Der Antrag von Dr. Gerhard Schwarzkopf-Steinhauser (Drucksache
I-05) wird zur weiteren Beratung an den Vorstand der Bundesärztekammer
überwiesen:
Angesichts der Finanzierungsprobleme der gesetzlichen Krankenversicherung
und mangelhaften Ressourcenverwertung im deutschen Gesundheitswesen
fordert der Außerordentliche Deutsche Ärztetag:
1. Das solidarisch finanzierte Krankenversicherungsystem muss
erhalten bleiben und ausgebaut werden.
2. Eine Aufteilung des Leistungskataloges in Wahl- und Regelleistungen
wird abgelehnt.
3. Die starre Trennung von ambulanter und stationärer Versorgung
sowie die sektorale Gliederung des Gesundheitswesens muss weiter
aufgelöst werden. Der Sicherstellungsauftrag muss von allen
Beteiligten im Gesundheitswesen, der Ärzteschaft und den
Krankenkassen wahrgenommen werden. Eine Beteiligung der Patienten
an dieser Aufgabe ist wünschenswert.
4. Versicherungspflichtgrenze und Beitragsbemessungsgrenze in
der gesetzlichen Krankenversicherung müssen angehoben werden
mit dem Ziel, langfristig die Versicherungspflichtgrenze vollständig
aufzuheben.
5. Die Mittel im Gesundheitswesen müssen konzentrierter
zur Behandlung der großen Volkskrankheiten eingesetzt werden.
6. Die Qualität medizinischer Leistungen muss objektivierbarer
werden. Nachprüfbare Qualität soll die Richtschnur der
Mittelvergabe werden.
7. Nur über verbesserte Fortbildung der Ärzteschaft
kann der medizinische Fortschritt in eine sichere, rationale und
auch kostengünstige Behandlung unserer Patienten umgesetzt
werden. Der Fortbildungsstand muss kontinuierlich auch durch Rezertifizierung
einmal erworbener Kenntnisse und Fähigkeiten nachgewiesen
werden. Der Einfluss der pharmazeutischen Industrie auf die Fortbildung
ist zu kontrollieren und einzuschränken.
8. Eine schärfere Kontrolle der Produkte von Pharma- und
medizinischer Geräteindustrie ist notwendig. Es dürfen
nur noch die medizinisch-technischen Geräte und Verfahren
eingesetzt werden, deren Nutzen nachgewiesen ist.
9. Der so genannte medizinisch-technische Fortschritt ist kritischer
zu bewerten. Nicht jede medizinische Neuerung sollte unkontrolliert
in den medizinischen Alltag übernommen werden.
10. Die Gesundheitsberichterstattung ist zu verbessern. Die Datenlage
zur Erarbeitung epidemiologischer Erhebungen ist sehr schlecht
bzw. es fehlt an Möglichkeiten, vorhandene Daten auszuwerten.
11. Die totale Medikalisierung der Versicherten muss gestoppt
werden. Medizin hat ihre Grenzen.
12. Dokumentation und Datenerfassung haben die Tendenz zu unkontrolliertem
Eigenleben. Die Ärzteschaft in Klinik und Praxis sieht sich
heute mit einer Unzahl bürokratischer Aufgaben und Tätigkeiten
konfrontiert, deren Sinn oft verschlossen bleibt, die aber Zeit
der eigentlichen ärztlichen Tätigkeiten kosten. Bürokratische
Vorschriften müssen auf ein nachvollziehbares Mindestmaß
reduziert werden, mehrfach durchgeführte Dokumentation und
Daten- und Leistungserfassung muss vermieden werden.
Begründung:
Der Deutsche Ärztetag setzt sich für die Erhaltung
der solidarisch finanzierten Krankenversicherung in Deutschland
ein. Jeder Mensch hat den gleichen Anspruch auf Gesundheit und
Versorgung im Krankheitsfall, Gesundheit darf nicht abhängen
von Einkommen oder Vermögen. Gesundheit ist keine Ware, deren
Qualität von der Höhe des Preises abhängig ist.
Die solidarisch von allen Versicherten entsprechend ihrem Einkommen
getragene Versicherung stellt einen Eckpfeiler der sozialen Sicherung
und des sozialen Friedens in Deutschland dar, an dem nicht aus
kurzfristigen finanziellen Erwägungen heraus gerüttelt
werden darf. Solidarische Finanzierung heißt auch, dass
sie zu gleichen Teilen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern getragen
wird, nur so lässt sich die soziale Verantwortung der Arbeitgeber
für die Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit der
Arbeitnehmer sichern.
Der Deutsche Ärztetag spricht sich gegen jede Form der Beitragsauftrennung
in Grund- und Wahlleistungen oder Wahl- und Regelleistungen aus.
Wenn sich ein Teil der Versicherten von der Vorsorge gegen bestimmte
Risiken ausschließen kann, wird die Versicherung dieser
Risiken für den Rest der Versicherten zwangsläufig teurer
werden. Eine solche Aufteilung wird das Prinzip des solidarisch
getragenen Risikos aushöhlen. Aus dem gleichen Grunde wird
auch eine Ausweitung der Zuzahlung der Versicherten zu bestimmten
Leistungen abgelehnt. Notwendige medizinische Leistungen müssen
für alle Versicherten zu gleichen Bedingungen zugänglich
sein.
Untersuchungen von OECD und WHO haben gezeigt, dass der Stand
der medizinischen Versorgung im internationalen Maßstab
nicht den dafür aufgebrachten Mitteln entspricht. Das deutsche
Gesundheitswesen ist teuer und international gesehen nur noch
Mittelmaß. Die vorhandenen Mittel werden ineffektiv eingesetzt,
zu sehr bestimmen wirtschaftliche Partikularinteressen von Industrie,
Krankenkassen, niedergelassenen Ärzten und Krankenhäusern
die Mittelverteilung. Es hat sich gezeigt, dass zunehmende Konkurrenz
als Mittel der freien Marktwirtschaft im Gesundheitswesen keine
synergistischen Effekte hat. Wenn der wirtschaftliche Vorteil
im Mittelpunkt steht, kommen die Interessen der Patienten zu kurz.
Der Maßstab einer solidarischen Gesundheitsversorgung kann
nur die Qualität der erbrachten medizinischen Leistung sein.
Gesicherte und nachprüfbare Qualität muss Steuerinstrument
des Mittelflusses im Gesundheitswesen werden. Qualitativ hochwertige
Medizin wird langfristig Mittel im Gesundheitswesen einsparen.
Deshalb unterstützt und fördert der Deutsche Ärztetag
alle Bestrebungen, die Vorsorge und medizinische Behandlung durch
Leitlinien und evidenzbasierte Grundsätze auf eine rationale,
nachprüfbare Basis zu stellen. Diese Leitlinien müssen
regelmäßig evaluiert werden und die Qualität der
erbrachten Leistung ist in Verbindung zur Vergütung dieser
Leistung zu setzen. Qualität als Maß für medizinische
Leistungen wird umso wichtiger, als mit steigender Konkurrenz
im Gesundheitswesen wirtschaftliche Interessen und ökonomische
Argumentation Grundlage gesundheitspolitischer Entscheidungen
werden. Leitlinien müssen auf wissenschaftlich nachprüfbarer
Basis stehen. Sie dürfen nicht zur Durchsetzung von Sonderinteressen
missbraucht werden. Die Definition und Überprüfbarkeit
von Qualität in der medizinischen Versorgung ist eine schwierige
Aufgabe. Es ist eine wesentliches Ziel der verfassten Ärzteschaft,
an der Lösung dieser Aufgabe mitzuarbeiten.
Die Ökonomisierung des Gesundheitswesens fördert die
Ausbildung eines zweiten Gesundheitsmarktes außerhalb des
Aufgabenbereichs der gesetzlichen Krankenversicherung. Der Wildwuchs
in diesem Bereich wird mit Sorge beobachtet. Der Einnahmerückgang
aus der Vergütung der gesetzlichen Krankenversicherung verleitet
Kollegen, bei gesetzlich versicherten Patienten außerhalb
des Leistungskataloges zu liquidieren. Häufig werden dabei
die Grenzen des ethisch Vertretbaren überschritten. Dieser
Bereich muss zukünftig schärfer kontrolliert oder gänzlich
vom gesetzlichen Versorgungsbereich getrennt werden.
Der Kostenanstieg für Arzneimittel ist ein wesentlicher
Grund für die Finanzierungsprobleme der gesetzlichen Krankenkassen.
Langfristig kann eine evidenzbasierte, rationale Arzneitherapie
diese Kosten drastisch reduzieren, kurzfristig sind steuernde
Eingriffe in den sich wild entwickelnden Markt erforderlich. Ein
Mittel hierfür kann die Einführung der von der Ärzteschaft
auf Ärztetagen geforderten Positivliste für Arzneimittel
sein. Auch die jetzt eingeführte aut-idem Regelung stellt
– bei allen administrativen Mängeln bei der Einführung
– eine sinnvolle Möglichkeit zur Kostenreduktion dar.
Die Überwachung der Arzneimittelsicherheit muss verbessert
werden.
Dringend notwendig ist die verstärkte öffentliche Finanzierung
der klinischen Forschung in Deutschland. Es geht nicht an, dass
dieser für die Sicherheit von Medikamenten so wichtige Bereich
zunehmend und fast ausschließlich von der Pharmaindustrie
bezahlt und kontrolliert wird. Da klinische Forschung im öffentlichen
Interesse durchgeführt wird, sollten auch die Versicherten
und Patienten als Hauptbetroffene ein Mitspracherecht bei Planung
und Mittelvergabe haben. Selbstverständlich aber muss die
Industrie für die Erforschung der Anwendungssicherheit ihrer
Präparate die finanzielle Verantwortung übernehmen.
Die Risiken und der Nutzen des medizinisch-technischen Fortschritts
müssen ebenso wie die Arzneimittelsicherheit von einer zentralen
Institution, die von allen Beteiligten im Gesundheitswesen getragen
wird, beurteilt und für die allgemeine Anwendung freigegeben
werden.
Ein weiterer kostentreibender Faktor ist die Trennung von ambulanter
und stationärer Versorgung. Die sektoral gegliederten Teilbereiche
des Gesundheitswesens von Vorsorge über ambulante und stationäre
Versorgung bis hin zur Rehabilitation müssen eng verzahnt
werden. Deshalb begrüßt der Deutsche Ärztetag
die im Gesundheitsreformgesetz 2000 gemachten Ansätze zur
Aufhebung dieser Trennung und fordert weitere Entwicklung in diese
Richtung. Insbesondere ist die weitere Einbeziehung der hochtechnisierten
Kliniken in die ambulante Versorgung der Patienten wünschenswert.
Umgekehrt müssen auch die ambulant tätigen Kolleginnen
und Kollegen und insbesondere die Allgemeinmediziner Zugang zu
den stationären Versorgungseinrichtungen erhalten.
Der Sicherstellungsauftrag muss neu geregelt werden. Den gesetzlichen
Krankenkassen als Kostenträger der medizinischen Versorgung
steht das Recht zu, den Mittelfluss ihrer Versicherten mit zu
kontrollieren und steuern. Um diese Aufgabe übernehmen zu
können, müssen die Krankenkassen ihr rein wirtschaftliches
Denken zugunsten Versicherten- und Patienten-zentrierten Perspektiven
aufgeben. Auch den Versicherten, den Patienten und ihren Selbsthilfegruppen
steht ein Mitspracherecht bei der Sicherstellung des Versorgungsauftrages
zu. Regionale Gesundheitskonferenzen mit Einbeziehung aller Beteiligten
können ein Mittel der Steuerung und Planung des Gesundheitswesens
sein.
Es ist zu begrüßen, dass die Krankenkassen in Zukunft
ihre Mittel zur Bekämpfung der häufigsten Erkrankungen
der Bevölkerung konzentrieren wollen. Dies stellt eine sicherere
Investition in die Zukunft dar als die Finanzierung spektakulärer,
aber in ihren Auswirkungen noch nicht beurteilbarer hochtechnischer
Leistungen. Doch ist mit Sorge zu beobachten, dass diese Programme
häufig zur ökonomischen Positionierung auf dem Gesundheitsmarkt
missbraucht werden. Um den Erfolg dieser Maßnahmen zu kontrollieren,
ist die Gesundheitsberichterstattung in Deutschland massiv zu
verbessern.
Mit zunehmender Spezialisierung der Medizin kommt dem Hausarzt
die zentrale Rolle der Koordination und Befundzusammenfassung
zu. Er muss der Partner sein, der den Patienten durch die immer
undurchsichtiger werdenden Wege des Medizinbetriebes begleitet
und leitet. Um seine Entscheidungen nicht durch finanzielle Anreize
zu beeinflussen, muss seine Bezahlung nach Möglichkeit pauschaliert
unter Berücksichtigung des Arbeitseinsatzes erfolgen. Je
weiter die ärztliche Leistung vom Geld getrennt ist, um so
objektiver kann sie im Sinne der Patienten erbracht werden.
Das Gesundheitswesen dient den Interessen der Versicherten. Die
Sicherstellung des Wirtschaftsstandortes Deutschland ist nicht
Aufgabe des Gesundheitswesens. Die Patienten sollten im Mittelpunkt
unseres medizinischen Denkens stehen. Wir dürfen nicht vergessen,
dass die Versicherten einen Großteil unseres Gesundheitswesens
und damit auch des ärztlichen Einkommens finanzieren. Deshalb
sollten sie ein größeres Mitspracherecht bei der Planung
des Gesundheitswesens haben. Die Rechte der Patienten müssen
gestärkt werden. Initiativen zur Verabschiedung eines Patientenschutzgesetzes
sind – sofern sie wirklich die Rechte der Patienten stärken
– zu unterstützen.