TOP IV: Patientenrechte – Anspruch an Staat und Gesellschaft

Mittwoch, 12. Mai 2010, Vormittagssitzung

Dr. MontgomeryDr. Montgomery, Referent: Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich danke Ihnen dafür, dass ich in dieser Pause der Antragsberatung zu Ihnen sprechen darf. Wir wollen den Tagesordnungspunkt „Patientenrechte – Anspruch an Staat und Gesellschaft“ auf diesem Ärztetag diskutieren, weil wieder einmal eine intensive politische Debatte zu diesem Thema in der Bundesrepublik läuft. Die politische Debatte, die wir schon vor zehn Jahren erlebt haben, ist erneut eröffnet worden. Sie erinnern sich an den Wahlkampf vor der Bundestagswahl. Damals hat die Patientenbeauftragte der damaligen Bundesregierung, Helga Kühn-Mengel, vorgeschlagen, ein Patientenrechtegesetz zu verabschieden. Sie wurde im Wahlkampf getoppt von Annette Widmann-Mauz, die sogar forderte, ein Patientenschutzgesetz zu verabschieden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das war Wahlkampf. Im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und FDP finden wir die Aussage:

Die Patientenrechte wollen wir in einem eigenen Patientenschutzgesetz bündeln, das wir in Zusammenarbeit mit allen Beteiligten am Gesundheitswesen erarbeiten werden.

Folgerichtig hat der Patientenbeauftragte der Bundesregierung, Wolfgang Zöller, die Eckpunkte für ein Patientenrechtegesetz bis Ende dieses Jahres angekündigt. Die SPD-Fraktion hat im Deutschen Bundestag einen eigenen Antrag eingebracht, in dem die Bundesregierung aufgefordert wird, einen Gesetzentwurf zum Schutz der Patientenrechte einzubringen. In diesem Antrag gibt es Schwerpunkte, die eine Fülle von Änderungen am geltenden Recht bewirken würden, beispielsweise die gesetzliche Regelung des Behandlungsvertrags, Erleichterungen der Beweislast im Arzthaftungsprozess, im Patientenrechtegesetz festgelegte Regelungen zur Patientensicherheit, Patientenbeteiligung in Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen der Ärztekammern sowie alternative Entschädigungssysteme bei Behandlungsfehlern.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Debatte führen wir in Europa und in Deutschland auf verschiedenen Ebenen seit vielen Jahren. Im Kern geht es dabei immer um zwei Dinge: einmal um individuelle Patientenrechte, zum anderen immer aber auch um die kollektiven Rechte der Patienten in gesundheitsrechtlichen und gesundheitspolitischen Fragen.

Auf der Grundlage eines Gutachtens aus dem Jahr 1998, welches die Bremer Rechtsprofessoren Francke und Hart im Auftrag der Gesundheitsministerkonferenz verfasst hatten, entwickelte eine Arbeitsgruppe der Gesundheitsministerkonferenz Anfang der ersten Dekade dieses Jahrhunderts in einem Diskussionsprozess ein Arbeitspapier. Dies geschah unter Beteiligung vieler Organisationen, wozu auch die Bundesärztekammer gehörte. Die Leitung dieser Gruppe hatte der Bremer Gesundheitsabteilungsleiter Matthias Gruhl.

Auf dieser Basis wurde dann eine weitere Arbeitsgruppe gemeinsam mit der Bundesministerin für Justiz, Herta Däubler-Gmelin, und der Bundesministerin für Gesundheit, Ulla Schmidt, eingesetzt, der anzugehören ich die Ehre hatte, die die Kodifizierung eines Patientenrechtegesetzes vorantreiben sollte. Die Debatten wurden 2002 und 2003 geleitet vom ehemaligen Präsidenten des Bundesgerichtshofs, Karlmann Geiß, der mit souveräner richterlicher Präzision immer wieder zwei Kernfragen anging: Erstens. Kann man die in vielen Rechtsgebieten verstreuten, teilweise aus Richterrecht abgeleiteten Ansprüche und Rechte der Patienten gegenüber Leistungserbringern, Krankenkassen, Staat und Gesellschaft in einem „allumfassenden“ Gesetz zusammenführen? Zweitens. Kann man dies tun, ohne dabei in die Rechtsmaterien materiell einzugreifen, ohne etwas substanziell zum Nachteil oder Vorteil eines der Diskussionsteilnehmer zu verändern?

Es war nämlich damals – wie heute – klar zu erkennen, dass es vielen Teilnehmern an dieser Debatte überhaupt nicht um eine Kodifizierung des vorhandenen Rechts allein ging. Viele versuchten dabei vor allem eine Änderung des Rechts zu ihren Gunsten. So forderten Patientenverbände und Verbraucherschutzorganisationen immer wieder eine Beweislastumkehr im Haftungsverfahren, eine verschuldensunabhängige Haftungslösung oder weitgehende Beratungs- und Betreuungsfunktionen für sich selbst. Manchmal beschlich mich bei diesen Debatten das Gefühl, es ginge dabei weniger um „Patientenrechte“ als vielmehr um die materielle Zukunftssicherung selbst ernannter „Patientenrechtler“.

(Beifall)

Im Ergebnis kam nach zweijähriger Debatte mit großer Mehrheit – aber nicht einstimmig – klar heraus: Es ist nicht sinnvoll, ein allumfassendes Patientenrechtegesetz zu verfassen, und es ist nicht möglich, dieses zu tun, ohne dass im parlamentarischen Verfahren substanzielle Veränderungen am Recht vorgenommen werden. Man muss heute den Satz „Auf hoher See und vor Gericht ist man auf den lieben Gott angewiesen“ erweitern zu „Auf hoher See, vor Gericht und im parlamentarischen Verfahren ist man auf den lieben Gott angewiesen“. Aber solche substanziellen Veränderungen am Recht machen keinen Sinn.

Folgerichtig haben wir daher in der Kommission nicht den Entwurf eines Patientenrechtsgesetzes erarbeitet, sondern eine Informationsbroschüre mit dem Titel „Patientenrechte in Deutschland“ erstellt. Der Kerngrund ist, dass Deutschland nicht etwa über ein schlechtes Patientenrecht verfügt, sondern über ein stark ausgeprägtes Patientenrechteniveau, während die Patienten aber teilweise nicht wissen, woher sie die Informationen über ihre Rechte ungefärbt und unbeeinflusst erfahren können.

Die erwähnte Dokumentation ist eine Beschreibung des bestehenden Rechtszustands, keine neue normative Entwicklung. So heißt es in der Präambel dieses Dokuments:

Das Dokument ist eine Bestandsaufnahme des geltenden Rechts, die weiteren Diskussionen nicht vorgreift. Es soll die Transparenz im Gesundheitswesen erhöhen und durch eine breite Unterstützung nachhaltige Wirkungen für alle Beteiligten entfalten.

Meine Damen und Herren, auch heute gilt noch: Geht es eigentlich um das Zusammenfassen des bestehenden Rechts oder um die Schaffung neuer Tatbestände? Sollen dabei individuelle Patientenrechte ausgebaut werden? Oder soll die kollektive Beteiligung von Patienten an Gesetzgebung und Verwaltung, insbesondere in und gegenüber der gesetzlichen Krankenversicherung, verstärkt werden? Oder besteht ein – für uns nachvollziehbares – Unbehagen darin, dass in der gesetzlichen Krankenversicherung möglicherweise ein anderes Verständnis von Patientenrechten besteht, als es beispielsweise wir Ärzte selbst haben?

Ziel individueller Patientenrechte ist die Gewährleistung von

      angemessener Information und Beratung

      standardgemäßer Behandlung

      standardgemäßer Dokumentation

      Einsicht in die Behandlungsunterlagen

      Vertraulichkeit und Datenschutz

(Beifall)

Nehmen wir die Berufsordnung für die deutschen Ärztinnen und Ärzte in die Hand, dann stellen wir fest, dass alle diese individuellen Patientenrechte in ärztlichen Pflichten sozusagen reziprok längst geregelt sind.

Schauen Sie sich beispielsweise § 7 der (Muster-)Berufsordnung an, wo Behandlungsgrundsätze und Verhaltensregeln bestimmt werden. Dort heißt es:

Jede medizinische Behandlung hat unter Wahrung der Menschenwürde und unter Achtung der Persönlichkeit, des Willens und der Rechte der Patientinnen und Patienten, insbesondere des Selbstbestimmungsrechts, zu erfolgen.

Der Patientenrechtekonzeption unserer Berufsordnung liegt dabei ein partnerschaftliches Kooperationsmodell von Patient und Arzt zugrunde. Professor Katzenmeier aus Köln, der uns auf dem vorjährigen Ärztetag in Mainz mit seinem Vortrag sehr beeindruckt hat, spricht in seinem Buch „Arzthaftung“ von der Arzt-Patient-Beziehung als einem therapeutischen Arbeitsbündnis.

Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten verlangt vom Arzt, den Kranken an den oft schwer zu vermittelnden Entscheidungsprozessen zu beteiligen. Er hat sich mit dem Patienten über Krankheit und Behandlung zu verständigen. Diese Interaktion führt dazu, dass nicht ein von außen bestimmter Behandlungsstandard am Patienten vollzogen wird, sondern eine individuelle Behandlung stattfindet, bei der – wie Katzenmeier es ausdrückt – „die Wertewelt des Gegenüber Beachtung und Eingang findet“.

Aus echter Partnerschaft lassen sich aber nicht nur einseitig Pflichten des Arztes und Rechte des Patienten ableiten. Arzt und Patient sollten den Behandlungserfolg zu ihrem gemeinsamen Anliegen machen. Es ist vom Patienten zu erwarten, dass er Heilung nicht aus passiver Konsumhaltung heraus als vertraglich geschuldete Reparaturleistung des Arztes nach dem Motto „Ich bin hier Kunde“ betrachtet. Auch der Patient ist gefordert, Selbstverantwortung für seine Gesundheit und Gesundung zu übernehmen! Auch der Arzt hat ein Anrecht darauf, dass der Patient dies als seine Pflicht begreift!

(Beifall)

Im Rahmen ärztlicher Behandlung – und das sind Diagnose und Therapie – steht die Wiederherstellung der Gesundheit im Vordergrund. Jedoch: Diese kann vom Arzt nicht garantiert werden.

Damit komme ich zum Arzthaftungsrecht. Es ist im Wesentlichen richterrechtlich geprägtes Recht. Im Mittelpunkt steht dabei immer wieder die Frage nach der Einhaltung des anerkannten medizinischen Standards. Darüber aber entscheidet die Medizin. Diese Standards können nur von Ärzten sachgerecht definiert werden.

Insbesondere in der retrospektiven Betrachtung eines Falles sind diese Fragen daher immer von der Expertise der Ärzte abhängig. Sie können als Einzige beurteilen, ob eine Behandlung nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt wurde. Deswegen haben wir ja bei den Ärztekammern Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen eingerichtet, damit der Patient schnell zu seinem Recht kommt, damit aber auch der Arzt schnell Rechtssicherheit in diesem für jeden Beteiligten hochgradig belastenden Verfahren hat. Wir dienen hier Patienten- und Arztrechten gleichermaßen, ohne dass es jemals einer Kodifizierung in einem Patientenrechtegesetz bedurft hätte.

Unstreitig ist ein weiteres zentrales Element des Begriffspaars Arztpflichten/Patientenrechte die Information als Basis der Partnerschaft. Die sinnvolle Wahrnehmung dieses Rechts sicherzustellen, ist der Hauptzweck der Aufklärungspflicht des Arztes. Daraus ergibt sich aber auch umgekehrt, dass die Mitwirkung des Patienten an seiner Behandlung Grundvoraussetzung für einen rechtskonformen Heileingriff ist.

Der in Deutschland gültige „ärztliche“ oder „medizinische“ Behandlungsvertrag hat eine medizinische Leistung durch einen Arzt zum Gegenstand. Der medizinische Behandlungsvertrag ist auch nach der Schuldrechtsmodernisierung 2002 nicht als eigenständiger Vertragstyp ausgestaltet und besonders kodifiziert worden. Er wird von der herrschenden Lehre als Dienstvertrag höherer Art eingeordnet. Grund dafür ist zunächst, dass der Arzt aufgrund der Unberechenbarkeit des menschlichen Körpers den durch die Behandlung erhofften Heilungsverlauf nicht garantieren kann und daher auch für einen Behandlungserfolg nicht einstehen kann. Es kann – leider – kein Patientenrecht auf Heilung geben, nur eines auf bestmögliche Behandlung nach den anerkannten Regeln der ärztlichen Kunst.

(Beifall)

Die Bundesärztekammer hat daher stets betont, dass der beste Patientenschutz von einer funktionierenden Berufsordnung ausgeht, und zwar einer Berufsordnung, welche die Ärzteschaft auf der Grundlage des Auftrags aus den Kammer- und Heilberufegesetzen in Autonomie und diskursiver Selbstbestimmung ihres Arztbildes entwickelt hat, einer Berufsordnung, die nach intensiver Beratung in unseren Gremien öffentlich und ohne Vorbehalte hier auf dem Deutschen Ärztetag, dem höchsten Souverän unseres Berufs, diskutiert und verabschiedet wird, die dann noch einmal in den Länderparlamenten diskutiert und verabschiedet wird und schließlich von den Aufsichtsbehörden genehmigt wird.

Transparenter, nachvollziehbarer, gerechter und präziser kann man individuelle Patientenrechte überhaupt nicht verankern, als wir das tun!

(Beifall)

Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht nicht nur um individuelle Patientenrechte, es geht in der Diskussion auch um die Rechte der Bürger, der Versicherten – sozusagen als potenzielle Kranke – und der Patienten gegenüber Staat und Gesellschaft.

Darin liegt auch der Grund für ein wachsendes Konfliktpotenzial zwischen Ärzteschaft und Politik im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung und ihrer Entwicklung. Wir alle – Patienten und Ärzte gemeinsam – leiden seit Jahrzehnten daran, dass die Aufgabe des Arztes gegenüber seinem Patienten, dessen individuellen Bedürfnissen entsprechend professionell vorzugehen, zunehmend bürokratisiert, administriert und reglementiert wird.

Und damit komme ich zu der eigentlichen Problematik der Patientenrechte, wie wir sie sehen, nämlich dem Problem der angemessenen Patientenversorgung im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung und der mittelbaren Beeinflussung der Leistungserbringer, Ärzte und Krankenhäuser, durch entsprechende sozialrechtliche Vorgaben.

Patientenrechte sind heute weniger durch die Ärzteschaft gefährdet, die sie mittelbar durch ihre in der Berufsordnung festgeschriebenen Pflichten realisiert; Gefahr droht ihnen aber im Kontext staatlicher Gesundheitspolitik für die gesetzlich Krankenversicherten.

(Beifall)

Hier geht es um Versichertenrechte als Patientenrechte.

In eine ernsthafte Debatte um ein Patientenrechtegesetz, die auch diese Rechtsmaterie mit umfassen sollte, gehörten also zwangsläufig auch Teile des sich schnell wandelnden SGB V mit hinein. Ja, auch Teile der Sozialgesetzbücher IX und XI (Pflege und Rente) haben hier Wechselwirkungen. Das sind Leistungsansprüche des Patienten gegenüber den Krankenkassen und anderen Sozialversicherungsträgern, Ansprüche auf die Qualität der Leistungserbringung und der Verpflichtung des Systems, diese zur Verfügung zu stellen. Und schließlich geht es natürlich auch um Beteiligungs- und Mitspracherechte der Patienten und ihrer Organisationen.

Sie sehen: Man begibt sich in eine ganz gefährliche Diskussion, wenn diese über eine gesetzliche Regelung von individuellen Patientenrechten auch vor dem Hintergrund der Ressourcen- und Finanzierungsdiskussionen in unserem Gesundheitswesen geführt wird. Mit Sicherheit ist sie durch ein einfaches Patientenrechtegesetz – mal so eben – nicht abschließend und nicht fair im Interesse der Patienten und der Leistungserbringer zu beenden. Sie wird dann erst richtig anfangen, wenn jede Änderung im SGB V, jede Änderung in den Sozialgesetzbüchern Pflege und Rente Auswirkungen auf den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung hat, wenn Beteiligungsregelungen der Patienten zum Beispiel an den Beschlüssen des Gemeinsamen Bundesausschusses anstehen und wenn richterliche Rechtsprechung im Haftungsrecht neue Tatsachen schafft.

Ich bin mir nicht sicher, dass sich die Politik dieser Konsequenzen und der daraus erwachsenden Probleme überhaupt klar ist.

(Beifall)

Ist die Forderung nach einer gesetzlichen Regelung in einem Patientenrechtegesetz daher womöglich nur die Reaktion auf ein Unbehagen der Patientenverbände und Verbraucherschutzverbände bezüglich einer mangelnden Beteiligung an gesundheitspolitischen Entscheidungen?

Hier ist zunächst festzuhalten, dass alle letzten Reformgesetze eine Patientenbeteiligung institutionalisiert haben, und zwar insbesondere im Zusammenhang mit der Richtliniengebung im Gemeinsamen Bundesausschuss, aber auch in anderen Bereichen normativer oder informationeller Aufgaben. Davon wird auch, wie die Bundesärztekammer, die im Gemeinsamen Bundesausschuss nicht beteiligt ist, feststellen kann, rege Gebrauch gemacht. Ob dies als ausreichend angesehen werden kann, ist zunächst eine Frage, die sich die Politik selbst stellen muss und die auch eine neuartige Diskussion vor allem für die gesetzliche Krankenversicherung bewirken würde. Das heißt, diese Debatte sollte innerhalb der Logik des SGB V geführt werden und nicht durch ein weiteres „Gesetzbuch Patientenrechte“ überlagert werden.

(Beifall)

Wir müssen uns nämlich fragen: Wie können oder sollten denn von Verbänden entsandte sogenannte professionelle „Patientenvertreter“ rechtlich verbindlich in Entscheidungen mit rationierender Wirkung für andere einbezogen werden?

Für die Bundesärztekammer möchte ich anmerken, dass wir einen Ausbau kollektiver Patientenbeteiligung im gesundheitspolitischen Kontext für bestimmte Bereiche immer befürwortet haben. Ich verweise beispielhaft darauf, dass das ärztliche Zentrum für Qualität der Bundesärztekammer und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung bei der Entwicklung nationaler Versorgungsleitlinien eine Patientenbeteiligung vorsieht.

Wir wünschten uns nur, dass es im politischen Prozess gelänge, klarer zu definieren, wer denn als Patientenvertreter infrage kommt: Sind es die Vertreter der Selbsthilfegruppen? Und wenn ja, von welchen? Sind es die vom Entscheidungsgegenstand Betroffenen? Oder sind es die Interessenorganisationen vermeintlich Medizingeschädigter? Ist es die „Unabhängige Patientenberatung Deutschlands“ oder sind es die professionellen Vertreter der Verbraucherzentralen, die in alle diese Institutionen vordringen und dort die Patientenvertreter dominieren? Diese Frage muss die Politik beantworten, meine sehr verehrten Damen und Herren. Wir sind bereit, mit allen zu reden. Wir wollen mit allen zusammenarbeiten, aber wir müssen dabei höllisch aufpassen, dass nicht eine neue Beteiligungsbürokratie entsteht, die sich für die Fortentwicklung vor allem der medizinischen Professionalität eher hinderlich als förderlich auswirkt.

(Beifall)

Und damit komme ich zum aktuellen Debattenstand. Wolfgang Zöller, der schon erwähnte Patientenbeauftragte der Bundesregierung, hat in mehreren Interviews und Stellungnahmen darauf hingewiesen, er wolle bis zum Ende dieses Jahres die Eckpunkte für ein Patientenrechtegesetz vorgelegt haben. Ihm geht es – das hat er mir in einem Gespräch vor einigen Tagen bestätigt, das ich gesucht habe, weil er heute nicht hier sein kann – nicht darum, in die bestehenden Rechte einzugreifen und etwas zu ändern. Er lehnt übrigens den Begriff eines „Patientenschutzgesetzes“ genauso vehement ab wie wir. Patienten muss man in Deutschland nicht schützen – schon gar nicht vor ihren Ärzten.

(Beifall)

Patienten sind weder eine rare noch eine schlecht behandelte Spezies, die man wie im „Vogelschutzgesetz“ oder „Tierschutzgesetz“ schützen müsste. Vor allem aber darf man Patienten nicht unter angeblichem Schutz bevormunden, sondern man muss ihre Rechte aus ihrer Person heraus würdigen und wahren. Das muss unser Ziel in der Debatte sein.

(Beifall)

Zöller versicherte mir weiterhin, dass mit ihm insbesondere eine Beweislastumkehr im Haftungsprozess nicht zu machen sei. Sie führe nur zu einer starken Verrechtlichung und Bürokratisierung medizinischer Verfahren. Davon haben wir aber schon genug, davon brauchen wir fürwahr nicht mehr! Da ist ihm uneingeschränkt zuzustimmen.

Und er wünscht sich eine aktive Fehlerkultur, aber nicht auf Zwangsbasis. Ihm ist sehr wohl klar, dass alle funktionierenden Fehlermeldesysteme auf der Freiwilligkeit, der Sanktionsfreiheit und dem Willen, aus Fehlern zu lernen, aufbauen. „Für das Lernen aus unseren Fehlern werden unsere Fehler immer wertvoller“ – dieser Satz des Philosophen Karl Popper ist das Mantra der Fehlerkultur. Das scheint Zöller genauso zu sehen wie wir und darin stimmen wir ihm zu.

(Vereinzelt Beifall)

Ihm geht es aber, bildlich gesprochen, auch noch um etwas anderes, nämlich darum, „gleiche Augenhöhe“ zwischen Patienten und Ärzten herzustellen. Meine Damen und Herren, das begrüßen wir. Gleiche Augenhöhe ist Ausdruck von Partnerschaft im therapeutischen Arbeitsbündnis. Man muss sie auch, so meine Meinung, gar nicht erst herstellen, sie ist in einem funktionierenden Patient-Arzt-Verhältnis vorhanden.

Man darf dabei aber nicht verkennen – und das kann kein Patientenrecht dieser Erde ändern –, dass das Verhältnis von Patient und Arzt immer von einer Asymmetrie geprägt sein wird. Auch Herr Minister Rösler hat das gestern in seiner Rede noch einmal betont. Der eine ist nun mal gesund und kann helfen, der andere sucht Hilfe und Heilung. Der eine hat das Wissen des Arztes und kann es anwenden, der andere hat das Wissen primär nicht und braucht daher Vertrauen und Verständnis. Er muss die Sicherheit und Gewissheit haben, dass sein Arzt alles medizinisch Sinnvolle, Nötige, Machbare auch in seinem Interesse anwendet. Er muss vor allem: Vertrauen haben!

Es geht also nicht nur um „Augenhöhe“; viel wichtiger scheint mir die „Wellenlänge“, meine Damen und Herren. Beide – Patient und Arzt – müssen in ihrer verbalen wie nonverbalen Kommunikation zu einem partnerschaftlichen Verhältnis finden, das von der gleichen Wellenlänge des Vertrauens und Verständnisses getragen ist. Der Arzt muss sicher sein, dass die für seinen Patienten individuell medizinisch erforderlichen Verfahren, Medikamente, Therapieansätze auch möglich und erbringbar sind. Und der Patient muss vertrauen können, dass der Arzt auch frei von rationierenden, entindividualisierenden Entscheidungen das Bestmögliche für seinen Patienten tun kann.

Vertrauen und Dialog sind nun einmal die Kernelemente einer partnerschaftlichen, erfolgversprechenden Beziehung zwischen Patient und Arzt. Sie müssen gestärkt werden.

Es nutzt nichts, Verwirrung und Unsicherheit durch eine Debatte über angeblich fehlende oder schlecht ausgestaltete Patientenrechte zu stiften. Wichtiger wäre es, die zentralen Fragen in unserem Gesundheitssystem aktiv anzugehen.

Und hier erinnern wir daran, dass wir uns auf dem vorjährigen Deutschen Ärztetag sehr intensiv mit den Fragen der Priorisierung und Rationierung auseinandergesetzt haben. Wir haben eine Diskussion begonnen, in der viel vordringlicher Patientenrecht gesichert wird als in einer rechtsdogmatischen Debatte, in der es um die Frage „Kodifizierung – ja oder nein“ geht. Zumal doch am Ende klar erkennbar ist, dass es vielen, die sich besonders aktiv an dieser Kodifizierungsdebatte beteiligen, nur um eine Veränderung der guten Rechtsposition in Deutschland geht. In dieser Veränderung aber steckt für die Patienten keine Verbesserung!

(Beifall)

Wer etwas zum Wohle der Patienten verbessern will, der sollte besser folgende acht Forderungen berücksichtigen:

Erstens. Der Patient hat Anspruch auf eine individuelle, nach seinen Bedürfnissen ausgerichtete Behandlung und Betreuung.

(Beifall)

Das setzt die Therapiefreiheit des Arztes ebenso voraus wie die Bereitstellung der notwendigen Mittel. Eine Rationierung medizinischer Leistungen oder auch der Weg in eine Checklistenmedizin führen jedoch zu einer schlechten medizinischen Versorgung.

Zweitens. Der Patient hat Anspruch auf die freie Arztwahl.

(Beifall)

Patientenrechte und Patientenautonomie bleiben nur Phrasen, wenn dieses Recht auf freie Wahl und damit auf die individuelle Vertrauensbeziehung zum Patienten aufgehoben wird.

Drittens. Der Patient hat Anspruch auf Transparenz.

(Beifall)

Die Ärzteschaft setzt sich deshalb nachdrücklich für eine regelmäßige Information des Patienten über Art, Menge, Umfang und vor allem die Kosten der für ihn erbrachten Leistungen ein. Zugleich aber muss der Patient die Möglichkeit erhalten, zwischen Sachleistung und Kostenerstattung auf der Basis einer amtlichen Gebührenordnung frei zu wählen.

(Beifall)

Viertens. Der Patient hat Anspruch auf Wahrung des Patientengeheimnisses. Grundlage einer freien und vertrauensvollen Beziehung zwischen Patient und Arzt ist deshalb die ärztliche Schweigepflicht. Gesetzliche Mitteilungspflichten müssen auf das medizinisch unerlässlich Notwendige begrenzt bleiben. Bei der Erfassung und Verwendung von Patientendaten ist in jedem Einzelfall die Zustimmung des Patienten unerlässlich.

(Beifall)

Fünftens. Der Patient hat Anspruch auf die Solidarität der Gesellschaft. Solidarität heißt, dass jeder entsprechend seinen finanziellen Möglichkeiten seinen Beitrag zur Gesundheitsversorgung zu leisten hat und die Krankenversicherung auch nur nach Maßgabe des Notwendigen in Anspruch nimmt. Zugleich muss im Wettbewerb der Krankenversicherung Raum für die private Krankenversicherung bleiben. Eine Einheitsversicherung widerspricht den Prinzipien der Eigenverantwortung sowie der Patientenautonomie und wird deshalb von uns Ärzten abgelehnt.

(Beifall)

Sechstens. Der Patient hat Anspruch auf eine solidarische Krankenversicherung, die diesen Namen auch verdient.

(Beifall)

Siebtens. Der Patient hat Anspruch auf ein bürgernahes Gesundheitswesen. Dies ist nur durch eine Selbstverwaltung der Beteiligten und Betroffenen zu gewährleisten. Wird die Selbstverwaltung jedoch abgeschafft oder wird den Krankenkassen die alleinige Steuerungsmacht über das Gesundheitswesen übertragen, dann sind Anonymisierung, Deprofessionalisierung und weitere Mangelverwaltung nicht mehr aufzuhalten. Dann ist die Rationierung als Strukturprinzip unausweichlich. Menschlichkeit und medizinischer Fortschritt werden dann Luxus in einer Mehrklassenmedizin.

Achtens. Der Patient erwartet Fürsorge und Zuwendung von den im Gesundheitswesen Tätigen. Doch die zunehmende Reglementierung im Gesundheitswesen, die zum Teil menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen und die überbordende Bürokratie führen zu wachsender Demotivation der Gesundheitsberufe. Die gesundheitspolitischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen müssen deshalb endlich so gestaltet werden, dass diese Berufe wieder an Attraktivität gewinnen.

(Beifall)

Meine Damen und Herren, das sind die acht Prüfsteine einer echten Patientenrechtediskussion. Das ist die Messlatte, an der sich diejenigen messen lassen müssen, die hier ein neues Gesetzbuch schreiben wollen. Deswegen werden wir uns dann nicht gegen eine Eins-zu-Eins-Kodifizierung des geltenden Rechts sperren, wenn dies – trotz unserer rechtssystematischen Bedenken – ohne eingreifende Veränderungen möglich ist.

Wer aber, quasi durch das Hintertürchen, hierbei gravierende Verschlechterungen im Patient-Arzt-Verhältnis plant, der wird auf unseren erbitterten Widerstand stoßen!

(Beifall)

Ich möchte jetzt noch kurz auf einige in der Patientenrechtediskussion vorrangige Schwerpunktthemen eingehen. Ich meine Qualitätssicherung und Patientensicherheit. Wir setzen auf Qualitätssicherung und Patientensicherheit. Beide sind Modelle gelebten Patientenschutzes und dienen Ärzten und Patienten gleichermaßen. Versorgung nach den bestmöglich erreichbaren Standards ist ein Anrecht, das Patienten von Politik, Leistungsträgern und Ärzten in einer so reichen und hoch differenzierten Gesellschaft wie der unseren berechtigt einfordern. Wir liefern die Modelle, wir haben dazu schon Konzepte entwickelt, lange bevor andere dies überhaupt als Thema – und als Patientenrecht – begriffen hatten. Es waren Ärzte wie Friedrich Kolkmann aus Baden-Württemberg oder Günther Jonitz aus Berlin, die dies gegen alle Widerstände und oft auch aktive Torpedierungsversuche als einen Ausdruck gelebter Patientenrechte durchgesetzt haben. Für diese Sisyphusarbeit schulden wir ihnen viel Dank!

(Beifall)

Voraussetzung der Qualitätssicherung ist die Bereitschaft zur selbstkritischen Überprüfung der diagnostischen und therapeutischen Prozesse. Qualitätssicherung führt zur Entdeckung von Qualitätsdefiziten bzw. Verbesserungspotenzialen. Dies kann aber nur funktionieren, wenn die Qualitätssicherung von den Betroffenen akzeptiert und von ihnen selbst ein- und durchgeführt sowie weiterentwickelt wird. Akzeptanz durch die Betroffenen ist die zentrale Voraussetzung und der Schlüssel zum Erfolg aller eingeleiteten Qualitätssicherungsmaßnahmen.

Als Beispiele institutioneller und mittelbarer Sicherung – durch die Bundesärztekammer initiiert oder mit initiiert – darf ich Folgendes erwähnen:

Als Teil der Qualitätssicherungsmaßnahmen betreibt die Bundesärztekammer gemeinsam mit der Kassenärztlichen Bundesvereinigung das internetbasierte Berichts- und Lernsystem CIRSmedical Deutschland. Es erfasst kritische Ereignisse und Fehler in der Medizin. Es ist in seinem Ansatz den Fehlerkultursystemen der Luftfahrt entlehnt. Und es ist letztlich das, was der Patientenbeauftragte fordert. Sie sehen: Auch in dieser Debatte ist die Ärzteschaft wieder einmal der Politik um Jahre voraus.

Das gilt auch für unser Medical Error Reporting System – MERS. Die Tätigkeit der Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen der Landesärztekammern wird seit 2006 EDV-gestützt bundesweit einheitlich erfasst und in einer Bundesstatistik zusammengeführt. Diese Daten geben nicht nur Auskunft über die Anzahl an Anträgen für eine außergerichtliche Begutachtung von Behandlungsfehlervorwürfen und den entsprechenden Ergebnissen der Begutachtungsverfahren; sie informieren auch differenziert über den Kontext von Fehlergeschehen, die betroffenen Fachgebiete, die durchgeführten Behandlungsmaßnahmen etc. Erst diese Informationen aus vorliegenden Schadensfällen bzw. Fehlervorwürfen liefern wichtige Hinweise zur Fehlerprävention, die dann wiederum Eingang in ärztliche Fortbildungsmaßnahmen finden.

Im April 2005 hat sich das Aktionsbündnis Patientensicherheit e. V. gegründet. Unter dem Dach des Aktionsbündnisses vernetzen sich über 120 Vertreter aus allen Bereichen des Gesundheitswesens. Übergreifendes Ziel dieses Netzwerks ist es, die Patientensicherheit im deutschen Gesundheitswesen zu fördern. Günther Jonitz ist gegenwärtig Vorsitzender dieses Bündnisses. Er leistet dort gute und wichtige Arbeit für die Patienten und für uns.

(Beifall)

Diese Maßnahmen sind aktive Bemühungen der Ärzteschaft, Patientenrechte in konkretes Handeln und in direkten Nutzen für Patienten umzusetzen. Damit kommt man weiter, liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht mit rechtsdogmatischen Debatten über „Patientenrecht“ oder gar „Patientenschutz“. Nicht Paragrafen haben wir vor Augen, sondern Handlungen.

Lassen Sie mich abschließend ganz kurz folgende Thesen formulieren. Wichtiger als eine ausschweifende Debatte über den Sinn oder Unsinn eines Patientenrechtegesetzes mit dem Risiko erheblicher Rechtsveränderungen im parlamentarischen Verfahren wäre die Forderung:

      Die solidarisch getragene medizinische Versorgung muss auch in Zukunft für jedermann erreichbar sein, dem aktuellen medizinischen Standort entsprechend und mit ausreichenden Ressourcen flächendeckend – auch für den Notfall – ausgestattet sein. Dafür lohnt es zu streiten!

(Beifall)

      Versorgungsstrukturen müssen primär am medizinischen Bedarf des Patienten ausgerichtet sein und dürfen nicht von ökonomischen Einsparzielen dominiert werden. Hier müssen Patienten und Ärzte gemeinsam kämpfen!

      Qualitätsmanagement und Kompetenzförderung bringen eine stetige Entwicklung und Verbesserung der ärztlichen Behandlung. Sie nutzen Patienten und Ärzten gleichermaßen. Dabei kämpfen wir für unsere Überzeugung, dass Anreiz und Motivation erfolgversprechender sind als Zwang!

      Priorisierung und Rationierung stehen längst nicht nur als Debattenmodelle im Raum, sondern sind gegenwärtig in unseren Praxen, Kliniken und Krankenzimmern. Wir wollen nicht esoterisch über längst geregelte rechtsdogmatische Fragen diskutieren. Wir brauchen eine klare gesellschaftliche, lösungsorientierte, pragmatische und vor allem gerechte Debatte über die Priorisierung ärztlicher Leistungen in einer Zeit, in der die Schere zwischen Ressourcen und Möglichkeiten erkennbar immer weiter aufgehen wird. Dafür, liebe Kolleginnen und Kollegen, setzen wir uns ein, das verlangen wir für unsere Patienten!

Vielen Dank, dass Sie mir zugehört haben.

(Beifall)

Präsident Prof. Dr. Dr. h. c. Hoppe: Vielen Dank, Frank Ulrich Montgomery, für diesen präzisen Vortrag und vor allen Dingen auch für die starke politische Aussage, die darin steckt. Ich glaube, die Botschaft muss in Berlin ankommen. Dann wird man sich überlegen, ob man auf dem richtigen Weg ist.

Ich begrüße jetzt noch einmal Herrn Dr. med. Peter Liese, Mitglied des Europäischen Parlaments, Mitglied im Ausschuss für Umwelt, Gesundheit und Verbraucherschutz des Europäischen Parlaments. Er wird uns aus europapolitischer Sicht darstellen, wie die Situation in den Mitgliedsländern der Europäischen Union aussieht. Bitte schön, Dr. Liese.

© Bundesärztekammer 2010