TOP II: Versorgungsforschung

Mittwoch, 12. Mai 2010, Nachmittagssitzung

Dr. Oberschelp, Westfalen-Lippe: Sehr geehrte Frau Vizepräsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin Mitglied in der Gemeinsamen Leitlinienkommission des Berufsverbands BVOU – das sind die Orthopäden und die Unfallchirurgen – und der wissenschaftlichen Fachgesellschaft der DGOC. Deshalb habe ich täglich mit Leitlinien zu tun. Ich höre sehr häufig die Stimmen meiner Kolleginnen und Kollegen. Sehr kritische Kolleginnen und Kollegen behaupten: Leitlinien sind zum Zeitpunkt der Veröffentlichung schon wieder veraltet, weil sie den Wissensstand von vor mehreren Jahren darstellen und sich nicht zeitnah am wissenschaftlichen Fortschritt orientieren. Die nachfolgenden Updates sind schleppend und kostenintensiv.

Viele Kolleginnen und Kollegen meinen: Leitlinien sind nur etwas für Ärztinnen und Ärzte, die sich wissenschaftlich mit bestimmten Themen auseinandersetzen wollen.

Ich habe einmal vor zwei Jahren in meiner näheren Umgebung anlässlich eines Referats, das ich in Berlin auf dem Deutschen Orthopädenkongress über Leitlinien halten sollte, eine Schnellumfrage bei Ärzten in meiner Region durchgeführt. Das Ergebnis war erschreckend. 80 Prozent hatten noch nie eine Internetrecherche gemacht, 70 Prozent hatten keine Leitlinienbücher ihres eigenen Fachs und weitere 70 Prozent hatten noch nie in eine Leitlinie geschaut.

Die Schlussfolgerung der Ärzte war: Leitlinien sind etwas für klinische Anfänger; Leitlinien dienen uns nur als Hilfe bei außergewöhnlichen Fragestellungen; Leitlinien bringen uns in der Diagnostik nicht weiter, weil sie sich an Standards von gestern orientieren; Leitlinien bringen uns nicht mehr Honorar; die Umsetzung der Leitlinien kostet sehr viel Geld; sie sind oft unübersichtlich und richten sich an Standards aus, die in der vertragsärztlichen Praxis häufig nicht erfüllt werden können.

Ganz schwer ist es, zu erkennen: Welche Leitlinie ist die richtige für mein Fachgebiet? Ich darf daran erinnern, dass es allein für die Osteoporose mindestens sechs Fachgesellschaften, Berufsverbände oder Interessengemeinschaften gibt, die Leitlinienempfehlungen abgegeben haben. Das bedeutet für uns aber, dass wir die Leitlinien attraktiver machen müssen. Wir müssen sie vor allen Dingen besser an unsere Kolleginnen und Kollegen verkaufen.

In Deutschland – ich erinnere an das, was gerade gesagt wurde – kostet die Erstellung einer Leitlinie mindestens 200 000 Dollar. Für andere Länder wird teilweise bis zu 900 000 Dollar geschätzt. Fachgesellschaften lehnen das Sponsoring von Leitlinien durch die Industrie ab – das finde ich auch sehr richtig – wegen der Gefahr der Abhängigkeit.

Von staatlicher Seite – das verstehe ich nun überhaupt nicht – wird nichts bzw. gar nichts zu erwarten sein. Die Politik will die Leitlinien, sie will sie aber nicht bezahlen. Wir als Ärzte können die politischen Vorgaben finanziell nicht schultern. Das muss sich ändern, denn wer die Musik bestellt, soll sie schließlich auch bezahlen.

Deshalb bitte ich Sie um Unterstützung meines Antrags zur Finanzierung der Leitlinien.

Herzlichen Dank.

Vizepräsidentin Dr. Goesmann: Danke, Herr Oberschelp. – Der nächste Redner ist Herr Josten aus Nordrhein.

© Bundesärztekammer 2010