Dr. Liese, MdEP, Referent:
Sehr geehrter Herr Präsident Professor Hoppe! Herr
Vizepräsident Dr. Montgomery! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr
geehrte Damen und Herren! Ich bedanke mich ganz herzlich für die Einladung zum
Deutschen Ärztetag. Ich möchte die Gelegenheit auch nutzen, mich für die gute
Zusammenarbeit in den vergangenen Jahren zu bedanken, insbesondere auch bei
Herrn Professor Hoppe, bei Herrn Dr. Montgomery, der ja auch Vizepräsident des
Ständigen Ausschusses der Europäischen Ärzte ist, und bei Herrn Dückers. Die
Entscheidungen der Europäischen Union und damit fast immer auch die
Entscheidungen des Europäischen Parlaments haben einen immer stärkeren Einfluss
auf die Arbeit von Ärztinnen und Ärzten in Deutschland. Deshalb ist es wichtig,
dass Sie Ihren Sachverstand in die europäischen Entscheidungen mit einbringen.
Ich begrüße es sehr, dass die
Bundesärztekammer ihre Vertretung in Brüssel ausgebaut hat. Sie haben dort
jetzt zwei Vollzeitmitarbeiterinnen. Damit sind Sie immer noch wesentlich
schwächer vertreten als viele andere „Lobbyisten“, vor allen Dingen aus der
Industrie. Aber die Ärzteschaft hat eine hohe Glaubwürdigkeit. Deshalb haben
wir gemeinsam auch schon einiges erreicht.
Ich möchte an alle Ärztinnen und
Ärzte in Deutschland appellieren: Nutzen Sie diese Möglichkeit und die
Informationen, die das Brüsseler Büro Ihnen gibt. Nutzen Sie auch die
Möglichkeit, dort Anregungen für die europäische Politik einzubringen.
Wir haben schon einiges gemeinsam
erreicht. Ich möchte einige Beispiele nennen. Der offensichtlichste Erfolg ist
sicher das Engagement im Zusammenhang mit der Arbeitszeitrichtlinie. Ich weiß,
dass es auch unter den Ärzten in Deutschland Nuancierungen in der Position
gibt. Aber es gab die ganz klare Position – das war auch richtig –, dass der
Beschluss der Arbeits- und Sozialminister, der sehr konkret die Rückkehr zu
Marathondiensten bedeutet hätte, nicht akzeptabel war.
(Beifall)
In einer beispiellosen
Mobilisierungsaktion – ich hatte in den Tagen der Entscheidung praktisch eine
Standleitung mit Rudolf Henke – haben es deutsche Ärzte geschafft, diesen
Gemeinsamen Standpunkt zu Fall zu bringen. Sie haben damit etwas für die
deutschen Ärzte, aber, wie ich glaube, auch für die Patienten erreicht.
(Beifall)
Ich glaube, man kann es weitgefasst
so sagen: Der Patient hat das Recht auf einen ausgeschlafenen Arzt, der seiner
verantwortungsvollen Tätigkeit entsprechend nachgehen kann. Es wurde schon über
die Frage der Attraktivität des Arztberufs und der Vereinbarkeit von Familie
und Beruf gesprochen. Dazu gehört sicherlich auch das Thema der Arbeitszeit.
Gemeinsam haben wir es auch
geschafft, einen Anachronismus im europäischen Recht und in der europäischen
Politik zu beseitigen. Bis vor Kurzem war die Arzneimittelpolitik in der
Europäischen Union ein Bereich der Industriepolitik. Industriekommissar
Verheugen hat Arzneimittelrecht gemacht. Die Bundesärztekammer und ich an den
Stellen, an denen ich Einfluss hatte, haben darauf gedrängt, dass dies geändert
wird. Es war ein Anachronismus. In keinem Staat der Welt, noch nicht einmal in
den USA, ist die Industriepolitik, die Wirtschaftspolitik für das
Arzneimittelrecht zuständig. Bei Arzneimitteln muss die Gesundheit im
Vordergrund stehen. Deswegen ist es gut, dass wir hier eine Änderung
herbeigeführt haben. Jetzt ist der Gesundheitskommissar zuständig, nicht mehr
der Industriekommissar. Das haben wir gemeinsam erreicht, meine Damen und
Herren.
(Beifall)
Ganz aktuell haben wir erfolgreich
beim Thema Organspende zusammengearbeitet. Die Vertreter des Europäischen
Parlaments, der Kommission und des Ministerrats haben sich Ende April auf den
Text einer Richtlinie über die Organspende geeinigt. Gegenüber dem
ursprünglichen Entwurf der Europäischen Kommission gab es berechtigte Kritik
von den Vertretern der Transplantationsmedizin, insbesondere in Deutschland,
deshalb offiziell auch von der Bundesärztekammer.
Es gab den Vorschlag, in allen
Mitgliedstaaten eine zentrale Behörde zur Überwachung der Organspende
einzuführen. Dieser vielleicht gut gemeinte Vorschlag berücksichtigt jedoch
nicht die unterschiedliche Praxis in den Mitgliedstaaten. Wir haben in
Deutschland keine Behörde zur Überwachung der Organspende, sondern wir haben
diese Aufgaben durch Gesetz an Organisationen delegiert, die etwas davon
verstehen, beispielsweise an die Ständige Kommission „Organtransplantation“ bei
der Bundesärztekammer, zum Teil auch an die DSO.
Wir brauchen keine neue Behörde in
diesem Bereich, meine Damen und Herren.
(Beifall)
Deswegen haben wir im Europäischen
Parlament einen Vorschlag der Bundesärztekammer und des Ständigen Ausschusses
der Europäischen Ärzte eingebracht. Der Ministerrat und die Europäische
Kommission haben diesem Vorschlag zugestimmt. Die bewährten Formen der
Zusammenarbeit, der Subsidiarität können erhalten bleiben, wenn das Ergebnis –
Qualität und Sicherheit von Organen – auch so erreicht werden kann.
Meine Damen und Herren, nach so
viel Lob für die gute Zusammenarbeit jetzt ein klein bisschen Kritik. Im
Verfahren zu diesem neuen Richtlinientext hat es aus meiner Sicht ein
Missverständnis gegeben. Ich habe gesagt: Wir haben die Forderungen der
Bundesärztekammer aufgenommen, im Europäischen Parlament eingebracht und auch
gegenüber den anderen Institutionen in Europa durchgesetzt. Bereits Anfang
Januar lag ein Vorschlag des zuständigen Berichterstatters des Europäischen
Parlaments, Miroslav Mikolášik,
eines Intensivmediziners, auf dem Tisch. Der Berichterstatter hat auf meine
Anregung hin diesen Vorschlag der Bundesärztekammer formell als Position des
Europäischen Parlaments eingebracht.
Trotzdem erschien am 26. Januar
2010 eine Pressemitteilung der Bundesärztekammer mit der Überschrift „Brüsseler
Zentralisierungspläne bei Organspenden lösen keine Probleme, sondern schaffen
neue“. In sehr scharfer Form – aus meiner Sicht: in zu scharfer Form – wurde
darin die geplante Richtlinie kritisiert. Man kündigte an, gemeinsam mit der
Bundesregierung gegen den Vorschlag zu kämpfen.
In der Sache war die Kritik
berechtigt. Wir haben sie uns zu eigen gemacht. Aber die Form war etwas zu
scharf, weil sie die Differenzierung nicht berücksichtigt hat. Die Kritik war
nicht auf der Höhe der Zeit. Es gab schon diesen Gegenvorschlag, aber er wurde
mit keinem Satz erwähnt. Wenn man in Brüssel mit seiner Interessenvertretung
erfolgreich sein will, muss man wissen, wie der Stand der Diskussion ist. Wenn
man Bündnispartner hat, sollte man sie auch erwähnen und unterstützen und nicht
Brüssel pauschal beschimpfen. So kommt man nämlich nicht zum Erfolg.
(Beifall)
Damit, meine Damen und Herren,
komme ich zu den Patientenrechten im engeren Sinne. Dieses Thema ist in den
Gremien der Europäischen Union zurzeit in zweierlei Hinsicht sehr aktuell. Zum
Ersten ist am 1. Dezember 2009 der Vertrag von Lissabon in Kraft getreten. In
diesem Vertrag steht auch, dass die Charta der Grundrechte, die es schon
längere Zeit gibt, die bisher aber nicht rechtlich verbindlich war, für das
Handeln der Europäischen Union rechtlich verbindlich ist. In dieser Charta der
Grundrechte finden sich eine Reihe von Rechten, die natürlich auch die
Patienten betreffen. An erster Stelle, in Artikel 1 der Charta, steht:
Die Würde des Menschen ist
unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen.
Das kommt uns in Deutschland
bekannt vor: Das ist wörtlich aus dem deutschen Grundgesetz entnommen. Der
Autor dieser Charta der Grundrechte des Konvents, der die Charta entwickelt
hat, war unser früherer Bundespräsident Roman Herzog.
Viele Staaten in Europa kennen den
Begriff der Menschenwürde in ihrer Rechtsordnung nicht. Jetzt ist er
eingeführt.
Für unsere heutige Diskussion ist
Artikel 3 sicherlich am Wichtigsten. Dort geht es um das Recht auf
Unversehrtheit. Es heißt wörtlich:
Jede Person hat das Recht auf
körperliche und geistige Unversehrtheit. Im Rahmen der Medizin und der Biologie
muss insbesondere Folgendes beachtet werden …
Es werden sodann einige Prinzipien
aufgezählt. An erster Stelle steht – das haben wir eben auch von Herrn
Montgomery gehört – die freie Einwilligung der betroffenen Person nach vorheriger
Aufklärung.
Artikel 35 behandelt speziell den
Gesundheitsschutz. Dort heißt es:
Jede Person hat das Recht auf
Zugang zur Gesundheitsvorsorge und auf ärztliche Versorgung nach Maßgabe der
einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten. Bei der Festlegung
und Durchführung aller Politiken und Maßnahmen der Union wird ein hohes
Gesundheitsschutzniveau sichergestellt.
Die Charta der Grundrechte regelt
nicht jedes Detail. Sie schafft auch keine neuen Kompetenzen für die
Europäische Union, etwa dort, wo wir sie noch nicht haben. Im
Gesundheitsbereich gibt es einige Kompetenzen, aber es gibt weiterhin auch
viele Dinge, die national entschieden werden.
Wie die Prinzipien der Charta der
Grundrechte konkret in die Praxis umgesetzt werden, wird sich in den nächsten
Jahren noch zeigen müssen. Einen konkreten Punkt können wir aber heute schon
feststellen: In die Richtlinie über Organtransplantation wurde das Prinzip der
freiwilligen und unentgeltlichen Spende rechtlich verbindlich für alle
Mitgliedstaaten aufgenommen. Das war nicht einfach. Ich glaube, das ist sehr im
Sinne der deutschen Ärzteschaft. Wir haben immer das Prinzip verteidigt: Nicht
derjenige darf ein Organ bekommen, egal wo in Europa, der das meiste Geld hat,
sondern derjenige, der es medizinisch braucht.
(Beifall)
Beim Thema Patientenrechte in
Europa denken wir natürlich vor allem an die geplante Richtlinie zur Ausübung
der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung. Das
wird eine Richtlinie sein, die nach meiner Einschätzung in den nächsten Monaten
angenommen wird, die ganz konkret Patientenrechte in der Europäischen Union
kodifiziert und bestimmte Rechte festschreibt. Der Vorschlag stammt vom 2. Juli
2008. Wir im Europäischen Parlament haben im vergangenen Jahr den Vorschlag mit
Änderungsanträgen angenommen. Wir entscheiden immer gemeinsam mit dem
Ministerrat. Das ist wie in Deutschland bei zustimmungspflichtigen Gesetzen,
dass Bundestag und Bundesrat entscheiden müssen. Der Ministerrat konnte sich
bisher nicht einigen, obwohl kein einstimmiger Beschluss notwendig ist, sondern
eine qualifizierte Mehrheit ausreicht. Diese ist bisher noch nicht zustande
gekommen.
Es kann sein – deshalb sollten Sie
sich als Bundesärztekammer aktiv einschalten –, dass sich in den nächsten Tagen
der Europäische Ministerrat auf einen entsprechenden Text einigt. Bisher war
Spanien ein Kritiker der Richtlinie. Aber die spanische Präsidentschaft hat
einen entsprechenden Vorschlag vorgelegt.
Um was geht es? Die Richtlinie
definiert Patientenrechte genauso wie der Titel des derzeitigen
Tagesordnungspunkts und die Rede von Herrn Dr. Montgomery. Es geht um Rechte an
Staat und Gesellschaft und nicht vor allem um Rechte des Patienten gegenüber
dem Arzt allein oder vor allen Dingen gegenüber dem Arzt. Es geht um das Recht,
eine geplante medizinische Behandlung im Ausland in Anspruch nehmen zu können
und dies auch von der gesetzlichen Krankenversicherung im jeweiligen
Mitgliedstaat der Europäischen Union erstattet zu bekommen. Ich glaube, dies
ist ganz im Sinne der deutschen Ärzteschaft. Es geht um die Umsetzung der
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in Einzelfällen. Es haben
diesbezüglich schon viele Patienten vor dem Europäischen Gerichtshof geklagt
und Recht bekommen, dass sie eine Behandlung im Ausland durchführen lassen
können.
In Deutschland ist die
entsprechende gesetzliche Regelung für alle Patienten umgesetzt. Jeder deutsche
Patient hat das Recht auf Erstattung von geplanten Behandlungen, beispielsweise
Operationen, im Ausland.
Andere Länder der Europäischen
Union haben das nicht getan. Sie verweisen Patienten auf den Klageweg. Aus
unserer Sicht im Europäischen Parlament ist es zynisch, einem Patienten zu
sagen, dass er zwar das Recht hat, eine medizinische Behandlung im Ausland in
Anspruch zu nehmen, dass er dies aber gegebenenfalls durch alle Instanzen
einklagen muss. Die Patienten haben oft nicht die Mittel dazu und bei
lebensbedrohlichen Erkrankungen schlicht nicht die Zeit, den ganzen
Instanzenweg zu beschreiten. Auf Deutsch gesagt: Bis der Europäische
Gerichtshof nach drei Jahren sein Urteil gesprochen hat, kann der Patient tot
sein. Deswegen ist die Haltung dieser anderen Mitgliedstaaten zynisch, meine
Damen und Herren.
(Beifall)
Daher hat das Europäische Parlament
die Richtlinie begrüßt. Wir erfahren dabei die Unterstützung der Ärzteschaft in
der Europäischen Union. Ich habe in der vergangenen Woche mit dem Präsidenten
des Ständigen Ausschusses der Europäischen Ärzte, dem polnischen Kollegen Dr.
Konstanty Radziwill, über diese Frage gesprochen. Er setzt sich für die Annahme
dieser Richtlinie ein. Das entspricht auch der Beschlussfassung des Ständigen
Ausschusses. Er will versuchen, Polen, das noch ein bisschen zögert, auf den
richtigen Weg zu bringen.
Natürlich brauchen wir auch hier Regeln
und Grenzen. Hoch spezialisierte Behandlungen und Krankenhausbehandlungen
sollen auch nach dieser Richtlinie nur nach vorheriger Genehmigung im Ausland
möglich sein, damit beispielsweise die Krankenhausplanung nicht komplett
unterlaufen wird.
Sehr wichtig ist uns außerdem, dass
ethische Grenzen von Diagnostik und Behandlungsmethoden auch außerhalb der
Europäischen Union respektiert werden. Dabei geht es nicht nur um gesetzliche
Verbote, sondern auch um die Regeln des ärztlichen Standesrechts. Es kann nicht
sein, dass ein deutscher Mediziner in Aachen, wo ich einen Teil meines Studiums
absolviert habe, durch Standesrecht an bestimmte Regeln gebunden ist, während
dies hinter der nahe gelegenen Grenze in den Niederlanden oder in Belgien nicht
gilt. Dies würde nämlich dazu führen, dass der Gesetzgeber im Zweifel weniger
Standesrecht zulässt, sondern alles durch den Bundestag gesetzlich oder gar
strafrechtlich beschließen lässt.
Wir haben uns in Deutschland ganz
gut darauf eingestellt – es hat sich bewährt –, dass nicht jedes Detail
per Gesetz geregelt wird, sondern dass das Standesrecht eine wichtige Rolle
spielt. Deshalb müssen wir genau an dieser Stelle aufpassen, dass uns die
europäische Richtlinie nicht zwingt, alles gesetzlich zu regeln. Das würde die
Selbstverwaltung aushöhlen und mehr Bürokratie mit sich bringen.
(Beifall)
Ich hoffe, dass mit diesen
Einschränkungen die Richtlinie möglichst bald kommt. Ich glaube, sie ist eine
Chance für die deutsche Ärzteschaft und die anderen – ich habe heute Morgen
gehört, man solle dieses Wort nicht benutzen, aber mir fällt im Moment kein
besseres ein – Leistungserbringer im Gesundheitswesen, denn allen Unkenrufen
zum Trotz ist das deutsche Gesundheitswesen noch eines der besten in Europa.
(Beifall)
Manchmal meint man das nicht, weil
wir uns natürlich mit den Schwachstellen beschäftigen. Aber ich möchte als
Patient nicht mit dem britischen Gesundheitswesen tauschen.
In meiner Zeit in der Kinderklinik
in Paderborn, wo ich gearbeitet habe, bevor ich ins Europäische Parlament
gewählt wurde, hatte ich eine Schlüsselerfahrung. Wir haben auch die Kinder von
britischen Militärangehörigen betreut. Das Schlimmste, das wir den Eltern sagen
konnten, war: Es besteht kein akuter Behandlungsbedarf mehr, es ist kein
Notfall, Sie müssen jetzt in eine britische Klinik oder in das ambulante
britische Gesundheitssystem. Das war für die Eltern der britischen Kinder eine
schlimme Drohung.
Ich glaube,
gerade aus der Sicht der Patienten haben wir ein relativ gutes
Gesundheitssystem. Wir müssen trotzdem an Verbesserungen arbeiten. Wir sollten
aber nicht das Ganze schlechtreden. Die staatlich verwalteten Systeme wie
beispielsweise in Großbritannien sind bestimmt auch für die Patienten nicht
besser. Da nicht nur deutsche Patienten das Recht haben, ins europäische
Ausland zu gehen und die Kosten erstattet zu bekommen, sondern auch die
Patienten aus anderen Ländern, insbesondere aus Ländern mit langen Wartelisten
für dringend notwendige Behandlungen, glaube ich, dass wir einen Nettotransfer
von Patienten nach Deutschland bekommen werden. Das wird unser
Gesundheitssystem nicht sanieren, aber dies kann ein Beitrag dazu sein, dass
wir bestimmte Probleme zumindest abmildern können.
(Beifall)
Meine Damen und Herren,
Patientenrechte werden im Europäischen Parlament auch immer wieder als
Schlagwort in andere Diskussionen eingebracht, beispielsweise bei der
Diskussion über das Arzneimittelrecht. Es wird ein Recht des Patienten auf
Information über verschreibungspflichtige Arzneimittel prosperiert. Ich glaube,
der Patient hat ein Recht, informiert zu werden: Der Vorschlag, den uns noch
Industriekommissar Verheugen im Jahr 2008 auf den Tisch gelegt hat, ist eher
ein Vorschlag, der ein Recht der Pharmaindustrie auf Werbung für
verschreibungspflichtige Arzneimittel prosperiert. Das steht aus meiner Sicht
im Vordergrund dieses Richtlinienvorschlags. Im Vordergrund sollte aber das
Recht des Patienten auf unabhängige und sachgerechte Information stehen.
(Beifall)
Deswegen ist
die Kritik, die von der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft und
vielen anderen am Verheugen-Vorschlag geübt wird, richtig. Das Werbeverbot für
verschreibungspflichtige Arzneimittel muss bestehen bleiben, meine Damen und
Herren.
(Beifall)
Wir haben gemeinsam eine
Reihe von Veranstaltungen durchgeführt, auch mit Patientenvertretern. Wir haben
ganz bewusst deutsche Patientenvertreter nach Brüssel eingeladen, um ihre
Position zu diesem Vorschlag zu hören. Wir haben sehr viel Verständnis für die
Kritik der deutschen Ärzteschaft erfahren. Auch der neue Gesundheitskommissar
teilt diese Kritik. Wir werden den Verheugen-Vorschlag so sicher nicht
annehmen.
Wir werden Änderungen am bisherigen
Recht anstreben. Dazu gibt es aus der Ärzteschaft den Vorschlag einer
sogenannten Drug Fakt Box auf den Beipackzetteln. Das bedeutet, dass man auf
den Beipackzetteln die wichtigsten Punkte zusammenfasst. Ich glaube, genehmigte
und vor allem unabhängige Informationen sollten verstärkt beispielsweise über
das Internet zur Verfügung gestellt werden.
Damit, meine Damen und Herren,
komme ich zu dem Punkt, der in der Rede von Dr. Montgomery im Vordergrund
stand, nämlich der Diskussion über ein Patientenrechtegesetz oder gar
Patientenschutzgesetz. Wie sieht hier die Situation in anderen Ländern der
Europäischen Union aus? Eine Reihe von europäischen Ländern haben spezielle
Gesetze zu Patientenrechten, die auch diesen Titel tragen. Das gilt
beispielsweise für Dänemark seit 1989, für Finnland seit 1992, für Ungarn seit
1997, für Frankreich seit 2002, für Litauen seit 2000 und für Slowenien seit
2008.
Deutschland ist natürlich nicht das
einzige Land in Europa, das kein spezielles Patientenschutzgesetz hat. Andere
Länder mit ebenfalls hoch entwickelten Gesundheitssystemen und in der Praxis
durchaus guten Patientenrechten haben keine speziellen Gesetze. Länder wie
Italien, Luxemburg, Portugal und Schweden haben kein spezielles
Patientenrechtegesetz. Die Definitionen der Patientenrechte und ihre
Ausgestaltung sind in den Ländern mit speziellen Gesetzen sehr unterschiedlich.
Außer der geplanten Richtlinie, die in erster Linie Ansprüche an die
Kostenträger begründet, wenn der Patient ins Ausland geht, ist keine
Harmonisierung von Patientenrechten auf europäischer Ebene geplant.
Sehr spannend ist in dieser
Hinsicht ein Vergleich der Patientenrechte in den Mitgliedstaaten der
Europäischen Union durch den European Health Consumer Index des Health Consumer
Powerhouse. Patientenrechte sind ein wichtiger Untersuchungsschwerpunkt des
seit 2005 durchgeführten patientenorientierten Vergleichs der
Leistungsfähigkeit von 33 europäischen Gesundheitssystemen. In dem Ranking sind
Länder mit speziellem Patientenrechtegesetz nicht unbedingt besser als Länder
ohne spezielles Gesetz. Natürlich gibt es Pluspunkte; das muss man ganz offen
sagen. Bei dieser Untersuchung bekommt man Bonuspunkte, wenn man entsprechende
spezielle Gesetze hat.
In den letzten Jahren lag
Deutschland immer auf den vorderen Plätzen. Von 33 untersuchten Ländern hat
Deutschland einmal den dritten, einmal den fünften und in 2009 immerhin noch
den sechsten Platz erreicht. Sechster unter 33 – das ist nicht schlecht. Wenn
wir das beim Grand Prix erreichen, sind wir immer ganz zufrieden. Wir sind in
Europa, was die Situation der Patienten angeht, nicht bei den Schlechtesten, sondern
wir sind bei den Besten, auch ohne ein spezielles Gesetz.
Trotzdem möchte ich nicht – das ist
auch nicht meine Aufgabe – dem Deutschen Bundestag vorschreiben, was er machen
soll. Das entspricht dem Subsidiaritätsprinzip. Natürlich müssen sich die Bundestagsabgeordneten
damit auseinandersetzen. Man kann nicht sagen: Es ist eine zwingende
Notwendigkeit in der Europäischen Union, ein solches Gesetz auf den Weg zu
bringen.
Nun zur Frage der Beweislast. Dies
ist das sensibelste und schwierigste Thema. Wir haben es auch in der
Europäischen Union mehrfach diskutiert. Im Jahr 1990 gab es einen
Gesetzgebungsvorschlag der Europäischen Kommission zur Umkehr der Beweislast.
Dieser Vorschlag wurde seinerzeit von der Bundesärztekammer sehr heftig
kritisiert. Sie war mit ihrer Kritik nicht allein. Es gab auch Kritik aus den
Mitgliedstaaten. Die damalige Bundesregierung unter Helmut Kohl hat den
Vorschlag ebenfalls abgelehnt. Genauso gab es Kritik im Europäischen Parlament.
Der Vorschlag wurde zurückgezogen.
Als ich damals als junger
Abgeordneter ins Europäische Parlament kam, hat man mir gesagt: Das kommt
sicher irgendwann wieder. Es ist auch wiedergekommen. Es gab 2006 noch einmal
eine Diskussion in diesem Bereich. Ein sozialdemokratischer Kollege aus
Finnland hat sich auf den Vorschlag aus den 90er-Jahren bezogen und noch einmal
das Thema der Haftung auf europäischer Ebene angesprochen.
Sein Vorschlag wurde jedoch nicht
unterstützt. Das Europäische Parlament hat sich diese Idee einer
Beweislastumkehr und einer harmonisierten europäischen Haftungsregelung nicht
zu eigen gemacht.
Ich finde: Das geschah aus gutem
Grund. Die Beweislastumkehr wird von Europa keineswegs vorgeschrieben. Es gibt
gute Gründe, sie auch in Deutschland nicht einzuführen. Eine defensive Medizin
nutzt dem Patienten nicht. Es kann nicht richtig sein, dass derjenige Arzt im
Zweifel besser dasteht, der eine notwendige Operation oder einen anderen
notwendigen Eingriff nicht durchführt und stattdessen zu einer konservativen
Therapie rät und einfach abwartet. Auf Deutsch gesagt: Weiße Salbe statt
notwendiger Eingriffe, weil man Angst vor Haftungsansprüchen hat, kann nicht
die richtige Lösung sein.
(Beifall)
Nun ist man ein bisschen
verunsichert. In den letzten Tagen wurde eine Studie bekannt, die ernsthaft herausgefunden
hat, dass an Tagen, an denen Ärzte streiken, weniger Menschen versterben als an
jenen Tagen, an denen die Ärzte ihre Tätigkeit normal verrichten. Da denken
manche: Das ist so, weil die Ärzte so viele Fehler machen, so schlecht
behandeln, so viele unnötige Operationen durchführen, dass an solchen Tagen die
Patienten überleben.
Auch hier gilt: Wer nichts tut,
kann auch keine Fehler machen. Ferner ist offensichtlich, dass auch bei einer
sachgerecht durchgeführten Operation immer ein bestimmtes Risiko besteht. Wenn
die Operation aber notwendig ist, würden die Patienten eben eine Woche oder
einen Monat später versterben. Das ist zwar auf den ersten Blick eine skurrile
Geschichte, aber sie bedeutet trotzdem, dass notwendige indizierte Eingriffe durchgeführt
werden müssen. Eine Umkehr der Beweislast würde auch für die Patienten ein
Riesenproblem mit sich bringen.
(Beifall)
In dem Antrag der SPD wird
die Frage diskutiert – in den Niederlanden gibt es schon ein entsprechendes
Gesetz –, ob man nicht bestimmte Beweislasterleichterungen und eine Umkehr der
Beweislast in konkreten Fällen haben sollte. Es wird beispielsweise gefordert:
Bei einer nicht vollständigen Dokumentation dreht sich die Beweislast um. Das
hört sich vielleicht verständlich an, weil man ja auch weiß, dass der Patient
manchmal Schwierigkeiten hat, zu seinem Recht zu kommen.
Wir müssen aber auch die negativen
Folgen sehen. Was heißt „nicht vollständige Dokumentation“? Man kann, wenn man
will, die Dokumentationspflichten ständig ausdehnen. Das widerspricht dem, was
auf diesem Ärztetag ein zentrales Thema ist, nämlich den Arztberuf attraktiver
zu machen. Bei diesem Thema allein auf Dokumentation zu setzen, bringt
Bürokratie und macht den Arztberuf garantiert nicht attraktiver.
(Beifall)
Zum Schluss, meine Damen und
Herren, ganz kurz ein paar Sätze zu den kollektiven Patientenrechten. Ich bin
für die Beteiligung von Patientenselbsthilfegruppen an der Gesundheitspolitik.
Das gilt für mich seit mindestens 20 Jahren. Im Zusammenhang mit meiner Doktorarbeit
am humangenetischen Institut habe ich intensiv mit Patientenselbsthilfegruppen
und Elternvereinigungen im Bereich der Humangenetik zusammengearbeitet. Ich
glaube, Patientenselbsthilfegruppen sind eine große Bereicherung unserer
Gesellschaft. Sie verdienen die Unterstützung der Solidargemeinschaft, sie
verdienen auch die Kooperation von Ärztinnen und Ärzten.
In der Europäischen Union haben wir
die Mitwirkung von Patientenvertretern institutionalisiert, mit vielen Gremien,
die auch Entscheidungen treffen, beispielsweise bei der Europäischen
Arzneimittelagentur. Dort sind Patientenvertreter von Rechts wegen beteiligt.
Ich glaube, das ist richtig. Ich
begrüße auch die bessere Beteiligung von Patienten im deutschen
Gesundheitssystem, auch die institutionalisierte Beteiligung.
Aber es ist ganz wichtig – darauf
müssen wir viel stärker achten, in Deutschland und noch mehr in Europa –, dass
diese Vertreter wirklich für die Patienten sprechen. Es gibt leider teilweise
hauptamtliche Patientenvertreter, die nur wenige Betroffene hinter sich haben.
Sie haben daraus einen Beruf gemacht. Noch schlimmer finde ich die Tatsache,
dass es Organisationen gibt, die praktisch für die Pharmaindustrie und nur
vordergründig für Patienten sprechen.
(Beifall)
Leider gibt es – das ist in Europa
noch häufiger der Fall als in Deutschland – Organisationen, die zu 100 Prozent
und noch mehr Organisationen, die zum überwiegenden Teil von der Industrie
finanziert werden.
Selbst bei noch so gutem Willen –
den man nicht allen unterstellen kann, ich will ihn aber auch nicht allen
absprechen – gilt, wenn man 100 Prozent seines Budgets von einer bestimmten
pharmazeutischen Firma erhält, der alte Spruch: Wes Brot ich ess’, des Lied ich
sing’.
Wir müssen, wenn wir
Patientenorganisationen in Deutschland und in Europa stärker beteiligen – dafür
bin ich –, die unabhängigen Patientenorganisationen stärken und strenge Regeln
für die Finanzierung dieser Organisationen durch die pharmazeutische Industrie
schaffen.
(Beifall)
Der neue Gesundheitskommissar Dalli
hat angekündigt, dass er sich intensiv um dieses Thema kümmern wird.
Meine Damen und Herren, ich komme
zum Schluss: Unabhängige Patientenorganisationen leisten einen ganz wichtigen
Beitrag. Wir sollten ihre Rolle stärken. Aber Tarnorganisationen der Industrie
sollten nicht über die Gesundheitspolitik mit entscheiden.
Herzlichen Dank.
(Beifall)
Präsident Prof. Dr. Dr. h.
c. Hoppe: Vielen Dank für diese Informationen, lieber Herr Liese. Wir sind
ganz erstaunt, dass wir hören müssen, dass Länder wie Schweden kein
Patientenrechtegesetz haben. Das hätten wir anders vermutet, ich zumindest. Es
ist schon bemerkenswert, dass diejenigen Länder, die Patientenrechtegesetze
haben, im Wesentlichen solche Länder sind, die unterfinanzierte Systeme haben.
Man könnte im Umkehrschluss überlegen, ob nicht die Diskussion über ein
Patientenrechtegesetz in Deutschland darauf hindeutet, dass man unser System
nicht finanziell besser ausstatten will und den Patienten suggeriert, dass sie
Rechte bekommen sollen, die sie aber gar nicht erhalten können, weil sie nicht
finanziert werden. Das wäre eine Vorspiegelung falscher Tatsachen. Darüber
müssen wir intensiv diskutieren.
Noch einmal vielen Dank für diesen
Überblick über die europäische Situation und das, was im Europäischen Parlament
und bei der Europäischen Kommission geschieht.
Bevor wir in die Diskussion
eintreten, möchte ich Herrn Dr. Egidio Cepulić von der kroatischen Ärztekammer, der uns schon seit mehreren
Jahren bekannt ist, begrüßen. Herzlich willkommen, Herr Dr. Cepulić!
(Beifall)
Aus der Schweiz begrüße ich Herrn
Dr. Jacques de Haller, Präsident der Verbindung Schweizer Ärzte. Das ist
sozusagen die Parallelorganisation zur Bundesärztekammer. Herzlich willkommen,
Herr Dr. de Haller!
(Beifall)
Wir treten in die Aussprache ein.
Als Erster hat sich Professor Dietrich aus Bayern gemeldet. Bitte, Herr Dietrich.
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