TOP II: Versorgungsforschung

Mittwoch, 12. Mai 2010, Nachmittagssitzung

Prof. Dr. SelbmannProf. Dr. Selbmann, Referent: Sehr geehrte Frau Vizepräsidentin! Hohes Präsidium! Sehr verehrte Damen und Herren! Es ist mir eine besondere Freude, hier zu sein, weil ich ein bisschen auch die AWMF mit vertrete. Ich bin Präsidiumsmitglied der AWMF. Die AWMF hat 156 medizinisch-wissenschaftliche Fachgesellschaften. Damit ist fast jeder von Ihnen auch Mitglied in der AWMF, wenn Sie nur in einer der gängigen Fachgesellschaften Mitglied sind. So gesehen spreche ich innerhalb der AWMF zu Ihnen.

Ich habe mir die Behandlung des Themas, das ja ein bisschen weiter gespannt ist als nur die Förderung der Versorgungsforschung der Bundesärztekammer, so vorgestellt: Um zum Glanz und zu den Grenzen ärztlicher Behandlungsleitlinien zu kommen, muss man ein bisschen über die Details Bescheid wissen. Ich möchte Ihnen am Anfang kurz darstellen, wie diese Leitlinien entstehen und dass Leitlinie nicht gleich Leitlinie ist. Dann möchte ich zu einem der wichtigsten Punkte kommen, nämlich zur Implementierung der Leitlinien. Was nützt eine exzellente Leitlinie, wenn sie überhaupt nicht eingesetzt wird, also sozusagen l’art pour l’art ist? Zum Schluss möchte ich Ihnen als Resümee der Ausführungen über den Glanz und die Grenzen berichten.

Der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen hat 1994 ausgeführt:

Leitlinien und Standards sind Instrumente, um vorhandene Defizite und Verschwendungen abzubauen.

Mir hat dabei etwas gefehlt, nämlich: Leitlinien und Standards sind Instrumente, um die Versorgung für Patienten, Leistungserbringer und das Gesundheitssystem sicherzustellen und zu verbessern. Das ist im Wesentlichen das Hauptziel der Aktivitäten der AWMF.

Es ist mir ganz wichtig, dass wir unter dem Begriff „Leitlinie“ das Gleiche verstehen. Leitlinien sind Entscheidungshilfen für Ärzte und Patienten in einer bestimmten Entscheidungssituation. Es sind keine Richtlinien. Richtlinien haben einen Richter, der sagt: Das ist richtig bzw. das ist falsch; dafür gibt es eine Belohnung bzw. Sanktionen. Das ist bei Leitlinien nicht der Fall. Eine Leitlinie ist gedacht als Entscheidungshilfe für die eigene Entscheidungssituation und Arzt und Patient haben unterschiedliche Vorstellungen. Beide versuchen natürlich, von außen her externes Wissen heranzuziehen: Was hat man gelernt? Was ist irgendwo publiziert worden?

Da man ja nicht alle Studien lesen kann, die in unzähligen medizinisch-wissenschaftlichen Fachzeitschriften erscheinen, braucht man jemanden, der das Wissen vorsortiert und auf das abstrahiert, was man im Alltag braucht. Das externe Wissen muss in die Entscheidung einfließen.

Alles vollzieht sich natürlich in einem vorgegebenen ethisch-sozialen und ökonomischen Rahmen. Darüber will ich jetzt gar nicht reden.

Damit Sie sehen, dass eine Leitlinie kein Korridor ist, wie man ja oft lesen kann, bei dem man entscheiden darf, sich mal auf die linke, mal auf die rechte Seite fallen zu lassen, sehen Sie hier einen Ausschnitt aus der Leitlinie zur Prophylaxe der venösen Thromboembolie, die im September letzten Jahres erschienen ist und im Internet mittlerweile unglaublich oft abgerufen wird. Sie sehen zunächst einmal als Symbole zwei Pfeile nach oben, einen Pfeil nach oben oder ein querliegendes Pfeilpaar. Zwei Pfeile nach oben bedeuten, dass es sich um eine starke Empfehlung handelt. Bei Patienten mit mittlerem und hohem Thromboserisiko soll eine medikamentöse VTE-Prophylaxe durchgeführt werden. Für Patienten mit niedrigem VTE-Risiko sollten Basismaßnahmen regelmäßig angewendet werden. Eine optionale Empfehlung lautet: Die Basismaßnahmen können durch medizinische Thromboseprophylaxestrümpfe ergänzt werden. Sie sehen: Die Leitlinie ist an manchen Stellen ganz eng, nämlich dort, wo es „soll“ heißt, aber an anderen Stellen auch ganz breit, wo es „kann“ heißt, wo man angesichts des individuellen Behandlungsfalles entscheiden muss: angebracht oder nicht angebracht.

Sie können schon daran erkennen, dass die Leitlinie gar keine Richtlinie sein kann, denn sie hat solche weiten Bereiche, in denen die Therapiefreiheit voll zum Zuge kommt.

Mittlerweile haben wir das Problem, dass solche Leitlinien der Fachgesellschaften auch juristisch eingesetzt werden. Ziemlich maßgebend ist ein Urteil des Bundesgerichtshofs von 2008, in dem es heißt:

Leitlinien … können … nicht unbesehen mit dem zur Beurteilung eines Behandlungsfehlers gebotenen medizinischen Sachverstand gleichgesetzt werden.

Der Gutachter muss sagen, dass die Leitlinie in diesem Teil der Entscheidungsempfehlung eingesetzt werden müsste. Er muss auch sagen, ob die Leitlinie noch auf dem neuesten Stand ist. Es reicht nach meiner Information nicht aus, dass man sagt: Das ist nicht leitlinienkonform, also liegt eine schlechte Qualität vor. Man kann von den Leitlinien abweichen. Wenn man abweicht, muss man zum einen zeigen können, dass man sie gekannt hat, zweitens muss man begründen können, warum man abgewichen ist. Dann ist die Leitlinie auch in trockenen Tüchern.

Was macht eine gute Leitlinie aus? Es gibt Leitlinien, bei denen sich ein paar Kolleginnen und Kollegen zusammengesetzt und gesagt haben: Lasst uns einmal niederschreiben, wie wir Patienten in einer bestimmten Situation behandeln. Es gibt auch die hohe Schule der Leitlinien; das sind die sogenannten S3-Leitlinien, auf die ich noch zu sprechen kommen werde.

Damit komme ich zu der Frage: Was macht eine gute Leitlinie aus? Die vier wichtigsten Eigenschaften einer guten Leitlinie sind: eine repräsentative Entwicklergruppe, eine systematische Evidenzbasierung, die klinische Bewertung und eine strukturierte Konsensfindung. Aus diesen vier Punkten ergibt sich die Klassifikation von Leitlinien. Die höchste Klassifikation ist S3. Hier ist das Gremium repräsentativ. In ihm sitzen übrigens nicht nur die Experten, sondern auch Patienten und Anwender der Leitlinie. Das ist ein ganz wichtiger Gesichtspunkt. S3-Leitlinien weisen eine systematische Evidenzbasierung und eine strukturierte Konsensfindung auf. S1-Leitlinien sind Handlungsempfehlungen eines nicht repräsentativen Gremiums. Hier hat man nicht systematisch die Literatur gesichtet. Unter Umständen hat auch keine strukturierte Konsensfindung stattgefunden. Das, was auf einem Deutschen Ärztetag geschieht, wäre nach unserer Definition eine strukturierte Konsensfindung.

Die AWMF hat ein Leitlinienregister erstellt mit über 750 Leitlinien. 200 gehören zur großen Klasse der S2- und S3-Leitlinien. Im Laufe der Jahre ist diese Klasse der guten Leitlinien immer größer geworden.

Darüber hinaus gibt es ein AWMF-Anmelderegister. Man sagt uns: Wir möchten gern diese oder jene Leitlinie erstellen, lasst uns dabei sein. Zurzeit gibt es 242 Anmeldungen, also Projektgruppen, die Leitlinien entwickeln. Wenn man pro Leitliniengruppe zehn Mitglieder veranschlagt, kommt man spielend auf 2 500 Kolleginnen und Kollegen, die in Gruppen Leitlinien entwickeln. Das finde ich eine unglaublich große Zahl, insbesondere wenn man bedenkt, dass diese Leitlinienentwicklung ehrenamtlich erfolgt.

Ich glaube, auf diese Aktivitäten kann die deutsche Ärzteschaft durchaus stolz sein.

(Beifall)

Hier wird richtig hart gearbeitet. Ich werde Ihnen nachher auch zeigen, was man davon haben kann.

Es gibt sechs Nationale Versorgungsleitlinien, die einen Krankheitsfall von der Prävention bis zur Rehabilitation abdecken. Federführend bei dieser Arbeit ist das ÄZQ, beteiligt sind die AWMF, die Bundesärztekammer und die Kassenärztliche Bundesvereinigung. Sie finanzieren hier auch.

Der zweite große Schwerpunkt, den es seit etwa zwei Jahren gibt, ist das Leitlinienprogramm Onkologie. Es wird finanziert von der Deutschen Krebshilfe in Kooperation mit der Deutschen Krebsgesellschaft und der AWMF. Man entwickelt nach und nach für die einzelnen Tumorentitäten Leitlinien.

Ich glaube, ich brauche Ihnen nicht zu sagen, dass an der Erarbeitung gerade des Leitlinienprogramms Onkologie und der Nationalen Versorgungsleitlinien 30 bis
35 Organisationen und Fachgesellschaften beteiligt sind. Die Arbeit dauert zugegebenermaßen etwas länger und kostet auch Geld. Die Erstellung der onkologischen Leitlinien dauert etwa zwei Jahre. Die Kosten liegen in der Größenordnung von etwa 200 000 Euro.

Ein ganz wichtiger Gesichtspunkt ist natürlich die Qualität der Leitlinien. Zur Bewertung der methodischen Leitlinienqualität gibt es ein bestimmtes Instrument, auf das ich jetzt nicht näher eingehen möchte. Ein Punkt innerhalb der Bewertungsskala ist die redaktionelle Unabhängigkeit. Es ist klar, dass die Leitlinien neutral sein müssen und unabhängig entwickelt sein müssen. Nun gibt es aber keine unabhängigen Experten. Ich würde mich auch nicht als unabhängig betrachten. Wir sagen: Wenn jemand eine Abhängigkeit in Richtung Industrie aufweist, sollte er möglichst nicht an der Entwicklung der Leitlinien beteiligt werden. Ist die Abhängigkeit nur gering, müssen wir dafür sorgen, dass sich viele kleine Unabhängigkeiten gegenseitig im Diskurs eliminieren.

Der amerikanische Generalbundesanwalt hat in Zusammenhang mit einer Leitlinie zur Borreliose große wirtschaftliche Interessenkonflikte und eine Unterdrückung vorhandener wissenschaftlicher Evidenz festgestellt. Wir erleben mittlerweile in Deutschland ebenfalls diese Nachfrage: Wie unabhängig waren denn die Verfasser? Warum hat man unser Präparat, unser Medikament, unser Medizinprodukt abgelehnt? Gerade dieses Thema der Unabhängigkeit wird sozusagen ein Kampfplatz werden.

Ich möchte mich nunmehr dem Thema der Implementierung zuwenden. Das ist im Leben einer Leitlinie die Phase IV. Zunächst planen wir die Leitlinie, dann wird sie entwickelt, dann geht es um die Redaktion und die Verbreitung der Leitlinie. Es ist ja nicht damit getan, dass die Leitlinie irgendwo im Internet steht, sondern sie muss auch in die Ausbildung hineingebracht werden. Die Medizinstudenten müssen die entsprechenden Leitlinien, die den gegenwärtigen Stand des Wissens widerspiegeln, kennen. Sie müssen auch wissen, wie man mit diesen Leitlinien umgeht. Man kann nicht sagen: Ich folge ja der Leitlinie, also ist alles in Ordnung. Die Leitlinien sind nur Entscheidungshilfen.

Ich möchte darauf hinweisen, dass es seit dem vergangenen Jahr die Arztbibliothek gibt. Das ist ein Service der Kassenärztlichen Bundesvereinigung in Zusammenarbeit mit der Bundesärztekammer. Dort können Sie nach Leitlinien zu bestimmten Themen suchen. Im Prinzip ist der Weg zur Verbreitung schon über die Arztbibliothek, gemanagt vom ÄZQ, vorbereitet. Das reicht aber sicher noch längst nicht aus.

Ich kehre zurück zur Implementierung. Die Leitlinie Schenkelhalsfraktur aus dem Jahr 2008 besagt, dass Patienten mit einer Schenkelhalsfraktur so schnell wie möglich innerhalb von 24 Stunden operiert werden sollten, wenn der Allgemeinzustand des Patienten dies zulässt. Andere Empfehlungen sprechen von 48 Stunden. Ich zeige Ihnen hier die Daten der BQS für ganz Deutschland. Sie sehen, wie langsam der Indikator erfüllt wird. Es ist nicht so, dass alle ihr Verhalten ändern, wenn die Leitlinie auf den Markt kommt. Die Veränderungen ergeben sich nur langsam. Dafür gibt es natürlich auch Gründe. Beispielsweise solche struktureller Art, beispielsweise im Zusammenhang mit der Frage: Wie schnell sind wir am Wochenende?

Wenn eine Leitlinie existiert, müssen wir schauen: Schlägt sie an in der Praxis? Ist die Leitlinie vielleicht gar nicht richtig? Vielleicht muss sie ja modifiziert werden?

Derartige Probleme haben andere Länder ebenfalls. Ich nenne als Beispiel die Extraktion von Weisheitszähnen in England und Schottland. Als die Leitlinie auf den Markt kam, hatten die Zahnärzte bereits damit begonnen, die Weisheitszähne nicht mehr zu extrahieren. Insofern hat die Leitlinie gar keine Veränderung bewirkt.

Ein weiteres Beispiel dafür, dass Leitlinien Veränderungen beschleunigen, ist die Einführung der Taxane bei verschiedenen Tumorarten. In England kamen sie verhältnismäßig schnell auf den Markt. Sie können der Grafik entnehmen, wie schnell es dort umgesetzt wurde. So etwas würden wir gern auch in Deutschland beobachten.

Es gibt eine Reihe von Theorien zur Unterstützung der Umsetzung bzw. Gründe für das Nichtumsetzen von Leitlinien. Ich nenne beispielhaft die kognitive Theorie: Ich habe den Patienten anders behandelt, als es die Leitlinie vorsieht, dem Patienten ist dies gut bekommen, warum soll ich mich nach der Leitlinie richten? Ich nenne ferner die Organisationstheorie: Die Organisation gibt die Umsetzung der Leitlinie nicht her.

Untersuchungen der Bundesärztekammer zur Evaluation von Leitlinien haben ergeben, dass diejenigen Ärzte, die die Leitlinien kennen, die Patienten nicht anders behandeln als diejenigen Ärzte, die die Leitlinien nicht kennen. Wenn man nachfragt, erhält man die Gegenfrage: Wo sind die Anreize? Das kostet mich doch Geld. Ich meine, wenn das Geld nicht stimmt, liegt ein Strukturmangel vor. Das muss man ins Auge fassen und entsprechend agieren oder sagen: Ich kann es nicht ändern.

Es gibt mittlerweile eine Reihe von Theorien, wie Leitlinien umzusetzen sind. Eine Reihe von Projekten unserer Versorgungsforschung hat sich mit dieser Frage beschäftigt. Es reicht nicht aus, dass man die Leitlinien publiziert oder frontale Vorträge hält. Es muss sich schon um eine interaktive Fortbildung handeln. Es müssen Erinnerungshilfen gegeben werden. Wir haben beispielsweise ein Projekt gefördert, das den Computer bei der Therapie chronischen Vorhofflimmerns dazu benutzt, sozusagen Hilfestellung zur Implementierung der Leitlinie zu geben. Ich muss sagen: Richtig erfolgreich war diese elektronische Realisierung noch nicht. Das liegt aber auch an der IT-Technik in der Praxis, die noch nicht optimal war.

Zur Erreichung einer dauerhaften Umsetzung von Leitlinien ist die interaktive Fortbildung generell effektiv, also keine frontale Fortbildung, sondern in Qualitätszirkeln, in Netzzirkeln, bei denen man vielleicht auch die Medizinischen Fachangestellten mit einbezieht. Wir haben gesehen: Überall dort, wo die Kommunikation gut funktioniert, ist die Leitlinienkonformität sehr viel höher als dort, wo diese Kommunikation keine Rolle spielt.

Insgesamt muss man sagen: Allein dadurch, dass wir ständig darüber reden, und zwar sowohl im Krankenhaus als auch in der ambulanten Versorgung, wird die Qualität ständig besser.

Wir erhalten ständig zusätzliche medizinorientierte Zertifikate. Die Zertifikate der Deutschen Krebsgesellschaft legen großen Wert darauf, dass eine leitliniengetreue Behandlung erfolgt. Dort schaut man also nach, ob die Leitlinien befolgt werden.

Sie ersehen aus der folgenden Grafik die Reduktion der Schmerzintensität durch Leitlinie und Zertifizierung. Hier hat sich die Qualität der Behandlung verbessert. Dies ist ja auch unser gemeinsames Ziel. Leitlinien sind also Instrumente, die man verwenden kann, um die Qualität der Versorgung zu verbessern.

Ich komme zum Schluss. Ich hoffe, dass Sie schon erkannt haben, wo die Grenzen von Leitlinien sind. Allerdings muss man hinzufügen: Es sind die derzeitigen Grenzen. Gegen viele dieser Grenzen kann man etwas tun. Als ersten Punkt möchte ich die Gewährleistung der Unabhängigkeit von Finanziers und anderen nennen. Das wurde hier bereits diskutiert. Derjenige, der zahlt, würde gern mitreden, wie die Leitlinien anschließend aussehen. Das darf natürlich nicht sein. Eine neutrale Finanzierung ist notwendig.

Die Erstellung von Leitlinien ist ressourcenabhängig. Ich habe Ihnen vorhin die Zahlen genannt: zwei Jahre bei den großen Leitlinien, Kosten: 200 000 Euro.

Schwierigkeiten macht die erforderliche breite Akzeptanz. Wenn Sie 35 Fachgesellschaften, Berufsverbände, Patientenvertreter, Heilhilfsberufe haben, ist es oft sehr langwierig, zu einer Akzeptanz zu gelangen. Manche verlieren dabei die Geduld.

Natürlich müssen die Leitlinien aktuell gehalten werden. Sie dürfen kein Schnee von gestern sein. Die Leitlinien haben ein Verfallsdatum. Bis zu diesem Datum muss geprüft sein, ob die Leitlinie renovierungsbedürftig ist oder nicht.

Eine offene Priorisierung von Werten ist notwendig. Das beginnt mit der Frage: Wo messe ich die gute Qualität, an welchen Indikatoren?

Ich komme zur Verbreitung und Implementierung von Leitlinien. Wir sind schon der Meinung, dass in der Ausbildung gelehrt werden soll, dass Leitlinien existieren, worauf es bei ihnen ankommt und wie man mit ihnen umgeht. Leitlinien sind nur Entscheidungshilfen für den Arzt.

Über eine Reihe von psychologischen und wirtschaftlichen Barrieren haben wir bereits gesprochen. Es muss ferner untersucht werden, ab wann man sich einfacher tut, Leitlinien umzusetzen.

Der Zugang zu den Leitlinien müsste verbessert werden. Die Arztbibliothek ist ein erster Ansatz. Die Anreize für die Anwendung von Leitlinien sind auch nicht so stimmig.

Man muss auch den Umgang mit Leitlinien lernen. Die Anpassung der generellen Empfehlungen an individuelle Entscheidungssituationen ist eine ärztliche Aufgabe. Wir haben leider viel zu wenig Leitlinien, die die Multimorbidität berücksichtigen. Es ist aber nicht so, dass man sagen kann: Man hat einen multimorbiden Patienten, für den sieben verschiedene Leitlinien gelten, also muss man ihm 14 verschiedene Arzneimittel verschreiben. So geht es nicht, wenn die Leitlinie richtig verstanden wird, nämlich für den Patienten die richtige Entscheidung angesichts seiner individuellen Situation zu finden.

Wir sehen bei den Leitlinien durchaus das Problem, dass irgendjemand erklärt: Eure Leitlinie ist so schön, die mache ich jetzt zur Pflicht, ich schließe sogar entsprechende Versorgungsverträge ab.

Erwähnen möchte ich auch noch, dass die Leitlinien gerichtsfest sein müssen.

Jetzt komme ich zum Glanz von Leitlinien. Ich denke, es ist höchste Zeit, dass eine Arbeitsteilung bei der systematischen Aufbereitung des Wissens und der Erfahrungen erfolgt. Jemand hat einmal ausgerechnet: Ein Internist müsste 17 Arbeiten pro Tag lesen, um die aktuell erscheinenden internistischen Arbeiten zu kennen. Wer kann das? Dann hat man ja keine Zeit mehr für den Patienten.

Unglaublich beeindruckend ist das freiwillige Engagement der Vertreter von Fachgebieten, Berufsgruppen und Patienten. Zum Teil erleben wir, dass Fächer, die jahrelang nicht miteinander geredet haben, jetzt beginnen, miteinander darüber zu diskutieren, wie der Patient optimal versorgt werden kann.

Wichtig ist der Abbau von Fächeregoismen. Wir erkennen, wo die Medizin gar nichts weiß. Zu etwa 20 bis 30 Prozent dessen, was Sie im Alltag tun, gibt es gute Studien. Beim großen Teil der Medizin gibt es diese exzellenten Studien nicht.

Die Leitlinien bieten Unterstützung bei der partizipativen Entscheidungsfindung. Es gibt Leitlinien für die großen Volkskrankheiten.

Schließlich nenne ich das große Potenzial für die Sicherstellung und die Verbesserung der Versorgungsqualität.

Ich glaube, es gibt einen großen Glanz von Leitlinien. Aber durch die Grenzen, die wir zurzeit haben, wird er sehr schnell infrage gestellt.

Lassen Sie mich mit einem Foto schließen: Die Skyline von Tübingen – ich komme aus Tübingen – spiegelt sich im Neckar. Darunter sehen Sie den Hölderlinturm. Dort hat Hölderlin 34 Jahre seines Lebens in geistiger Umnachtung verbracht.

Ich möchte Ihnen herzlichen Dank sagen für die Förderung der Versorgungsforschung. Sie haben die Leitlinienentwicklung in Deutschland gewaltig vorangebracht.

Schließlich möchte ich mich bei Ihnen fürs Zuhören bedanken.

(Beifall)

Vizepräsidentin Dr. Goesmann: Wir danken Ihnen, Herr Professor Selbmann. In unserem Programm haben wir festzustellen versucht, wie man die Leitlinien am besten implementiert und was in der Praxis geschieht, wo wir ja viel Leid mit den Leitlinien haben, wenn sie implementiert sind. Die Frage ist: Verbessern sie tatsächlich die Versorgung der Bevölkerung oder nicht? Wir haben zum Teil überraschende Ergebnisse erhalten. Es lohnt sich, liebe Kolleginnen und Kollegen, nachzulesen, welche neuen Informationen wir gewinnen konnten.

Ihnen, Herr Professor Selbmann, noch einmal herzlichen Dank für Ihre Darstellung.

Wir fahren fort mit dem Referat von Herrn Professor Mansky. Ursprünglich sollte Frau Professor Kurth, Mitherausgeberin unserer Reportbände zur Versorgungsforschung, referieren. Aus persönlichen Gründen hat sie leider abgesagt. Wir freuen uns, dass wir sehr kurzfristig Herrn Professor Mansky gewinnen konnten. Er ist an der Technischen Universität Berlin im Bereich Strukturentwicklung und Qualitätsmanagement im Gesundheitswesen tätig. Er spricht heute zu uns über das Thema „Zugang zu Routinedaten für die Versorgungsforschung“. Bitte sehr.

© Bundesärztekammer 2010