TOP I: Forderungen und Vorschläge der Ärzteschaft für die Gesundheitsreform 2003

Dienstag, 18. Februar 2003

Berlin, Axica Kongress- und Tagungszentrum, Nachmittagssitzung

Dr. Anke Müller, geladener Gast:

Sehr geehrte Frau Auerswald! Lieber Herr Vizepräsident! Verehrte Anwesenden! Als die Mauer fiel, hatte ich Notdienst. Eigentlich habe ich immer Notdienst, wenn irgendetwas Wesentliches passiert; das ist merkwürdig. Ich habe einen Kollegen angerufen und ihn gefragt: Könnten Sie den Dienst für mich bitte ein bisschen eher übernehmen? Ich muss da rüber, da ist irgendetwas los! Was richtig passiert ist, habe ich nicht geahnt.

Das ist jetzt 13 Jahre her. Damals war ich noch taufrisch, 33 Jahre alt, zwölf Jahre verheiratet, zwei Kinder im Alter von fünf und sechs Jahren. Ich hatte gerade an einer Poliklinik im Osten meinen Facharzt für Allgemeinmedizin gemacht. Mein Heimatort, Strasburg in Mecklenburg-Vorpommern, das kleine Dorf am Ende der Welt, hatte damals noch 10 000 Einwohner. Ich habe mich an der Poliklinik relativ wohl gefühlt. Dann kam die Wende und dann ging alles eigentlich sehr schnell.

Im Februar 1990 habe ich meine Doktorarbeit verteidigt und zum Ende des Jahres hatte ich genauso wie der Hausmeister, wie der ärztliche Direktor und alle anderen, die in der Poliklinik arbeiteten, die Kündigung in der Tasche. Das war schon ganz schön hart. Zwei Kolleginnen hatten sich überlegt: Wir spielen dieses Spiel Poliklinik eigentlich nicht mehr mit, wir machen uns privat. Eine Kinderärztin, die so alt ist wie ich - wir kannten uns kaum und waren noch per Sie -, und ich hatten uns überlegt: Ich glaube, wir machen das auch so.

Zu einem Kredit bin ich gekommen wie die Jungfrau zum Kind. Wir hatten von einem Zahnarzt gehört, der in Berlin einen Kredit aufgenommen hatte. Dort hatte die Apobank in einem Hotel eine Zweigstelle. Wir sind mit dem Mazda meiner Kollegin nach Berlin gefahren, denn mit meinem Trabant wollte ich nicht nach Berlin fahren, obwohl ich elfeinhalb Jahre auf ihn gewartet und 11 500 Mark für ihn bezahlt hatte. Ich sagte mir nämlich: Wenn du mit einem solchen Auto bei der Bank anrückst, sagen die garantiert, die ist nicht kreditwürdig.

Den Kredit habe ich bekommen. Ich habe alles unterschrieben, was man mir vorgelegt hat. Erst später habe ich gemerkt, dass einem manche Unterschriften ganz schön hart auf die Füße fallen, denn trotz zins- und tilgungsfreier Jahre kommen einen die Belastungen ganz schön hart an.

Seither sind 13 Jahre vergangen. In Strasburg bin ich noch immer. Daran hat sich nichts geändert. Trotzdem ist sehr vieles anders geworden. Alle Kollegen haben sich niedergelassen. Ich hatte den Vorteil, viel jünger als die meisten anderen zu sein. Von unseren Kollegen sind kaum noch welche übrig geblieben. Unser Pulmologe ist kurz nach der Niederlassung verstorben. Er war nicht einmal 60 Jahre alt. Eine Kollegin hat mit 58 Jahren ihre Praxis aufgegeben. Manchmal ist der Druck eben wirklich sehr groß. Unser Chirurg hat mir vor zwei Jahren gesagt: Frau Müller, zwei Jahre muss ich noch durchhalten, dann habe ich für immer frei. Er meinte damit, er könnte sein Leben dann genießen und in den wohlverdienten Ruhestand gehen. Vor einem halben Jahr ist dieser Kollege verstorben. Seine Frau, eine Allgemeinmedizinerkollegin, hat ihn bis zuletzt gepflegt. Wir haben für ihn und für sie die Dienste übernommen und ihre Patienten mitbehandelt.

Eigentlich sind wir in Strasburg nur noch zehn Leute: fünf Allgemeinmediziner, eine Praktische Ärztin, die von Hause aus Kinderärztin ist, ein Orthopäde, ein hausärztlich tätiger Internist, eine Gynäkologin und eine Neurologin. Vor kurzem haben wir einen KV-Bereich aufgelöst, weil dort noch weniger waren als bei uns. Mit unseren zehn Leuten sind wir ja noch ganz gut dran. Im angrenzenden KV-Bereich sind sie nur noch sechs Leute.

Ich könnte Ihnen auf der Leinwand eine Statistik mit Säulendiagrammen zeigen, aber meine Statistik sieht anders aus. Meine Statistik ist aus Fleisch und Blut. Sie heißt Schneider, Donges, Rechlin, Ulrich. Meine Statistik beinhaltet auch, dass man weiterarbeitet, obwohl man Krebs hat und eine Chemotherapie bekommt. Ist es eigentlich normal, dass Ärzte, die es besser wissen müssten, selbst dann weiterarbeiten müssen, wenn sie krank sind, aus welchem Grund auch immer: durch finanziellen Druck, auch aus Verantwortungsbewusstsein?

Jetzt haben Sie gehört, wie es bei uns in Strasburg, dieser kleinen Stadt am Ende der Welt, zugeht, wo die Arbeitslosenquote bei 30,7 Prozent liegt. Für das ganze Land Mecklenburg-Vorpommern beträgt diese Quote 21,1 Prozent, für ganz Deutschland 11 Prozent. Da sind die Probleme schon ein bisschen anders als in der großen weiten Welt.

Auch privat ist bei mir einiges anders geworden. Ich habe immer noch denselben Ehemann, nunmehr seit 26 Jahren. Meine Kinder sind mittlerweile 19 und 20 Jahre alt. Wenn ich abends zu Haus, Heim und Herd zurückkehre, bin ich sehr froh, dass es dieses Zuhause gibt, mit meiner Teddybärensammlung, mit meinen ungefähr 300 Büchern mit Zitaten und Aphorismen. Sie brauchen keine Angst zu haben, dass ich jetzt davon ständig etwas in meine Ausführungen einstreue, nur damit Sie denken: Das ist aber eine Kluge!

(Heiterkeit)

Ich bin auch sehr froh über meine Kinder.

Auf einer der letzten Kammerversammlungen war ein Vertreter der Aufsichtsbehörde zugegen. Er meinte, wir Ärzte sollten doch nicht immer unseren eigenen Berufsstand so schlecht machen. Das musste ich zunächst einmal verdauen. Dann fiel mir ein: Was weiß der Frosch im Brunnen von der Weite des Meeres? - Das ist ein Aphorismus, stammt nicht von mir.

Wenn ich abends nach Hause komme, sehe ich nicht aus wie 46 Jahre, sondern wie 56 Jahre. So fühle ich mich auch. Meine Kinder wollen nicht Arzt werden, obwohl sie ein gutes Abitur machen werden. Ich habe sie zu überreden versucht; dann wäre ich wenigstens meine Praxis losgeworden. Aber das wird wohl nichts.

Sie denken jetzt: Da steht diese Jammerliese aus dem Osten und will bedauert werden! - Nein, ich bin sehr stolz auf die moderne Medizin, die uns sehr viele Möglichkeiten eröffnet. Früher mussten wir zwei Jahre auf Bypassoperationen warten. Heute geht das innerhalb von Tagen. Wenn ich sehr drängele, geht es noch viel schneller.

Die moderne Medizin vollbringt schon etwas, aber die moderne Medizin hat auch ihren Preis. Wir haben hier bereits mehrfach gehört: Die Leute werden immer älter. Ich habe als Hausärztin auf dem Lande sehr viele ältere Patienten. Ich komme mit ihnen sehr gut aus. Ich habe auch immer versucht, neue Anordnungen und Gesetze den Patienten zu erklären. Zunächst habe ich den Fehler immer erst bei mir gesucht und gedacht: Du kannst es ja versuchen, beispielsweise Medikamente zu sparen. Aber das geht nicht auf. Irgendwann kann man nicht mehr sparen.

Die Presse ist hier nicht mehr so stark vertreten wie zu Beginn unserer Veranstaltung. Ärzte sind eben nicht so interessant wie Politiker. In den Medien wird unser Beruf oftmals folgendermaßen dargestellt: Sie vergessen die Tupfer in den Bäuchen, sie schreiben falsche Rechnungen. Andererseits sind wir jung und dynamisch und tragen die weißesten Kittel der Welt, jedenfalls in Arztserien. Aber da schalte ich mich immer aus.

Für mich ist der Arztberuf der schönste Beruf, den es gibt, weil wir alles zugleich sind: der Gott in Weiß und der barmherzige Samariter. Manchmal sind wir auch der Fußabtreter für den ganzen Frust, beispielsweise dann, wenn die Familie des Patienten kein Geld hat und meine Pillen, die ich zum Schlafen verordnet habe, immer noch nicht helfen, weil sie das Problem ja nicht lösen.

Das ist ein bisschen die Geschichte vom Tellerwäscher zum Nicht-Millionär. Sie fragen sich: Warum steht die da eigentlich? - Ich stehe hier heute für Anke Müller. Ich gebe immer ein bisschen viel von mir preis, aber damit kann ich gut leben. Ich stehe hier aber auch für die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte und auch für die Ärztinnen und Ärzte in den Krankenhäusern, die weiterarbeiten, während ich hier in Berlin bin. Meine Kollegin aus der Praxisgemeinschaft hat zu mir gesagt: Anke, willst du auf dem Ärztetag sprechen? Was willst du denn sagen? - Ich habe ihr geantwortet: Mir wird schon etwas einfallen! - Dann sage bitte auch, dass wir immer noch da unten herumkriechen.

So ist es tatsächlich. Ich stehe hier aber auch für meine Kolleginnen und Kollegen in den alten Bundesländern, vor denen ich ein bisschen Berührungsangst hatte. Sie waren gut gekleidet und verbreiteten den Duft der großen weiten Welt. Ich habe erst später registriert, dass es das überhaupt nicht ist, was uns trennt. Uns eint der Gedanke, für die Patienten da zu sein. Dieser Gedanke ist überall gleich.

Was soll ich sagen? Ich bin sehr stolz, Hausärztin zu sein. Wenn ich Grönemeyer wäre und singen könnte - eigentlich kann ich das ganz gut -, würde ich sagen: Ich bleibe da, wo ich bin, ich werde nicht weggehen, meine Frist habe ich da, woher ich komme, verlängert.

Leider sind die Politiker schon gegangen. Ich hätte mir vorstellen können, mit Herrn Müntefering schunkeln zu gehen. Ich könnte mir auch vorstellen, mit Frau Angela Merkel einen Kaffee trinken zu gehen, aber nicht auf einer Wahlveranstaltung. Ich war nämlich nie in einer Partei und werde auch keiner beitreten. Ich möchte alle Politiker bitten, dafür zu sorgen, von den Sparplänen, die nicht zu realisieren sind, wegzukommen. Wir sollten zum Dialog zurückkehren, der uns ja angeboten wurde. Es sollte Frieden mit uns geschlossen werden, denn wenn nicht endlich Frieden geschlossen wird, gehen alles und alle kaputt.

Danke.

(Beifall)

Dr. Auerswald, Vizepräsidentin:

Frau Müller, vielen Dank. Wir haben es genauso erwartet, wie Sie es uns vorgetragen haben. - Als nächsten Redner bitte ich Herrn Leo Hansen.

© 2003, Bundesärztekammer.