TOP IV: Patientenrechte – Anspruch an Staat und Gesellschaft

Mittwoch, 12. Mai 2010, Vormittagssitzung

Dr. Liese, MdEP, Referent: Sehr geehrter Herr Präsident Professor Hoppe! Herr
Vizepräsident Dr. Montgomery! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich bedanke mich ganz herzlich für die Einladung zum Deutschen Ärztetag. Ich möchte die Gelegenheit auch nutzen, mich für die gute Zusammenarbeit in den vergangenen Jahren zu bedanken, insbesondere auch bei Herrn Professor Hoppe, bei Herrn Dr. Montgomery, der ja auch Vizepräsident des Ständigen Ausschusses der Europäischen Ärzte ist, und bei Herrn Dückers. Die Entscheidungen der Europäischen Union und damit fast immer auch die Entscheidungen des Europäischen Parlaments haben einen immer stärkeren Einfluss auf die Arbeit von Ärztinnen und Ärzten in Deutschland. Deshalb ist es wichtig, dass Sie Ihren Sachverstand in die europäischen Entscheidungen mit einbringen.

Ich begrüße es sehr, dass die Bundesärztekammer ihre Vertretung in Brüssel ausgebaut hat. Sie haben dort jetzt zwei Vollzeitmitarbeiterinnen. Damit sind Sie immer noch wesentlich schwächer vertreten als viele andere „Lobbyisten“, vor allen Dingen aus der Industrie. Aber die Ärzteschaft hat eine hohe Glaubwürdigkeit. Deshalb haben wir gemeinsam auch schon einiges erreicht.

Ich möchte an alle Ärztinnen und Ärzte in Deutschland appellieren: Nutzen Sie diese Möglichkeit und die Informationen, die das Brüsseler Büro Ihnen gibt. Nutzen Sie auch die Möglichkeit, dort Anregungen für die europäische Politik einzubringen.

Wir haben schon einiges gemeinsam erreicht. Ich möchte einige Beispiele nennen. Der offensichtlichste Erfolg ist sicher das Engagement im Zusammenhang mit der Arbeitszeitrichtlinie. Ich weiß, dass es auch unter den Ärzten in Deutschland Nuancierungen in der Position gibt. Aber es gab die ganz klare Position – das war auch richtig –, dass der Beschluss der Arbeits- und Sozialminister, der sehr konkret die Rückkehr zu Marathondiensten bedeutet hätte, nicht akzeptabel war.

(Beifall)

In einer beispiellosen Mobilisierungsaktion – ich hatte in den Tagen der Entscheidung praktisch eine Standleitung mit Rudolf Henke – haben es deutsche Ärzte geschafft, diesen Gemeinsamen Standpunkt zu Fall zu bringen. Sie haben damit etwas für die deutschen Ärzte, aber, wie ich glaube, auch für die Patienten erreicht.

(Beifall)

Ich glaube, man kann es weitgefasst so sagen: Der Patient hat das Recht auf einen ausgeschlafenen Arzt, der seiner verantwortungsvollen Tätigkeit entsprechend nachgehen kann. Es wurde schon über die Frage der Attraktivität des Arztberufs und der Vereinbarkeit von Familie und Beruf gesprochen. Dazu gehört sicherlich auch das Thema der Arbeitszeit.

Gemeinsam haben wir es auch geschafft, einen Anachronismus im europäischen Recht und in der europäischen Politik zu beseitigen. Bis vor Kurzem war die Arzneimittelpolitik in der Europäischen Union ein Bereich der Industriepolitik. Industriekommissar Verheugen hat Arzneimittelrecht gemacht. Die Bundesärztekammer und ich an den Stellen, an denen ich Einfluss hatte, haben darauf gedrängt, dass dies geändert wird. Es war ein Anachronismus. In keinem Staat der Welt, noch nicht einmal in den USA, ist die Industriepolitik, die Wirtschaftspolitik für das Arzneimittelrecht zuständig. Bei Arzneimitteln muss die Gesundheit im Vordergrund stehen. Deswegen ist es gut, dass wir hier eine Änderung herbeigeführt haben. Jetzt ist der Gesundheitskommissar zuständig, nicht mehr der Industriekommissar. Das haben wir gemeinsam erreicht, meine Damen und Herren.

(Beifall)

Ganz aktuell haben wir erfolgreich beim Thema Organspende zusammengearbeitet. Die Vertreter des Europäischen Parlaments, der Kommission und des Ministerrats haben sich Ende April auf den Text einer Richtlinie über die Organspende geeinigt. Gegenüber dem ursprünglichen Entwurf der Europäischen Kommission gab es berechtigte Kritik von den Vertretern der Transplantationsmedizin, insbesondere in Deutschland, deshalb offiziell auch von der Bundesärztekammer.

Es gab den Vorschlag, in allen Mitgliedstaaten eine zentrale Behörde zur Überwachung der Organspende einzuführen. Dieser vielleicht gut gemeinte Vorschlag berücksichtigt jedoch nicht die unterschiedliche Praxis in den Mitgliedstaaten. Wir haben in Deutschland keine Behörde zur Überwachung der Organspende, sondern wir haben diese Aufgaben durch Gesetz an Organisationen delegiert, die etwas davon verstehen, beispielsweise an die Ständige Kommission „Organtransplantation“ bei der Bundesärztekammer, zum Teil auch an die DSO.

Wir brauchen keine neue Behörde in diesem Bereich, meine Damen und Herren.

(Beifall)

Deswegen haben wir im Europäischen Parlament einen Vorschlag der Bundesärztekammer und des Ständigen Ausschusses der Europäischen Ärzte eingebracht. Der Ministerrat und die Europäische Kommission haben diesem Vorschlag zugestimmt. Die bewährten Formen der Zusammenarbeit, der Subsidiarität können erhalten bleiben, wenn das Ergebnis – Qualität und Sicherheit von Organen – auch so erreicht werden kann.

Meine Damen und Herren, nach so viel Lob für die gute Zusammenarbeit jetzt ein klein bisschen Kritik. Im Verfahren zu diesem neuen Richtlinientext hat es aus meiner Sicht ein Missverständnis gegeben. Ich habe gesagt: Wir haben die Forderungen der Bundesärztekammer aufgenommen, im Europäischen Parlament eingebracht und auch gegenüber den anderen Institutionen in Europa durchgesetzt. Bereits Anfang Januar lag ein Vorschlag des zuständigen Berichterstatters des Europäischen Parlaments, Miroslav Mikolášik, eines Intensivmediziners, auf dem Tisch. Der Berichterstatter hat auf meine Anregung hin diesen Vorschlag der Bundesärztekammer formell als Position des Europäischen Parlaments eingebracht.

Trotzdem erschien am 26. Januar 2010 eine Pressemitteilung der Bundesärztekammer mit der Überschrift „Brüsseler Zentralisierungspläne bei Organspenden lösen keine Probleme, sondern schaffen neue“. In sehr scharfer Form – aus meiner Sicht: in zu scharfer Form – wurde darin die geplante Richtlinie kritisiert. Man kündigte an, gemeinsam mit der Bundesregierung gegen den Vorschlag zu kämpfen.

In der Sache war die Kritik berechtigt. Wir haben sie uns zu eigen gemacht. Aber die Form war etwas zu scharf, weil sie die Differenzierung nicht berücksichtigt hat. Die Kritik war nicht auf der Höhe der Zeit. Es gab schon diesen Gegenvorschlag, aber er wurde mit keinem Satz erwähnt. Wenn man in Brüssel mit seiner Interessenvertretung erfolgreich sein will, muss man wissen, wie der Stand der Diskussion ist. Wenn man Bündnispartner hat, sollte man sie auch erwähnen und unterstützen und nicht Brüssel pauschal beschimpfen. So kommt man nämlich nicht zum Erfolg.

(Beifall)

Damit, meine Damen und Herren, komme ich zu den Patientenrechten im engeren Sinne. Dieses Thema ist in den Gremien der Europäischen Union zurzeit in zweierlei Hinsicht sehr aktuell. Zum Ersten ist am 1. Dezember 2009 der Vertrag von Lissabon in Kraft getreten. In diesem Vertrag steht auch, dass die Charta der Grundrechte, die es schon längere Zeit gibt, die bisher aber nicht rechtlich verbindlich war, für das Handeln der Europäischen Union rechtlich verbindlich ist. In dieser Charta der Grundrechte finden sich eine Reihe von Rechten, die natürlich auch die Patienten betreffen. An erster Stelle, in Artikel 1 der Charta, steht:

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen.

Das kommt uns in Deutschland bekannt vor: Das ist wörtlich aus dem deutschen Grundgesetz entnommen. Der Autor dieser Charta der Grundrechte des Konvents, der die Charta entwickelt hat, war unser früherer Bundespräsident Roman Herzog.

Viele Staaten in Europa kennen den Begriff der Menschenwürde in ihrer Rechtsordnung nicht. Jetzt ist er eingeführt.

Für unsere heutige Diskussion ist Artikel 3 sicherlich am Wichtigsten. Dort geht es um das Recht auf Unversehrtheit. Es heißt wörtlich:

Jede Person hat das Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit. Im Rahmen der Medizin und der Biologie muss insbesondere Folgendes beachtet werden …

Es werden sodann einige Prinzipien aufgezählt. An erster Stelle steht – das haben wir eben auch von Herrn Montgomery gehört – die freie Einwilligung der betroffenen Person nach vorheriger Aufklärung.

Artikel 35 behandelt speziell den Gesundheitsschutz. Dort heißt es:

Jede Person hat das Recht auf Zugang zur Gesundheitsvorsorge und auf ärztliche Versorgung nach Maßgabe der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten. Bei der Festlegung und Durchführung aller Politiken und Maßnahmen der Union wird ein hohes Gesundheitsschutzniveau sichergestellt.

Die Charta der Grundrechte regelt nicht jedes Detail. Sie schafft auch keine neuen Kompetenzen für die Europäische Union, etwa dort, wo wir sie noch nicht haben. Im Gesundheitsbereich gibt es einige Kompetenzen, aber es gibt weiterhin auch viele Dinge, die national entschieden werden.

Wie die Prinzipien der Charta der Grundrechte konkret in die Praxis umgesetzt werden, wird sich in den nächsten Jahren noch zeigen müssen. Einen konkreten Punkt können wir aber heute schon feststellen: In die Richtlinie über Organtransplantation wurde das Prinzip der freiwilligen und unentgeltlichen Spende rechtlich verbindlich für alle Mitgliedstaaten aufgenommen. Das war nicht einfach. Ich glaube, das ist sehr im Sinne der deutschen Ärzteschaft. Wir haben immer das Prinzip verteidigt: Nicht derjenige darf ein Organ bekommen, egal wo in Europa, der das meiste Geld hat, sondern derjenige, der es medizinisch braucht.

(Beifall)

Beim Thema Patientenrechte in Europa denken wir natürlich vor allem an die geplante Richtlinie zur Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung. Das wird eine Richtlinie sein, die nach meiner Einschätzung in den nächsten Monaten angenommen wird, die ganz konkret Patientenrechte in der Europäischen Union kodifiziert und bestimmte Rechte festschreibt. Der Vorschlag stammt vom 2. Juli 2008. Wir im Europäischen Parlament haben im vergangenen Jahr den Vorschlag mit Änderungsanträgen angenommen. Wir entscheiden immer gemeinsam mit dem Ministerrat. Das ist wie in Deutschland bei zustimmungspflichtigen Gesetzen, dass Bundestag und Bundesrat entscheiden müssen. Der Ministerrat konnte sich bisher nicht einigen, obwohl kein einstimmiger Beschluss notwendig ist, sondern eine qualifizierte Mehrheit ausreicht. Diese ist bisher noch nicht zustande gekommen.

Es kann sein – deshalb sollten Sie sich als Bundesärztekammer aktiv einschalten –, dass sich in den nächsten Tagen der Europäische Ministerrat auf einen entsprechenden Text einigt. Bisher war Spanien ein Kritiker der Richtlinie. Aber die spanische Präsidentschaft hat einen entsprechenden Vorschlag vorgelegt.

Um was geht es? Die Richtlinie definiert Patientenrechte genauso wie der Titel des derzeitigen Tagesordnungspunkts und die Rede von Herrn Dr. Montgomery. Es geht um Rechte an Staat und Gesellschaft und nicht vor allem um Rechte des Patienten gegenüber dem Arzt allein oder vor allen Dingen gegenüber dem Arzt. Es geht um das Recht, eine geplante medizinische Behandlung im Ausland in Anspruch nehmen zu können und dies auch von der gesetzlichen Krankenversicherung im jeweiligen Mitgliedstaat der Europäischen Union erstattet zu bekommen. Ich glaube, dies ist ganz im Sinne der deutschen Ärzteschaft. Es geht um die Umsetzung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in Einzelfällen. Es haben diesbezüglich schon viele Patienten vor dem Europäischen Gerichtshof geklagt und Recht bekommen, dass sie eine Behandlung im Ausland durchführen lassen können.

In Deutschland ist die entsprechende gesetzliche Regelung für alle Patienten umgesetzt. Jeder deutsche Patient hat das Recht auf Erstattung von geplanten Behandlungen, beispielsweise Operationen, im Ausland.

Andere Länder der Europäischen Union haben das nicht getan. Sie verweisen Patienten auf den Klageweg. Aus unserer Sicht im Europäischen Parlament ist es zynisch, einem Patienten zu sagen, dass er zwar das Recht hat, eine medizinische Behandlung im Ausland in Anspruch zu nehmen, dass er dies aber gegebenenfalls durch alle Instanzen einklagen muss. Die Patienten haben oft nicht die Mittel dazu und bei lebensbedrohlichen Erkrankungen schlicht nicht die Zeit, den ganzen Instanzenweg zu beschreiten. Auf Deutsch gesagt: Bis der Europäische Gerichtshof nach drei Jahren sein Urteil gesprochen hat, kann der Patient tot sein. Deswegen ist die Haltung dieser anderen Mitgliedstaaten zynisch, meine Damen und Herren.

(Beifall)

Daher hat das Europäische Parlament die Richtlinie begrüßt. Wir erfahren dabei die Unterstützung der Ärzteschaft in der Europäischen Union. Ich habe in der vergangenen Woche mit dem Präsidenten des Ständigen Ausschusses der Europäischen Ärzte, dem polnischen Kollegen Dr. Konstanty Radziwill, über diese Frage gesprochen. Er setzt sich für die Annahme dieser Richtlinie ein. Das entspricht auch der Beschlussfassung des Ständigen Ausschusses. Er will versuchen, Polen, das noch ein bisschen zögert, auf den richtigen Weg zu bringen.

Natürlich brauchen wir auch hier Regeln und Grenzen. Hoch spezialisierte Behandlungen und Krankenhausbehandlungen sollen auch nach dieser Richtlinie nur nach vorheriger Genehmigung im Ausland möglich sein, damit beispielsweise die Krankenhausplanung nicht komplett unterlaufen wird.

Sehr wichtig ist uns außerdem, dass ethische Grenzen von Diagnostik und Behandlungsmethoden auch außerhalb der Europäischen Union respektiert werden. Dabei geht es nicht nur um gesetzliche Verbote, sondern auch um die Regeln des ärztlichen Standesrechts. Es kann nicht sein, dass ein deutscher Mediziner in Aachen, wo ich einen Teil meines Studiums absolviert habe, durch Standesrecht an bestimmte Regeln gebunden ist, während dies hinter der nahe gelegenen Grenze in den Niederlanden oder in Belgien nicht gilt. Dies würde nämlich dazu führen, dass der Gesetzgeber im Zweifel weniger Standesrecht zulässt, sondern alles durch den Bundestag gesetzlich oder gar strafrechtlich beschließen lässt.

Wir haben uns in Deutschland ganz gut darauf eingestellt – es hat sich bewährt –, dass nicht jedes Detail per Gesetz geregelt wird, sondern dass das Standesrecht eine wichtige Rolle spielt. Deshalb müssen wir genau an dieser Stelle aufpassen, dass uns die europäische Richtlinie nicht zwingt, alles gesetzlich zu regeln. Das würde die Selbstverwaltung aushöhlen und mehr Bürokratie mit sich bringen.

(Beifall)

Ich hoffe, dass mit diesen Einschränkungen die Richtlinie möglichst bald kommt. Ich glaube, sie ist eine Chance für die deutsche Ärzteschaft und die anderen – ich habe heute Morgen gehört, man solle dieses Wort nicht benutzen, aber mir fällt im Moment kein besseres ein – Leistungserbringer im Gesundheitswesen, denn allen Unkenrufen zum Trotz ist das deutsche Gesundheitswesen noch eines der besten in Europa.

(Beifall)

Manchmal meint man das nicht, weil wir uns natürlich mit den Schwachstellen beschäftigen. Aber ich möchte als Patient nicht mit dem britischen Gesundheitswesen tauschen.

In meiner Zeit in der Kinderklinik in Paderborn, wo ich gearbeitet habe, bevor ich ins Europäische Parlament gewählt wurde, hatte ich eine Schlüsselerfahrung. Wir haben auch die Kinder von britischen Militärangehörigen betreut. Das Schlimmste, das wir den Eltern sagen konnten, war: Es besteht kein akuter Behandlungsbedarf mehr, es ist kein Notfall, Sie müssen jetzt in eine britische Klinik oder in das ambulante britische Gesundheitssystem. Das war für die Eltern der britischen Kinder eine schlimme Drohung.

Ich glaube, gerade aus der Sicht der Patienten haben wir ein relativ gutes Gesundheitssystem. Wir müssen trotzdem an Verbesserungen arbeiten. Wir sollten aber nicht das Ganze schlechtreden. Die staatlich verwalteten Systeme wie beispielsweise in Großbritannien sind bestimmt auch für die Patienten nicht besser. Da nicht nur deutsche Patienten das Recht haben, ins europäische Ausland zu gehen und die Kosten erstattet zu bekommen, sondern auch die Patienten aus anderen Ländern, insbesondere aus Ländern mit langen Wartelisten für dringend notwendige Behandlungen, glaube ich, dass wir einen Nettotransfer von Patienten nach Deutschland bekommen werden. Das wird unser Gesundheitssystem nicht sanieren, aber dies kann ein Beitrag dazu sein, dass wir bestimmte Probleme zumindest abmildern können.

(Beifall)

Meine Damen und Herren, Patientenrechte werden im Europäischen Parlament auch immer wieder als Schlagwort in andere Diskussionen eingebracht, beispielsweise bei der Diskussion über das Arzneimittelrecht. Es wird ein Recht des Patienten auf Information über verschreibungspflichtige Arzneimittel prosperiert. Ich glaube, der Patient hat ein Recht, informiert zu werden: Der Vorschlag, den uns noch Industriekommissar Verheugen im Jahr 2008 auf den Tisch gelegt hat, ist eher ein Vorschlag, der ein Recht der Pharmaindustrie auf Werbung für verschreibungspflichtige Arzneimittel prosperiert. Das steht aus meiner Sicht im Vordergrund dieses Richtlinienvorschlags. Im Vordergrund sollte aber das Recht des Patienten auf unabhängige und sachgerechte Information stehen.

(Beifall)

Deswegen ist die Kritik, die von der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft und vielen anderen am Verheugen-Vorschlag geübt wird, richtig. Das Werbeverbot für verschreibungspflichtige Arzneimittel muss bestehen bleiben, meine Damen und Herren.

(Beifall)

Wir haben gemeinsam eine Reihe von Veranstaltungen durchgeführt, auch mit Patientenvertretern. Wir haben ganz bewusst deutsche Patientenvertreter nach Brüssel eingeladen, um ihre Position zu diesem Vorschlag zu hören. Wir haben sehr viel Verständnis für die Kritik der deutschen Ärzteschaft erfahren. Auch der neue Gesundheitskommissar teilt diese Kritik. Wir werden den Verheugen-Vorschlag so sicher nicht annehmen.

Wir werden Änderungen am bisherigen Recht anstreben. Dazu gibt es aus der Ärzteschaft den Vorschlag einer sogenannten Drug Fakt Box auf den Beipackzetteln. Das bedeutet, dass man auf den Beipackzetteln die wichtigsten Punkte zusammenfasst. Ich glaube, genehmigte und vor allem unabhängige Informationen sollten verstärkt beispielsweise über das Internet zur Verfügung gestellt werden.

Damit, meine Damen und Herren, komme ich zu dem Punkt, der in der Rede von Dr. Montgomery im Vordergrund stand, nämlich der Diskussion über ein Patientenrechtegesetz oder gar Patientenschutzgesetz. Wie sieht hier die Situation in anderen Ländern der Europäischen Union aus? Eine Reihe von europäischen Ländern haben spezielle Gesetze zu Patientenrechten, die auch diesen Titel tragen. Das gilt beispielsweise für Dänemark seit 1989, für Finnland seit 1992, für Ungarn seit 1997, für Frankreich seit 2002, für Litauen seit 2000 und für Slowenien seit 2008.

Deutschland ist natürlich nicht das einzige Land in Europa, das kein spezielles Patientenschutzgesetz hat. Andere Länder mit ebenfalls hoch entwickelten Gesundheitssystemen und in der Praxis durchaus guten Patientenrechten haben keine speziellen Gesetze. Länder wie Italien, Luxemburg, Portugal und Schweden haben kein spezielles Patientenrechtegesetz. Die Definitionen der Patientenrechte und ihre Ausgestaltung sind in den Ländern mit speziellen Gesetzen sehr unterschiedlich. Außer der geplanten Richtlinie, die in erster Linie Ansprüche an die Kostenträger begründet, wenn der Patient ins Ausland geht, ist keine Harmonisierung von Patientenrechten auf europäischer Ebene geplant.

Sehr spannend ist in dieser Hinsicht ein Vergleich der Patientenrechte in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union durch den European Health Consumer Index des Health Consumer Powerhouse. Patientenrechte sind ein wichtiger Untersuchungsschwerpunkt des seit 2005 durchgeführten patientenorientierten Vergleichs der Leistungsfähigkeit von 33 europäischen Gesundheitssystemen. In dem Ranking sind Länder mit speziellem Patientenrechtegesetz nicht unbedingt besser als Länder ohne spezielles Gesetz. Natürlich gibt es Pluspunkte; das muss man ganz offen sagen. Bei dieser Untersuchung bekommt man Bonuspunkte, wenn man entsprechende spezielle Gesetze hat.

In den letzten Jahren lag Deutschland immer auf den vorderen Plätzen. Von 33 untersuchten Ländern hat Deutschland einmal den dritten, einmal den fünften und in 2009 immerhin noch den sechsten Platz erreicht. Sechster unter 33 – das ist nicht schlecht. Wenn wir das beim Grand Prix erreichen, sind wir immer ganz zufrieden. Wir sind in Europa, was die Situation der Patienten angeht, nicht bei den Schlechtesten, sondern wir sind bei den Besten, auch ohne ein spezielles Gesetz.

Trotzdem möchte ich nicht – das ist auch nicht meine Aufgabe – dem Deutschen Bundestag vorschreiben, was er machen soll. Das entspricht dem Subsidiaritätsprinzip. Natürlich müssen sich die Bundestagsabgeordneten damit auseinandersetzen. Man kann nicht sagen: Es ist eine zwingende Notwendigkeit in der Europäischen Union, ein solches Gesetz auf den Weg zu bringen.

Nun zur Frage der Beweislast. Dies ist das sensibelste und schwierigste Thema. Wir haben es auch in der Europäischen Union mehrfach diskutiert. Im Jahr 1990 gab es einen Gesetzgebungsvorschlag der Europäischen Kommission zur Umkehr der Beweislast. Dieser Vorschlag wurde seinerzeit von der Bundesärztekammer sehr heftig kritisiert. Sie war mit ihrer Kritik nicht allein. Es gab auch Kritik aus den Mitgliedstaaten. Die damalige Bundesregierung unter Helmut Kohl hat den Vorschlag ebenfalls abgelehnt. Genauso gab es Kritik im Europäischen Parlament. Der Vorschlag wurde zurückgezogen.

Als ich damals als junger Abgeordneter ins Europäische Parlament kam, hat man mir gesagt: Das kommt sicher irgendwann wieder. Es ist auch wiedergekommen. Es gab 2006 noch einmal eine Diskussion in diesem Bereich. Ein sozialdemokratischer Kollege aus Finnland hat sich auf den Vorschlag aus den 90er-Jahren bezogen und noch einmal das Thema der Haftung auf europäischer Ebene angesprochen.

Sein Vorschlag wurde jedoch nicht unterstützt. Das Europäische Parlament hat sich diese Idee einer Beweislastumkehr und einer harmonisierten europäischen Haftungsregelung nicht zu eigen gemacht.

Ich finde: Das geschah aus gutem Grund. Die Beweislastumkehr wird von Europa keineswegs vorgeschrieben. Es gibt gute Gründe, sie auch in Deutschland nicht einzuführen. Eine defensive Medizin nutzt dem Patienten nicht. Es kann nicht richtig sein, dass derjenige Arzt im Zweifel besser dasteht, der eine notwendige Operation oder einen anderen notwendigen Eingriff nicht durchführt und stattdessen zu einer konservativen Therapie rät und einfach abwartet. Auf Deutsch gesagt: Weiße Salbe statt notwendiger Eingriffe, weil man Angst vor Haftungsansprüchen hat, kann nicht die richtige Lösung sein.

(Beifall)

Nun ist man ein bisschen verunsichert. In den letzten Tagen wurde eine Studie bekannt, die ernsthaft herausgefunden hat, dass an Tagen, an denen Ärzte streiken, weniger Menschen versterben als an jenen Tagen, an denen die Ärzte ihre Tätigkeit normal verrichten. Da denken manche: Das ist so, weil die Ärzte so viele Fehler machen, so schlecht behandeln, so viele unnötige Operationen durchführen, dass an solchen Tagen die Patienten überleben.

Auch hier gilt: Wer nichts tut, kann auch keine Fehler machen. Ferner ist offensichtlich, dass auch bei einer sachgerecht durchgeführten Operation immer ein bestimmtes Risiko besteht. Wenn die Operation aber notwendig ist, würden die Patienten eben eine Woche oder einen Monat später versterben. Das ist zwar auf den ersten Blick eine skurrile Geschichte, aber sie bedeutet trotzdem, dass notwendige indizierte Eingriffe durchgeführt werden müssen. Eine Umkehr der Beweislast würde auch für die Patienten ein Riesenproblem mit sich bringen.

(Beifall)

In dem Antrag der SPD wird die Frage diskutiert – in den Niederlanden gibt es schon ein entsprechendes Gesetz –, ob man nicht bestimmte Beweislasterleichterungen und eine Umkehr der Beweislast in konkreten Fällen haben sollte. Es wird beispielsweise gefordert: Bei einer nicht vollständigen Dokumentation dreht sich die Beweislast um. Das hört sich vielleicht verständlich an, weil man ja auch weiß, dass der Patient manchmal Schwierigkeiten hat, zu seinem Recht zu kommen.

Wir müssen aber auch die negativen Folgen sehen. Was heißt „nicht vollständige Dokumentation“? Man kann, wenn man will, die Dokumentationspflichten ständig ausdehnen. Das widerspricht dem, was auf diesem Ärztetag ein zentrales Thema ist, nämlich den Arztberuf attraktiver zu machen. Bei diesem Thema allein auf Dokumentation zu setzen, bringt Bürokratie und macht den Arztberuf garantiert nicht attraktiver.

(Beifall)

Zum Schluss, meine Damen und Herren, ganz kurz ein paar Sätze zu den kollektiven Patientenrechten. Ich bin für die Beteiligung von Patientenselbsthilfegruppen an der Gesundheitspolitik. Das gilt für mich seit mindestens 20 Jahren. Im Zusammenhang mit meiner Doktorarbeit am humangenetischen Institut habe ich intensiv mit Patientenselbsthilfegruppen und Elternvereinigungen im Bereich der Humangenetik zusammengearbeitet. Ich glaube, Patientenselbsthilfegruppen sind eine große Bereicherung unserer Gesellschaft. Sie verdienen die Unterstützung der Solidargemeinschaft, sie verdienen auch die Kooperation von Ärztinnen und Ärzten.

In der Europäischen Union haben wir die Mitwirkung von Patientenvertretern institutionalisiert, mit vielen Gremien, die auch Entscheidungen treffen, beispielsweise bei der Europäischen Arzneimittelagentur. Dort sind Patientenvertreter von Rechts wegen beteiligt.

Ich glaube, das ist richtig. Ich begrüße auch die bessere Beteiligung von Patienten im deutschen Gesundheitssystem, auch die institutionalisierte Beteiligung.

Aber es ist ganz wichtig – darauf müssen wir viel stärker achten, in Deutschland und noch mehr in Europa –, dass diese Vertreter wirklich für die Patienten sprechen. Es gibt leider teilweise hauptamtliche Patientenvertreter, die nur wenige Betroffene hinter sich haben. Sie haben daraus einen Beruf gemacht. Noch schlimmer finde ich die Tatsache, dass es Organisationen gibt, die praktisch für die Pharmaindustrie und nur vordergründig für Patienten sprechen.

(Beifall)

Leider gibt es – das ist in Europa noch häufiger der Fall als in Deutschland – Organisationen, die zu 100 Prozent und noch mehr Organisationen, die zum überwiegenden Teil von der Industrie finanziert werden.

Selbst bei noch so gutem Willen – den man nicht allen unterstellen kann, ich will ihn aber auch nicht allen absprechen – gilt, wenn man 100 Prozent seines Budgets von einer bestimmten pharmazeutischen Firma erhält, der alte Spruch: Wes Brot ich ess’, des Lied ich sing’.

Wir müssen, wenn wir Patientenorganisationen in Deutschland und in Europa stärker beteiligen – dafür bin ich –, die unabhängigen Patientenorganisationen stärken und strenge Regeln für die Finanzierung dieser Organisationen durch die pharmazeutische Industrie schaffen.

(Beifall)

Der neue Gesundheitskommissar Dalli hat angekündigt, dass er sich intensiv um dieses Thema kümmern wird.

Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss: Unabhängige Patientenorganisationen leisten einen ganz wichtigen Beitrag. Wir sollten ihre Rolle stärken. Aber Tarnorganisationen der Industrie sollten nicht über die Gesundheitspolitik mit entscheiden.

Herzlichen Dank.

(Beifall)

Präsident Prof. Dr. Dr. h. c. Hoppe: Vielen Dank für diese Informationen, lieber Herr Liese. Wir sind ganz erstaunt, dass wir hören müssen, dass Länder wie Schweden kein Patientenrechtegesetz haben. Das hätten wir anders vermutet, ich zumindest. Es ist schon bemerkenswert, dass diejenigen Länder, die Patientenrechtegesetze haben, im Wesentlichen solche Länder sind, die unterfinanzierte Systeme haben. Man könnte im Umkehrschluss überlegen, ob nicht die Diskussion über ein Patientenrechtegesetz in Deutschland darauf hindeutet, dass man unser System nicht finanziell besser ausstatten will und den Patienten suggeriert, dass sie Rechte bekommen sollen, die sie aber gar nicht erhalten können, weil sie nicht finanziert werden. Das wäre eine Vorspiegelung falscher Tatsachen. Darüber müssen wir intensiv diskutieren.

Noch einmal vielen Dank für diesen Überblick über die europäische Situation und das, was im Europäischen Parlament und bei der Europäischen Kommission geschieht.

Bevor wir in die Diskussion eintreten, möchte ich Herrn Dr. Egidio Cepulić von der kroatischen Ärztekammer, der uns schon seit mehreren Jahren bekannt ist, begrüßen. Herzlich willkommen, Herr Dr. Cepulić!

(Beifall)

Aus der Schweiz begrüße ich Herrn Dr. Jacques de Haller, Präsident der Verbindung Schweizer Ärzte. Das ist sozusagen die Parallelorganisation zur Bundesärztekammer. Herzlich willkommen, Herr Dr. de Haller!

(Beifall)

Wir treten in die Aussprache ein. Als Erster hat sich Professor Dietrich aus Bayern gemeldet. Bitte, Herr Dietrich.

© Bundesärztekammer 2010