Eröffnung

Dienstag, 18. Februar 2003

Berlin, Axica Kongress- und Tagungszentrum

Franz Müntefering, Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion:

Sehr geehrter Herr Hoppe! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bedanke mich für die Einladung. Ich fühle mich wohl.

(Lachen)

Mich erinnert die Stimmung an die eigenen Parteitage - ich kenne das -: Man ist unter sich, man fühlt sich wohl, man hat eine Mehrheit. Man muss nur wissen: Die Lebenswirklichkeit ist draußen. Wenn Sie anschließend wieder draußen sind, ist die Republik ein bisschen bunter, als Sie es hier im Augenblick glauben. Also: Immer Vorsicht mit der Euphorie solcher Tage!

(Zurufe)

Ich will Ihnen, meine Damen und Herren, Herr Hoppe, erstens ein Gespräch mit der SPD-Bundestagsfraktion anbieten. Ich schlage vor, Herr Hoppe, dass wir noch im Verlauf des Monats März in eine Diskussion mit der SPD-Bundestagsfraktion über das eintreten, was in den nächsten Wochen und Monaten zur Entscheidung ansteht.

(Beifall)

Ich möchte versuchen, das, was heute Morgen hier in einem Feuerwerk von Satire, Ironie und tieferer Bedeutung vorgetragen worden ist, auszuloten. Ich hatte das Gefühl, dass wir an manchen Stellen in Übereinstimmung sind, an manchen Stellen nicht. Ich glaube, wenn man das Ganze von dem entkleidet, was bei solchen Gelegenheiten gesagt werden muss, werden wir gemeinsam viele Dinge voranbringen können.

Also erstens: das Angebot zum Gespräch.

Zweitens. Meine Damen und Herren, das Gesundheitswesen und die Ärzteschaft in Deutschland sind ganz wichtig. Aber es gibt auf der Welt auch noch vieles andere. Bei Ihnen kommt der Gesamtzusammenhang ein bisschen kurz, in dem sich die Politik und die Entwicklung des Sozialstaats in Deutschland und in Europa bewegen. Wir befinden uns in einer Zeit tiefgreifender Veränderungen. Dazu möchte ich nur die Stichworte Globalisierung, Europäisierung und demographische Entwicklung nennen. Vieles in diesem Lande wird sich ändern müssen. Wir werden es gestalten wollen und werden es gestalten müssen.

(Zuruf: Packt’s an!)

Dazu gehört auch das Gesundheitswesen. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, aber bitte nicht vergessen: Die zentrale Aufgabe, die wir als Politiker haben, besteht darin, dafür zu sorgen, dass der Wohlstand in diesem Lande erhalten bleibt und sich weiterentwickeln kann. Das ist die Voraussetzung dafür, dass der Sozialstaat insgesamt funktionieren kann.

(Zurufe)

- Sie müssen nicht an jeder Stelle zustimmen, aber ich will die Chance des Grußwortes, die Sie mir eingeräumt haben, nutzen.

Es geht bei dieser Wohlstandssicherung um die Frage, wie wir die Substanz des Sozialstaats langfristig erhalten können. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Viele in Deutschland leben in der Vorstellung, der Wohlstand sei sozusagen gesichert und es gehe um die Verteilungsfrage auf der Grundlage eines hohen Wohlstands. Das könnte ein schwerer Irrtum sein.

Deshalb empfehle ich, dass Sie alles das, was Sie vorzutragen haben - aus Ihrer Interessenlage heraus sehr wohl berechtigt -, immer auch mit dem abgleichen, was gesamtwirtschaftlich und gesamtgesellschaftlich nötig ist. Wir als Politiker müssen es in diesen Gesamtkontext stellen. Das tun wir auch.

Drittens. Das, was zurzeit zur Gesundheitsreform in Punkten gesagt ist, sind Beiträge zur Vorbereitung auf die Entscheidungsbildung. Diese wird im April oder im Mai anstehen, nicht vorher. Alles das, was Sie jetzt kennen, was Sie jetzt wissen, was Sie in diesen Tagen hören, sind Meinungen - zum Teil intensiv vorbereitete, zum Teil weniger intensiv vorbereitete -, die in die gesamte Meinungsbildung einbezogen werden. Diese wird im April oder Mai dieses Jahres stattfinden.

Ich bitte auch zu akzeptieren, dass es in der Demokratie einen solchen Meinungsbildungsprozess geben muss. Es kann nicht sein, dass in einem solchen Prozess der Meinungsbildung jede Idee, die auf den Markt kommt, gleich niedergemacht wird, weil man darüber angeblich überhaupt nicht oder zumindest nicht so reden dürfe. Zur Demokratie gehört, dass wir das, was aus den unterschiedlichen Positionen heraus zu sagen ist, sammeln und im April/Mai zu einem Ergebnis bringen.

Das wird ein offener Prozess sein. Sie werden Gelegenheit haben, Ihre Meinung einzubringen. Dann werden wir sehen: Was ist einvernehmlich und was nicht?

Wir werden im April/Mai in der Koalition zusammen mit den Grünen unser Konzept der Koalition auf den Tisch legen. Dann wird es die ganze Nation kennen, Sie auch. Dann wird das Angebot an die Opposition im Deutschen Bundestag ergehen, miteinander darüber zu sprechen, ob man im Deutschen Bundestag daraus etwas Gemeinsames machen kann oder nicht.

Ob das gelingen kann, weiß ich heute nicht. Der Deutsche Bundestag ist das Gremium, das im Kern Gesetze einzubringen und zu entscheiden hat. Deshalb liegt mir da­ran, dass wir uns über den Prozess der Meinungsbildung bewusst sind.

Es kann sein, dass wir es im Deutschen Bundestag hinbekommen. Wir werden sicher auch Kompromisse machen müssen. Oder wir werden es nicht hinbekommen; dann wird es im Bundesrat und letztlich im Vermittlungsausschuss enden.

Ich glaube, dass der Deutsche Bundestag über die nötigen Kompetenzen verfügt, auch an Fachleuten, es gemeinsam zu einem guten Ergebnis bringen zu können. Deshalb wird mein Bestreben darauf gerichtet sein, zu versuchen, im Deutschen Bundestag gemeinsam zu Entscheidungen zu kommen.

In Deutschland gibt es das große Missverständnis, als wären Kompromisse etwas Schlechtes. Natürlich gibt es faule Kompromisse, es gibt in Deutschland aber auch eine faule Kompromissunfähigkeit. Davor sollte sich jeder in Acht nehmen. Wir müssen gemeinsam dieses große Thema des Gesundheitswesens in Deutschland politisch bewältigen. Dazu gehört die Vorgehensweise, wie ich sie beschrieben habe.

Wir werden im April/Mai nicht nur die Fragen der Struktur des Gesundheitswesens auf einen Punkt bringen, sondern wir werden das mit der Frage der nachhaltigen Finanzierung verknüpfen. Dabei geht es um das, was die Rürup-Kommission einzubringen hat. Es geht nämlich um beides. Die Antworten auf die Fragen „Wie kann man es nachhaltig langfristig finanzieren, wie kann man in der Struktur zu Effizienzverbesserungen kommen?“ müssen zusammengefügt werden. Darauf bereiten wir uns vor. Meine Bitte ist, dass wir gemeinsam darüber sprechen, um das zu einem vernünftigen Ergebnis zu führen.

Zu den Zielen kann man hier in den zehn Minuten, die mir gegeben sind, nur in Stichworten etwas sagen. Ich will das tun.

Zunächst zur Qualität: Ich bitte sehr, das nicht misszuverstehen. Wenn wir da­rüber sprechen, haben wir als Politiker die Interessenlagen auch Ihrer Zunft, aber auch jene der Patientinnen und Patienten im Blick zu haben. Diese fragen uns auch: Was tut ihr eigentlich? Sie können natürlich die Position der Alleinzuständigkeit einnehmen und sagen: Politik, halte dich da ganz heraus, das machen wir schon alles okay.

(Beifall)

- Ich bedanke mich für die Unterstützung. Das kommt ja alles ins Protokoll; dann kann man es draußen gut gebrauchen.

Die Patienten, die Verbraucherinnen und Verbraucher haben an uns die Frage: Was tut ihr? Unterschätzen Sie das nicht! Wir können als Politiker und Politikerinnen nicht schlichtweg sagen: Darum kümmern wir uns gar nicht. Sie werden doch nicht bestreiten, dass wir darüber nachdenken müssen, um hoffentlich gemeinsam zu vernünftigen Ergebnissen zu kommen.

Das Produkt Gesundheit ist ein besonders kompliziertes, ein besonders schwieriges. Das wissen wir, das ist uns nicht neu.

(Zurufe)

Weil das Produkt Gesundheit ein komplizierteres ist und anders als sonstige Produkte, die es in dieser Gesellschaft, in dieser Marktwirtschaft gibt, wissen wir: Man muss damit besonders sensibel umgehen. Diese Sensibilität traue ich uns schon zu.

Deshalb werden wir über die Qualität sprechen. Wir werden hören, was Sie uns dazu zu sagen haben. Wir werden deutlich machen, wie wir glauben, dass die Politik auf diese Qualitätsansprüche der Menschen reagieren sollte.

Ich komme zur Eigenverantwortung: Sie wird eine große Rolle spielen, sie wird eine zunehmend große Rolle spielen. Wir müssen den Menschen im Lande sagen: Wenn wir die Substanz des Sozialstaats erhalten wollen, dann wird das nicht gehen, ohne dass die Eigenverantwortung größer geschrieben wird als in vergangenen Zeiten.

(Beifall)

Da geht es um die Frage des Leistungskatalogs, da geht es um die Frage und um die Tatsache, dass wir eine solidarische Krankenversicherung wollen und sie auch erhalten wollen. Wir sind uns bewusst: Das geht mit der solidarischen Krankenversicherung nur, wenn sich alle im Lande bewusst sind, dass das nur möglich ist, wenn viele bereit sind, mehr einzuzahlen, als sie herausbekommen, damit einige mehr herausbekommen können, als sie einzahlen, weil sie darauf angewiesen sind. So funktioniert das. Dabei geht es nicht um einen Sparklub.

Es wird die Frage zu beantworten sein: Was bedeutet Eigenverantwortung? Wie kann man sie praktisch gestalten? Wie können wir in der Gesellschaft bewusst machen, dass wir einen Weg gehen, der auf bestimmten Strecken anders sein wird als bisher? Das muss bewusst werden, das muss verstanden werden als eine bewusste politische Orientierung, hinein in eine neue Zeit, die andere Voraussetzungen hat, als es sie in der Vergangenheit an vielen Stellen gab.

Bei der solidarischen Krankenversicherung kommt es mir auf eines an. Ich höre viele Vorschläge in Richtung Bonus- oder Malusregelung oder sonstige Regelungen. Ich finde, eines muss dabei klar bleiben: Krankheit darf nicht bestraft werden. Wir wollen in Deutschland ein Gesundheitswesen haben, in dem klar ist, dass diejenigen, die krank werden und deshalb auf ärztliche Hilfe, auf medizinische Hilfe angewiesen sind, diese Hilfe unabhängig davon erhalten, wie dick ihr Portemonnaie ist. Das muss auch in Zukunft in Deutschland so sein. Das wollen wir.

(Beifall)

Wir werden auch über eine Effizienzkur im System nachzudenken haben. Das tut die Ministerin. Ich kann hier nur ganz pauschal, aber ganz deutlich das zurückweisen, was zu dem, was Ulla Schmidt vorgelegt hat, gesagt worden ist. Das ist die Aufgabe, die sie hat. Das ist die Aufgabe, die wir ihr in der Politik gegeben haben.

Es stellt sich die Frage: Gibt es in diesem System des Gesundheitswesens Effizienzspielräume, die genutzt werden müssen? Das will ich sagen - Herr Hoppe, ansonsten will ich Ihre Rede nicht kommentieren, weil wir ja weiter diskutieren wollen -: An dieser Stelle kann es nicht so sein, dass uns nicht das Recht zugestanden wird, darüber nachzudenken, wie man denn im System effizienter arbeiten kann als bisher. Darüber müssen wir sprechen können, auch wenn das manchem von Ihnen nicht gefällt, auch wenn das wehtut. Es muss darüber gesprochen werden können, wie wir mit dem Geld, das in das System geht, möglichst effizient arbeiten können.

(Zurufe)

Wenn Sie da alle gute Karten haben, dann können wir ja gut darüber sprechen, aber bitte nicht nach der Melodie: Das geht euch nichts an, das machen wir allein!

Wir wollen schon darüber sprechen. Ich bin sicher: An manchen Stellen kann man noch ein Stückchen besser werden. Das werden Sie genauso gut wissen wie ich auch.

(Zurufe)

Ich will noch einen Punkt ansprechen. Das Gesundheitswesen ist die größte Branche - wenn ich das Wort einmal gebrauchen darf -, die wir in Deutschland haben. Dort sind viele Menschen beschäftigt. In Zukunft werden dort noch mehr Menschen beschäftigt sein.

(Lachen)

- Es kann ja sein, dass Sie das anders sehen. Lesen Sie dazu noch einmal nach, was Herr Hoppe eben dazu gesagt hat. Vor dem Hintergrund einer älter werdenden Gesellschaft werden wir im Gesundheitswesen mittel- und langfristig noch mehr Menschen beschäftigt haben als heute. Das wird so sein.

(Widerspruch)

Ich wollte Ihnen hier nur mitteilen, dass wir das wissen, dass wir das sehen und dass wir bei allem, was wir im Hinblick auf die Fragen des Gesundheitswesens zu diskutieren haben, sehr wohl im Blick haben, dass dieses auch eine Branche ist, dass dieses ein Bereich ist, in dem es um Arbeitsplätze, um die Zukunftsfähigkeit des Landes geht. Das beziehen wir in unser Kalkül mit ein. Das kann doch so schlecht nicht sein, wenn ich Ihnen das sage.

(Vereinzelt Zustimmung - Zurufe)

Zum Abschluss: Dialog, Gespräch und Kompromiss. Ein paar Dinge sind mir vorhin doch aufgefallen, Herr Hoppe. Sie haben gesagt: sturmreif geschossen.

(Zuruf: Richtig!)

In der Resolution steht:

Entmündigung des Patienten und Bevormundung des Arztes, das sind die offensichtlichen Ziele der Gesundheitspolitik dieser Regierung.

Ich will Sie fragen: Hätten Sie es nicht doch ein bisschen kleiner? Ich gehe ja keinem Streit aus dem Weg. Ich beherrsche die Schwarzenbeck’sche Vorgrätsche, aber ich kann dann auch wieder zuhören. Sie können bei mir also ganz gelassen sein.

Ich sage Ihnen nur: Wenn wir uns in solcher Weise mit Unterstellungen überziehen, dann ist das nicht hilfreich, gemeinsam einen vernünftigen Kompromiss zu finden. Das möchte ich aber.

(Zuruf: Wir auch!)

- Das ist ja gut.

Ich glaube, dass wir uns in Deutschland alle miteinander sehr anstrengen müssen, wenn wir die Substanz des Sozialstaats erhalten und wenn wir gemeinsam den Wohlstand im Lande sichern wollen. Zu dieser Anstrengung sind wir bereit. Keiner hat von Anfang an die Wahrheit ganz auf seiner Seite; Sie nicht - das wissen Sie -, wir auch nicht. Deshalb lassen Sie uns vernünftig aufeinander zugehen und miteinander die richtigen Entscheidungen vorbereiten.

Wir wissen als Sozialdemokraten, dass Interessenverbände, Selbstverwaltungsorganisationen, Ärzteverbände wichtig und unverzichtbar sind, dass sie die Aufgabe haben, ihre Interessen einzubringen. Aber daraus müssen in einem demokratischen Prozess gemeinsame gesellschaftspolitische Entscheidungen entwickelt werden. Dazu lade ich Sie herzlich ein.

Ich wünsche Ihnen alles Gute und gute Gesundheit.

(Beifall)

© 2003, Bundesärztekammer.