TOP I: Forderungen und Vorschläge der Ärzteschaft für die Gesundheitsreform 2003

Dienstag, 18. Februar 2003

Berlin, Axica Kongress- und Tagungszentrum, Nachmittagssitzung

Mehmet Gövercin, geladener Gast:

Sehr geehrtes Präsidium! Verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte Ihnen kurz über einen Arbeitstag aus der Sicht eines Arztes im Praktikum berichten.

Es ist Mittwoch, 19 Uhr. Der Arbeitstag scheint sich seinem Ende zu nähern. Mit der ihm noch verbleibenden Konzentration versucht der AiP zu reflektieren, ob er der Verantwortung gegenüber seinen Patienten gerecht werden konnte. Hat er alles richtig gemacht? Hat er an alles gedacht? Waren die Entscheidungen richtig, die er traf? Konnte er das Bedürfnis seiner Patienten nach einem Gespräch mit ihrem Arzt erfüllen?

Nein, er konnte das Bedürfnis seiner Patienten nicht erfüllen. Er hat es versucht, er wollte ihnen alle Fragen beantworten, doch es war wieder zu wenig Zeit für sie. Wie sehr er sich darum auch bemüht, es erscheint ihm unmöglich, einem Menschen innerhalb weniger Minuten zu erklären, warum seine Erkrankung dieses spezielle Vorgehen erfordert.

Warum hat er wohl zu wenig Zeit? Er schaut auf seine Uhr und überlegt, womit er sich eigentlich in den vergangenen zwölf Stunden des Arbeitstages beschäftigt hat. Den letzten Patienten sah er vor etwa drei Stunden. Er fängt an zu rechnen: pro Patient etwa zehn Minuten für Anamnese, körperliche Untersuchung, Aufklärung, Beratung der Angehörigen etc. Das macht bei durchschnittlich 18 Patienten zusammen drei Stunden. Was ist mit den restlichen acht Stunden? Diese vergehen mit dem Ausfüllen von Anforderungsscheinen, Patientenakten, dem Schreiben von Arztbriefen, dem Bekleben von Monovetten, dem Erfassen und dem Kodieren von Leistungen und Diagnosen etc. Das macht zusammen circa sechs Stunden.

Telefonate machen etwa eine Stunde aus, andere praktische Tätigkeiten ebenfalls eine Stunde. Pause? - Meist nicht möglich. Ärztliche Fortbildung? - Meist nicht möglich. Wenn man bedenkt, dass die Administration zu etwa einem Fünftel vom Arzt bzw. der Ärztin durchzuführen ist, kommt man zu dem Ergebnis, dass etwa die Hälfte der täglichen Arbeit nicht zwingend vom Arzt oder von der Ärztin durchzuführen wäre. Das wären sechs Stunden, die ein AiP länger zur Verfügung hätte, um die Patienten besser zu informieren, mit ihnen zu sprechen, mit den Angehörigen zu sprechen, den Patienten zu erklären, warum ihre Erkrankung dieses spezielle Vorgehen erfordert, statt ihnen lediglich Informationsblätter für das Selbststudium in die Hand zu drücken.

Der AiP ertappt sich bei dem Gedanken, dass eine Zeitersparnis vielleicht auch mehr Zeit für ihn selbst bedeuten würde. Vielleicht hätte er dann noch Zeit für ein Leben außerhalb der Klinik, so wie seine ehemaligen Schulkameraden, die nicht Medizin studiert haben. Vielleicht hätte er dann Zeit für Freude, eine Familie oder sogar Kinder.

Der Stationsdrucker holt ihn mit einem lauten Geräusch in die Realität zurück. Es muss doch möglich sein, eine Lösung zu finden, denkt er sich. Man könnte doch den administrativen Aufwand verringern, vielleicht durch intelligente Softwarelösungen, vielleicht durch medizinische Dokumentationsassistenten.

Doch während er an innovative Verfahren der Aufwandsminimierung an seinem Arbeitsplatz denkt, fällt ihm ein, dass seine Arbeit 3,60 Euro pro Stunde kostet. Die Arbeit eines AiP, als Leistung pro Zeit, ist daher das weitaus effektivere, wahrscheinlich sogar das effektivste Verfahren, stellt er fest.

Einige seiner Kommilitonen denken aufgrund dieser Arbeitsbedingungen zunehmend an Möglichkeiten, das AiP im Ausland effektiver zu gestalten. Andere entscheiden sich, sich gänzlich aus dem Krankenhausbetrieb zurückzuziehen, und wählen alternative Betätigungsfelder.

Der AiP fragt sich daher: Wie lange wird es noch genug AiPs geben, die unter diesen Bedingungen arbeiten werden?

Vielen Dank.

(Beifall)

Prof. Dr. Dr. h. c. Jörg-Dietrich Hoppe,
Präsident der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages:

Besten Dank, Herr Kollege Gövercin, für diese Darstellung. - Der nächste Redner ist Herr Kollege Melzer. Bitte schön.

© 2003, Bundesärztekammer.