Anhang A
Beschlüsse und Entschließungen

TOP I: Forderungen und Vorschläge der Ärzteschaft für die Gesundheitsreform 2003

EENTSCHLIESSUNGSANTRAG I – 05

Der Antrag von Dr. Gerhard Schwarzkopf-Steinhauser (Drucksache I-05) wird zur weiteren Beratung an den Vorstand der Bundesärztekammer überwiesen:

Angesichts der Finanzierungsprobleme der gesetzlichen Krankenversicherung und mangelhaften Ressourcenverwertung im deutschen Gesundheitswesen fordert der Außerordentliche Deutsche Ärztetag:

1. Das solidarisch finanzierte Krankenversicherungsystem muss erhalten bleiben und ausgebaut werden.

2. Eine Aufteilung des Leistungskataloges in Wahl- und Regelleistungen wird abgelehnt.

3. Die starre Trennung von ambulanter und stationärer Versorgung sowie die sektorale Gliederung des Gesundheitswesens muss weiter aufgelöst werden. Der Sicherstellungsauftrag muss von allen Beteiligten im Gesundheitswesen, der Ärzteschaft und den Krankenkassen wahrgenommen werden. Eine Beteiligung der Patienten an dieser Aufgabe ist wünschenswert.

4. Versicherungspflichtgrenze und Beitragsbemessungsgrenze in der gesetzlichen Krankenversicherung müssen angehoben werden mit dem Ziel, langfristig die Versicherungspflichtgrenze vollständig aufzuheben.

5. Die Mittel im Gesundheitswesen müssen konzentrierter zur Behandlung der großen Volkskrankheiten eingesetzt werden.

6. Die Qualität medizinischer Leistungen muss objektivierbarer werden. Nachprüfbare Qualität soll die Richtschnur der Mittelvergabe werden.

7. Nur über verbesserte Fortbildung der Ärzteschaft kann der medizinische Fortschritt in eine sichere, rationale und auch kostengünstige Behandlung unserer Patienten umgesetzt werden. Der Fortbildungsstand muss kontinuierlich auch durch Rezertifizierung einmal erworbener Kenntnisse und Fähigkeiten nachgewiesen werden. Der Einfluss der pharmazeutischen Industrie auf die Fortbildung ist zu kontrollieren und einzuschränken.

8. Eine schärfere Kontrolle der Produkte von Pharma- und medizinischer Geräteindustrie ist notwendig. Es dürfen nur noch die medizinisch-technischen Geräte und Verfahren eingesetzt werden, deren Nutzen nachgewiesen ist.

9. Der so genannte medizinisch-technische Fortschritt ist kritischer zu bewerten. Nicht jede medizinische Neuerung sollte unkontrolliert in den medizinischen Alltag übernommen werden.

10. Die Gesundheitsberichterstattung ist zu verbessern. Die Datenlage zur Erarbeitung epidemiologischer Erhebungen ist sehr schlecht bzw. es fehlt an Möglichkeiten, vorhandene Daten auszuwerten.

11. Die totale Medikalisierung der Versicherten muss gestoppt werden. Medizin hat ihre Grenzen.

12. Dokumentation und Datenerfassung haben die Tendenz zu unkontrolliertem Eigenleben. Die Ärzteschaft in Klinik und Praxis sieht sich heute mit einer Unzahl bürokratischer Aufgaben und Tätigkeiten konfrontiert, deren Sinn oft verschlossen bleibt, die aber Zeit der eigentlichen ärztlichen Tätigkeiten kosten. Bürokratische Vorschriften müssen auf ein nachvollziehbares Mindestmaß reduziert werden, mehrfach durchgeführte Dokumentation und Daten- und Leistungserfassung muss vermieden werden.

Begründung:

Der Deutsche Ärztetag setzt sich für die Erhaltung der solidarisch finanzierten Krankenversicherung in Deutschland ein. Jeder Mensch hat den gleichen Anspruch auf Gesundheit und Versorgung im Krankheitsfall, Gesundheit darf nicht abhängen von Einkommen oder Vermögen. Gesundheit ist keine Ware, deren Qualität von der Höhe des Preises abhängig ist. Die solidarisch von allen Versicherten entsprechend ihrem Einkommen getragene Versicherung stellt einen Eckpfeiler der sozialen Sicherung und des sozialen Friedens in Deutschland dar, an dem nicht aus kurzfristigen finanziellen Erwägungen heraus gerüttelt werden darf. Solidarische Finanzierung heißt auch, dass sie zu gleichen Teilen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern getragen wird, nur so lässt sich die soziale Verantwortung der Arbeitgeber für die Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit der Arbeitnehmer sichern.

Der Deutsche Ärztetag spricht sich gegen jede Form der Beitragsauftrennung in Grund- und Wahlleistungen oder Wahl- und Regelleistungen aus. Wenn sich ein Teil der Versicherten von der Vorsorge gegen bestimmte Risiken ausschließen kann, wird die Versicherung dieser Risiken für den Rest der Versicherten zwangsläufig teurer werden. Eine solche Aufteilung wird das Prinzip des solidarisch getragenen Risikos aushöhlen. Aus dem gleichen Grunde wird auch eine Ausweitung der Zuzahlung der Versicherten zu bestimmten Leistungen abgelehnt. Notwendige medizinische Leistungen müssen für alle Versicherten zu gleichen Bedingungen zugänglich sein.

Untersuchungen von OECD und WHO haben gezeigt, dass der Stand der medizinischen Versorgung im internationalen Maßstab nicht den dafür aufgebrachten Mitteln entspricht. Das deutsche Gesundheitswesen ist teuer und international gesehen nur noch Mittelmaß. Die vorhandenen Mittel werden ineffektiv eingesetzt, zu sehr bestimmen wirtschaftliche Partikularinteressen von Industrie, Krankenkassen, niedergelassenen Ärzten und Krankenhäusern die Mittelverteilung. Es hat sich gezeigt, dass zunehmende Konkurrenz als Mittel der freien Marktwirtschaft im Gesundheitswesen keine synergistischen Effekte hat. Wenn der wirtschaftliche Vorteil im Mittelpunkt steht, kommen die Interessen der Patienten zu kurz.

Der Maßstab einer solidarischen Gesundheitsversorgung kann nur die Qualität der erbrachten medizinischen Leistung sein. Gesicherte und nachprüfbare Qualität muss Steuerinstrument des Mittelflusses im Gesundheitswesen werden. Qualitativ hochwertige Medizin wird langfristig Mittel im Gesundheitswesen einsparen. Deshalb unterstützt und fördert der Deutsche Ärztetag alle Bestrebungen, die Vorsorge und medizinische Behandlung durch Leitlinien und evidenzbasierte Grundsätze auf eine rationale, nachprüfbare Basis zu stellen. Diese Leitlinien müssen regelmäßig evaluiert werden und die Qualität der erbrachten Leistung ist in Verbindung zur Vergütung dieser Leistung zu setzen. Qualität als Maß für medizinische Leistungen wird umso wichtiger, als mit steigender Konkurrenz im Gesundheitswesen wirtschaftliche Interessen und ökonomische Argumentation Grundlage gesundheitspolitischer Entscheidungen werden. Leitlinien müssen auf wissenschaftlich nachprüfbarer Basis stehen. Sie dürfen nicht zur Durchsetzung von Sonderinteressen missbraucht werden. Die Definition und Überprüfbarkeit von Qualität in der medizinischen Versorgung ist eine schwierige Aufgabe. Es ist eine wesentliches Ziel der verfassten Ärzteschaft, an der Lösung dieser Aufgabe mitzuarbeiten.

Die Ökonomisierung des Gesundheitswesens fördert die Ausbildung eines zweiten Gesundheitsmarktes außerhalb des Aufgabenbereichs der gesetzlichen Krankenversicherung. Der Wildwuchs in diesem Bereich wird mit Sorge beobachtet. Der Einnahmerückgang aus der Vergütung der gesetzlichen Krankenversicherung verleitet Kollegen, bei gesetzlich versicherten Patienten außerhalb des Leistungskataloges zu liquidieren. Häufig werden dabei die Grenzen des ethisch Vertretbaren überschritten. Dieser Bereich muss zukünftig schärfer kontrolliert oder gänzlich vom gesetzlichen Versorgungsbereich getrennt werden.

Der Kostenanstieg für Arzneimittel ist ein wesentlicher Grund für die Finanzierungsprobleme der gesetzlichen Krankenkassen. Langfristig kann eine evidenzbasierte, rationale Arzneitherapie diese Kosten drastisch reduzieren, kurzfristig sind steuernde Eingriffe in den sich wild entwickelnden Markt erforderlich. Ein Mittel hierfür kann die Einführung der von der Ärzteschaft auf Ärztetagen geforderten Positivliste für Arzneimittel sein. Auch die jetzt eingeführte aut-idem Regelung stellt – bei allen administrativen Mängeln bei der Einführung – eine sinnvolle Möglichkeit zur Kostenreduktion dar. Die Überwachung der Arzneimittelsicherheit muss verbessert werden.

Dringend notwendig ist die verstärkte öffentliche Finanzierung der klinischen Forschung in Deutschland. Es geht nicht an, dass dieser für die Sicherheit von Medikamenten so wichtige Bereich zunehmend und fast ausschließlich von der Pharmaindustrie bezahlt und kontrolliert wird. Da klinische Forschung im öffentlichen Interesse durchgeführt wird, sollten auch die Versicherten und Patienten als Hauptbetroffene ein Mitspracherecht bei Planung und Mittelvergabe haben. Selbstverständlich aber muss die Industrie für die Erforschung der Anwendungssicherheit ihrer Präparate die finanzielle Verantwortung übernehmen. Die Risiken und der Nutzen des medizinisch-technischen Fortschritts müssen ebenso wie die Arzneimittelsicherheit von einer zentralen Institution, die von allen Beteiligten im Gesundheitswesen getragen wird, beurteilt und für die allgemeine Anwendung freigegeben werden.

Ein weiterer kostentreibender Faktor ist die Trennung von ambulanter und stationärer Versorgung. Die sektoral gegliederten Teilbereiche des Gesundheitswesens von Vorsorge über ambulante und stationäre Versorgung bis hin zur Rehabilitation müssen eng verzahnt werden. Deshalb begrüßt der Deutsche Ärztetag die im Gesundheitsreformgesetz 2000 gemachten Ansätze zur Aufhebung dieser Trennung und fordert weitere Entwicklung in diese Richtung. Insbesondere ist die weitere Einbeziehung der hochtechnisierten Kliniken in die ambulante Versorgung der Patienten wünschenswert. Umgekehrt müssen auch die ambulant tätigen Kolleginnen und Kollegen und insbesondere die Allgemeinmediziner Zugang zu den stationären Versorgungseinrichtungen erhalten.

Der Sicherstellungsauftrag muss neu geregelt werden. Den gesetzlichen Krankenkassen als Kostenträger der medizinischen Versorgung steht das Recht zu, den Mittelfluss ihrer Versicherten mit zu kontrollieren und steuern. Um diese Aufgabe übernehmen zu können, müssen die Krankenkassen ihr rein wirtschaftliches Denken zugunsten Versicherten- und Patienten-zentrierten Perspektiven aufgeben. Auch den Versicherten, den Patienten und ihren Selbsthilfegruppen steht ein Mitspracherecht bei der Sicherstellung des Versorgungsauftrages zu. Regionale Gesundheitskonferenzen mit Einbeziehung aller Beteiligten können ein Mittel der Steuerung und Planung des Gesundheitswesens sein.

Es ist zu begrüßen, dass die Krankenkassen in Zukunft ihre Mittel zur Bekämpfung der häufigsten Erkrankungen der Bevölkerung konzentrieren wollen. Dies stellt eine sicherere Investition in die Zukunft dar als die Finanzierung spektakulärer, aber in ihren Auswirkungen noch nicht beurteilbarer hochtechnischer Leistungen. Doch ist mit Sorge zu beobachten, dass diese Programme häufig zur ökonomischen Positionierung auf dem Gesundheitsmarkt missbraucht werden. Um den Erfolg dieser Maßnahmen zu kontrollieren, ist die Gesundheitsberichterstattung in Deutschland massiv zu verbessern.

Mit zunehmender Spezialisierung der Medizin kommt dem Hausarzt die zentrale Rolle der Koordination und Befundzusammenfassung zu. Er muss der Partner sein, der den Patienten durch die immer undurchsichtiger werdenden Wege des Medizinbetriebes begleitet und leitet. Um seine Entscheidungen nicht durch finanzielle Anreize zu beeinflussen, muss seine Bezahlung nach Möglichkeit pauschaliert unter Berücksichtigung des Arbeitseinsatzes erfolgen. Je weiter die ärztliche Leistung vom Geld getrennt ist, um so objektiver kann sie im Sinne der Patienten erbracht werden.

Das Gesundheitswesen dient den Interessen der Versicherten. Die Sicherstellung des Wirtschaftsstandortes Deutschland ist nicht Aufgabe des Gesundheitswesens. Die Patienten sollten im Mittelpunkt unseres medizinischen Denkens stehen. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Versicherten einen Großteil unseres Gesundheitswesens und damit auch des ärztlichen Einkommens finanzieren. Deshalb sollten sie ein größeres Mitspracherecht bei der Planung des Gesundheitswesens haben. Die Rechte der Patienten müssen gestärkt werden. Initiativen zur Verabschiedung eines Patientenschutzgesetzes sind – sofern sie wirklich die Rechte der Patienten stärken – zu unterstützen.

© 2003, Bundesärztekammer.