 242 Anmeldungen, also
Projektgruppen, die Leitlinien entwickeln. Wenn man pro Leitliniengruppe zehn
Mitglieder veranschlagt, kommt man spielend auf 2 500 Kolleginnen und
Kollegen, die in Gruppen Leitlinien entwickeln. Das finde ich eine unglaublich
große Zahl, insbesondere wenn man bedenkt, dass diese Leitlinienentwicklung
ehrenamtlich erfolgt.
Ich glaube, auf diese Aktivitäten
kann die deutsche Ärzteschaft durchaus stolz sein.
(Beifall)
Hier wird richtig hart gearbeitet.
Ich werde Ihnen nachher auch zeigen, was man davon haben kann.
Es gibt sechs Nationale
Versorgungsleitlinien, die einen Krankheitsfall von der Prävention bis zur
Rehabilitation abdecken. Federführend bei dieser Arbeit ist das ÄZQ, beteiligt
sind die AWMF, die Bundesärztekammer und die Kassenärztliche Bundesvereinigung.
Sie finanzieren hier auch.
Der zweite große Schwerpunkt, den
es seit etwa zwei Jahren gibt, ist das Leitlinienprogramm Onkologie. Es wird
finanziert von der Deutschen Krebshilfe in Kooperation mit der Deutschen
Krebsgesellschaft und der AWMF. Man entwickelt nach und nach für die einzelnen
Tumorentitäten Leitlinien.
Ich glaube, ich brauche Ihnen nicht
zu sagen, dass an der Erarbeitung gerade des Leitlinienprogramms Onkologie und
der Nationalen Versorgungsleitlinien 30 bis
35 Organisationen und Fachgesellschaften beteiligt sind. Die Arbeit dauert
zugegebenermaßen etwas länger und kostet auch Geld. Die Erstellung der
onkologischen Leitlinien dauert etwa zwei Jahre. Die Kosten liegen in der
Größenordnung von etwa 200 000 Euro.
Ein ganz wichtiger Gesichtspunkt
ist natürlich die Qualität der Leitlinien. Zur Bewertung der methodischen
Leitlinienqualität gibt es ein bestimmtes Instrument, auf das ich jetzt nicht
näher eingehen möchte. Ein Punkt innerhalb der Bewertungsskala ist die
redaktionelle Unabhängigkeit. Es ist klar, dass die Leitlinien neutral sein
müssen und unabhängig entwickelt sein müssen. Nun gibt es aber keine
unabhängigen Experten. Ich würde mich auch nicht als unabhängig betrachten. Wir
sagen: Wenn jemand eine Abhängigkeit in Richtung Industrie aufweist, sollte er
möglichst nicht an der Entwicklung der Leitlinien beteiligt werden. Ist die
Abhängigkeit nur gering, müssen wir dafür sorgen, dass sich viele kleine
Unabhängigkeiten gegenseitig im Diskurs eliminieren.
Der amerikanische
Generalbundesanwalt hat in Zusammenhang mit einer Leitlinie zur Borreliose große
wirtschaftliche Interessenkonflikte und eine Unterdrückung vorhandener
wissenschaftlicher Evidenz festgestellt. Wir erleben mittlerweile in
Deutschland ebenfalls diese Nachfrage: Wie unabhängig waren denn die Verfasser?
Warum hat man unser Präparat, unser Medikament, unser Medizinprodukt abgelehnt?
Gerade dieses Thema der Unabhängigkeit wird sozusagen ein Kampfplatz werden.
Ich möchte mich nunmehr dem Thema
der Implementierung zuwenden. Das ist im Leben einer Leitlinie die Phase IV.
Zunächst planen wir die Leitlinie, dann wird sie entwickelt, dann geht es um
die Redaktion und die Verbreitung der Leitlinie. Es ist ja nicht damit getan,
dass die Leitlinie irgendwo im Internet steht, sondern sie muss auch in die
Ausbildung hineingebracht werden. Die Medizinstudenten müssen die
entsprechenden Leitlinien, die den gegenwärtigen Stand des Wissens
widerspiegeln, kennen. Sie müssen auch wissen, wie man mit diesen Leitlinien
umgeht. Man kann nicht sagen: Ich folge ja der Leitlinie, also ist alles in
Ordnung. Die Leitlinien sind nur Entscheidungshilfen.
Ich möchte darauf hinweisen, dass
es seit dem vergangenen Jahr die Arztbibliothek gibt. Das ist ein Service der
Kassenärztlichen Bundesvereinigung in Zusammenarbeit mit der Bundesärztekammer.
Dort können Sie nach Leitlinien zu bestimmten Themen suchen. Im Prinzip ist der
Weg zur Verbreitung schon über die Arztbibliothek, gemanagt vom ÄZQ,
vorbereitet. Das reicht aber sicher noch längst nicht aus.
Ich kehre zurück zur
Implementierung. Die Leitlinie Schenkelhalsfraktur aus dem Jahr 2008 besagt,
dass Patienten mit einer Schenkelhalsfraktur so schnell wie möglich innerhalb
von 24 Stunden operiert werden sollten, wenn der Allgemeinzustand des Patienten
dies zulässt. Andere Empfehlungen sprechen von 48 Stunden. Ich zeige Ihnen hier
die Daten der BQS für ganz Deutschland. Sie sehen, wie langsam der Indikator
erfüllt wird. Es ist nicht so, dass alle ihr Verhalten ändern, wenn die
Leitlinie auf den Markt kommt. Die Veränderungen ergeben sich nur langsam.
Dafür gibt es natürlich auch Gründe. Beispielsweise solche struktureller Art,
beispielsweise im Zusammenhang mit der Frage: Wie schnell sind wir am
Wochenende?
Wenn eine Leitlinie existiert,
müssen wir schauen: Schlägt sie an in der Praxis? Ist die Leitlinie vielleicht
gar nicht richtig? Vielleicht muss sie ja modifiziert werden?
Derartige Probleme haben andere
Länder ebenfalls. Ich nenne als Beispiel die Extraktion von Weisheitszähnen in
England und Schottland. Als die Leitlinie auf den Markt kam, hatten die
Zahnärzte bereits damit begonnen, die Weisheitszähne nicht mehr zu extrahieren.
Insofern hat die Leitlinie gar keine Veränderung bewirkt.
Ein weiteres Beispiel dafür, dass
Leitlinien Veränderungen beschleunigen, ist die Einführung der Taxane bei
verschiedenen Tumorarten. In England kamen sie verhältnismäßig schnell auf den
Markt. Sie können der Grafik entnehmen, wie schnell es dort umgesetzt wurde. So
etwas würden wir gern auch in Deutschland beobachten.
Es gibt eine Reihe von Theorien zur
Unterstützung der Umsetzung bzw. Gründe für das Nichtumsetzen von Leitlinien.
Ich nenne beispielhaft die kognitive Theorie: Ich habe den Patienten anders
behandelt, als es die Leitlinie vorsieht, dem Patienten ist dies gut bekommen,
warum soll ich mich nach der Leitlinie richten? Ich nenne ferner die
Organisationstheorie: Die Organisation gibt die Umsetzung der Leitlinie nicht
her.
Untersuchungen der
Bundesärztekammer zur Evaluation von Leitlinien haben ergeben, dass diejenigen
Ärzte, die die Leitlinien kennen, die Patienten nicht anders behandeln als
diejenigen Ärzte, die die Leitlinien nicht kennen. Wenn man nachfragt, erhält
man die Gegenfrage: Wo sind die Anreize? Das kostet mich doch Geld. Ich meine,
wenn das Geld nicht stimmt, liegt ein Strukturmangel vor. Das muss man ins Auge
fassen und entsprechend agieren oder sagen: Ich kann es nicht ändern.
Es gibt mittlerweile eine Reihe von
Theorien, wie Leitlinien umzusetzen sind. Eine Reihe von Projekten unserer
Versorgungsforschung hat sich mit dieser Frage beschäftigt. Es reicht nicht
aus, dass man die Leitlinien publiziert oder frontale Vorträge hält. Es muss
sich schon um eine interaktive Fortbildung handeln. Es müssen Erinnerungshilfen
gegeben werden. Wir haben beispielsweise ein Projekt gefördert, das den Computer
bei der Therapie chronischen Vorhofflimmerns dazu benutzt, sozusagen
Hilfestellung zur Implementierung der Leitlinie zu geben. Ich muss sagen:
Richtig erfolgreich war diese elektronische Realisierung noch nicht. Das liegt
aber auch an der IT-Technik in der Praxis, die noch nicht optimal war.
Zur Erreichung einer dauerhaften
Umsetzung von Leitlinien ist die interaktive Fortbildung generell effektiv,
also keine frontale Fortbildung, sondern in Qualitätszirkeln, in Netzzirkeln,
bei denen man vielleicht auch die Medizinischen Fachangestellten mit
einbezieht. Wir haben gesehen: Überall dort, wo die Kommunikation gut
funktioniert, ist die Leitlinienkonformität sehr viel höher als dort, wo diese
Kommunikation keine Rolle spielt.
Insgesamt muss man sagen: Allein
dadurch, dass wir ständig darüber reden, und zwar sowohl im Krankenhaus als
auch in der ambulanten Versorgung, wird die Qualität ständig besser.
Wir erhalten ständig zusätzliche
medizinorientierte Zertifikate. Die Zertifikate der Deutschen Krebsgesellschaft
legen großen Wert darauf, dass eine leitliniengetreue Behandlung erfolgt. Dort
schaut man also nach, ob die Leitlinien befolgt werden.
Sie ersehen aus der folgenden
Grafik die Reduktion der Schmerzintensität durch Leitlinie und Zertifizierung.
Hier hat sich die Qualität der Behandlung verbessert. Dies ist ja auch unser
gemeinsames Ziel. Leitlinien sind also Instrumente, die man verwenden kann, um
die Qualität der Versorgung zu verbessern.
Ich komme zum Schluss. Ich hoffe,
dass Sie schon erkannt haben, wo die Grenzen von Leitlinien sind. Allerdings
muss man hinzufügen: Es sind die derzeitigen Grenzen. Gegen viele dieser
Grenzen kann man etwas tun. Als ersten Punkt möchte ich die Gewährleistung der
Unabhängigkeit von Finanziers und anderen nennen. Das wurde hier bereits
diskutiert. Derjenige, der zahlt, würde gern mitreden, wie die Leitlinien
anschließend aussehen. Das darf natürlich nicht sein. Eine neutrale
Finanzierung ist notwendig.
Die Erstellung von Leitlinien ist
ressourcenabhängig. Ich habe Ihnen vorhin die Zahlen genannt: zwei Jahre bei
den großen Leitlinien, Kosten: 200 000 Euro.
Schwierigkeiten macht die
erforderliche breite Akzeptanz. Wenn Sie 35 Fachgesellschaften, Berufsverbände,
Patientenvertreter, Heilhilfsberufe haben, ist es oft sehr langwierig, zu einer
Akzeptanz zu gelangen. Manche verlieren dabei die Geduld.
Natürlich müssen die Leitlinien
aktuell gehalten werden. Sie dürfen kein Schnee von gestern sein. Die
Leitlinien haben ein Verfallsdatum. Bis zu diesem Datum muss geprüft sein, ob die
Leitlinie renovierungsbedürftig ist oder nicht.
Eine offene Priorisierung von
Werten ist notwendig. Das beginnt mit der Frage: Wo messe ich die gute
Qualität, an welchen Indikatoren?
Ich komme zur Verbreitung und
Implementierung von Leitlinien. Wir sind schon der Meinung, dass in der
Ausbildung gelehrt werden soll, dass Leitlinien existieren, worauf es bei ihnen
ankommt und wie man mit ihnen umgeht. Leitlinien sind nur Entscheidungshilfen
für den Arzt.
Über eine Reihe von psychologischen
und wirtschaftlichen Barrieren haben wir bereits gesprochen. Es muss ferner
untersucht werden, ab wann man sich einfacher tut, Leitlinien umzusetzen.
Der Zugang zu den Leitlinien müsste
verbessert werden. Die Arztbibliothek ist ein erster Ansatz. Die Anreize für
die Anwendung von Leitlinien sind auch nicht so stimmig.
Man muss auch den Umgang mit
Leitlinien lernen. Die Anpassung der generellen Empfehlungen an individuelle
Entscheidungssituationen ist eine ärztliche Aufgabe. Wir haben leider viel zu wenig
Leitlinien, die die Multimorbidität berücksichtigen. Es ist aber nicht so, dass
man sagen kann: Man hat einen multimorbiden Patienten, für den sieben
verschiedene Leitlinien gelten, also muss man ihm 14 verschiedene Arzneimittel
verschreiben. So geht es nicht, wenn die Leitlinie richtig verstanden wird,
nämlich für den Patienten die richtige Entscheidung angesichts seiner
individuellen Situation zu finden.
Wir sehen bei den Leitlinien
durchaus das Problem, dass irgendjemand erklärt: Eure Leitlinie ist so schön,
die mache ich jetzt zur Pflicht, ich schließe sogar entsprechende
Versorgungsverträge ab.
Erwähnen möchte ich auch noch, dass
die Leitlinien gerichtsfest sein müssen.
Jetzt komme ich zum Glanz von
Leitlinien. Ich denke, es ist höchste Zeit, dass eine Arbeitsteilung bei der
systematischen Aufbereitung des Wissens und der Erfahrungen erfolgt. Jemand hat
einmal ausgerechnet: Ein Internist müsste 17 Arbeiten pro Tag lesen, um die
aktuell erscheinenden internistischen Arbeiten zu kennen. Wer kann das? Dann
hat man ja keine Zeit mehr für den Patienten.
Unglaublich beeindruckend ist das
freiwillige Engagement der Vertreter von Fachgebieten, Berufsgruppen und
Patienten. Zum Teil erleben wir, dass Fächer, die jahrelang nicht miteinander
geredet haben, jetzt beginnen, miteinander darüber zu diskutieren, wie der
Patient optimal versorgt werden kann.
Wichtig ist der Abbau von
Fächeregoismen. Wir erkennen, wo die Medizin gar nichts weiß. Zu etwa 20 bis 30
Prozent dessen, was Sie im Alltag tun, gibt es gute Studien. Beim großen Teil der
Medizin gibt es diese exzellenten Studien nicht.
Die Leitlinien bieten Unterstützung
bei der partizipativen Entscheidungsfindung. Es gibt Leitlinien für die großen
Volkskrankheiten.
Schließlich nenne ich das große
Potenzial für die Sicherstellung und die Verbesserung der Versorgungsqualität.
Ich glaube, es gibt einen großen
Glanz von Leitlinien. Aber durch die Grenzen, die wir zurzeit haben, wird er
sehr schnell infrage gestellt.
Lassen Sie mich mit einem Foto
schließen: Die Skyline von Tübingen – ich komme aus Tübingen – spiegelt sich im
Neckar. Darunter sehen Sie den Hölderlinturm. Dort hat Hölderlin 34 Jahre
seines Lebens in geistiger Umnachtung verbracht.
Ich möchte Ihnen herzlichen Dank
sagen für die Förderung der Versorgungsforschung. Sie haben die
Leitlinienentwicklung in Deutschland gewaltig vorangebracht.
Schließlich möchte ich mich bei
Ihnen fürs Zuhören bedanken.
(Beifall)
Vizepräsidentin Dr. Goesmann:
Wir danken Ihnen, Herr Professor Selbmann. In unserem Programm haben wir
festzustellen versucht, wie man die Leitlinien am besten implementiert und was
in der Praxis geschieht, wo wir ja viel Leid mit den Leitlinien haben, wenn sie
implementiert sind. Die Frage ist: Verbessern sie tatsächlich die Versorgung
der Bevölkerung oder nicht? Wir haben zum Teil überraschende Ergebnisse
erhalten. Es lohnt sich, liebe Kolleginnen und Kollegen, nachzulesen, welche
neuen Informationen wir gewinnen konnten.
Ihnen, Herr Professor Selbmann,
noch einmal herzlichen Dank für Ihre Darstellung.
Wir fahren fort mit dem Referat von
Herrn Professor Mansky. Ursprünglich sollte Frau Professor Kurth,
Mitherausgeberin unserer Reportbände zur Versorgungsforschung, referieren. Aus
persönlichen Gründen hat sie leider abgesagt. Wir freuen uns, dass wir sehr
kurzfristig Herrn Professor Mansky gewinnen konnten. Er ist an der Technischen
Universität Berlin im Bereich Strukturentwicklung und Qualitätsmanagement im
Gesundheitswesen tätig. Er spricht heute zu uns über das Thema „Zugang zu
Routinedaten für die Versorgungsforschung“. Bitte sehr.
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