Gesundheitspolitisches Programm der deutschen Ärzteschaft

Grundlage für die politische Arbeit sowie für Stellungnahmen der Bundesärztekammer zu wichtigen Fragen der Gesundheits- und Sozialpolitik ist das vom 97. Deutschen Ärztetag 1994 in Köln verabschiedete „Gesundheitspolitische Programm der deutschen Ärzteschaft“. Es ist die konsequente Fortentwicklung der erstmals im Jahre 1974 vom 77. Deutschen Ärztetag verabschiedeten „Gesundheits- und sozialpolitischen Vorstellungen der deutschen Ärzteschaft“.

In 28 Kapiteln sind die Grundlagen eines bürgernahen Gesundheitswesens beschrieben. Vorangestellt sind dem Programm folgende Leitsätze:

„(1.1) Gesundheitspolitik im Spannungsfeld zwischen Individuum und Gesellschaft

Die Gesundheitspolitik muss optimale Voraussetzungen für Schutz, Förderung, Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit des einzelnen Menschen schaffen. Diese Aufgabe liegt im Spannungsfeld zwischen Individuum und Gesellschaft. Aufgaben des Staates müssen mit der persönlichen Verantwortung des einzelnen abgestimmt werden. Eine sinnvolle Gesundheitspolitik darf die persönliche Verantwortlichkeit und die Bereitschaft zur Eigenverantwortung des einzelnen für die eigene Lebensführung nicht abbauen, sondern muss diese fordern und fördern.

(1.2) Eigenständigkeit der Gesundheitspolitik

Wirtschaftliche und wirtschaftspolitische Rahmenbedingungen bestimmen immer noch maßgeblich die Gesundheitspolitik. Eine einseitige Unterordnung der Gesundheitspolitik unter primär finanzpolitischen Vorgaben aber kann ihrem Stellenwert nicht gerecht werden. Nur in Eigenständigkeit können von der Gesundheitspolitik Initiativen auf andere Politikbereiche ausgehen, wie beispielsweise auf die Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik. Gesundheitspolitik muss daher Zusammenhänge zwischen Gesellschaftsstruktur, allgemeinen Arbeits- und Lebensbedingungen, Erkrankungen und Mortalitätsentwicklung beeinflussen. Nur so kann gesundheitspolitisches Handeln erfolgreich sein; eine einseitig fiskalisch ausgerichtete Betrachtungsweise wird dem nicht gerecht.

Bei allen weiteren Reformschritten müssen deshalb medizinische Prioritäten für die Gesundheitssicherung und die Krankenversorgung berücksichtigt werden.

Um den Interessen der Bürger gerecht werden zu können, müssen objektivierbare Daten –auch durch eine fundierte Gesundheitsberichterstattung – für eine Gesamtbedarfsanalyse ermittelt werden. Dies gilt auch für die Abgrenzung des Leistungsangebotes von ambulanter und stationärer Versorgung, die hausärztliche und spezialärztliche Versorgung sowie für die Bildung neuer Kooperationsformen, die beide Leistungsbereiche verbinden können.

(1.3) Eigenverantwortung, Subsidiarität und Solidarität als Kernprinzipien wirkungsvoller Gesundheitspolitik

Die Grundsätze unseres sozialen Sicherungssystems – Eigenverantwortung, Subsidiarität und Solidarität – sind angesichts der zukünftigen Herausforderungen neu gegeneinander abzuwägen.

Durch eine Rückbesinnung auf die Prinzipien Eigenverantwortung und Subsidiarität kann die Solidargemeinschaft entlastet und geschützt sowie für die großen Risiken erhalten werden. Statt immer mehr Reglementierung sind für die wirtschaftliche Erbringung von notwendigen Leistungen in der gesetzlichen Krankenversicherung neue Anreize zu entwickeln. Zur Stärkung der Eigenverantwortung des Versicherten für seine Gesundheit sind sozial gestaltete, wirksame Selbstbeteiligungsregelungen geeignet.

Eigenverantwortung bedeutet Stärkung der Entscheidungsfreiheit und Unabhängigkeit des Bürgers. Die mit der Gesundheitsgesetzgebung bisher ständig zunehmende Regelungsdichte geht dagegen vom Menschenbild eines unmündigen Versicherten aus, der eine allumfassende Fürsorge der staatlichen Verwaltung benötigt. Mehr Eigenverantwortung entspricht den freiheitlichen Strukturen unserer Gesellschaft und fördert das individuelle gesundheitsbewusste Verhalten.

Subsidiarität im Gesundheitswesen bedeutet eine abgestufte Verantwortung des einzelnen vor der Verantwortlichkeit des Staates. Nicht jede Aufgabe, die das Vermögen des einzelnen übersteigt, ist sogleich eine Aufgabe des Staates. Zahlreiche Gemeinschaften und gesellschaftliche Gruppen – von der Familie bis zu kirchlichen Organisationen und Versichertengemeinschaften – müssen hier je nach ihren verschiedenen Aufgaben und Möglichkeiten wesentliche gesundheitspolitische Verantwortungsbereiche übernehmen.

Die Abstufung solcher Verantwortungsbereiche stellt sich dar in der

     persönlichen Verantwortung,

     sozialen, d.h. mitmenschlichen oder Gruppenverantwortung,

     staatlichen Verantwortung.

Ziel der Gesundheitspolitik und der auf die Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit gerichteten Sozialpolitik muss es sein, den bestmöglichen Effekt durch rationellen Einsatz der Mittel zu erreichen.

Das Solidarprinzip muss das Fundament der sozialen Sicherung in Deutschland bleiben. In einem sozialen Rechtsstaat ist die Solidarität aller für alle immer dort eine ethische Verpflichtung, wo in Eigenverantwortung organisierte subsidiäre Hilfen überfordert sind.

(1.4) Der Arzt dient der Gesundheit des einzelnen Menschen und der gesamten Bevölkerung

Der Arzt wird aus seiner beruflichen Kompetenz heraus präventiv, kurativ und rehabilitativ sowohl für den Patienten als auch für die gesamte Bevölkerung tätig. Ärzte sind und bleiben die Interessenwalter der gesunden und kranken Menschen. Sie setzen sich ihrem beruflichen Selbstverständnis gemäß dafür ein, ihre Patienten bestmöglich zu versorgen. Im Konflikt zwischen Patienten- und Gemeinschaftsinteresse muss der Arzt die Interessen des Patienten wahren und die Regeln der ärztlichen Kunst einhalten. Für eine optimale Patientenversorgung muss er auf medizinisch-wissenschaftlicher Grundlage Entscheidungen über das medizinisch Notwendige treffen, auch – und gerade dann – wenn die Kluft zwischen medizinisch Sinnvollem, menschlich Vertretbarem und medizinisch-technisch Machbarem wächst.

Im Einzelfall hat der Arzt zwischen dem medizinisch Sinnvollen, menschlich Vertretbarem und medizinisch-technisch Machbarem zu entscheiden.

In die Freiheit dieser Entscheidung darf nicht durch politisch festgelegte Rationierung eingegriffen werden. Dies liefe sowohl dem Patienteninteresse wie dem der ganzen Bevölkerung zuwider und ist deshalb für die Ärzteschaft nicht akzeptabel.

(1.5) Selbstverwaltung stärken

Eigenverantwortung und Subsidiarität sind Voraussetzung für funktionierende Selbstverwaltungen. Staatliche Verwaltungen sind nachweislich weniger flexibel und „kunden“-fern. Selbstverwaltung muss durch gesetzliche Rahmenbedingungen befähigt sein, ihre ordnungspolitische Aufgabe ebenso fachkompetent und verantwortlich zu erfüllen wie die Wahrung aller Angelegenheiten ihrer Mitglieder. Selbstverwaltung bedeutet deshalb die Wahrung von Rechten und Pflichten im Interesse der Bürger.

Eingriffe des Gesetzgebers in die Regelungskompetenz der Selbstverwaltungen, z.B. im Rahmen von Kostendämpfungsmaßnahmen führen zu Bürokratisierung und Reglementierung und stellen damit die Funktionsfähigkeit der Selbstverwaltung in Frage.

(1.6) Qualität der medizinischen Versorgung sichern

Die Qualitätssicherung der medizinischen Versorgung ist ein herausragendes ärztliches Ziel zur bestmöglichen Versorgung der Patienten. Medizinische Standards, Richtlinien und Empfehlungen müssen weiterentwickelt werden. Dies wird dazu beitragen, im Patienteninteresse den hohen Stand der medizinischen Versorgung zu gewährleisten.

Alle an der gesundheitlichen Versorgung Beteiligten (Ärzteschaft, Krankenkassen, Krankenhausträger u.a.), müssen sich aktiv um Maßnahmen der Qualitätssicherung in der Medizin bemühen.

Rationelle Untersuchungs- und Behandlungsabläufe können dabei auch die Wirtschaftlichkeit verbessern.

(1.7) Gesundheits- und Sozialpolitik international orientieren

Eine Standortbestimmung der Gesundheits- und Sozialpolitik in Deutschland muss auf der Grundlage aussagekräftiger Daten auch im Hinblick auf die europäische Integration in der europäischen Union erfolgen, um

     das Zusammenwirken der nationalen Sicherungssyteme für die Krankenversorgung unter Wahrung landesspezifischer Regelungen zu ermöglichen,

     den freien Dienstleistungsverkehr zu realisieren,

     Niederlassungsfreiheit zu gewährleisten und

     einen einheitlichen Markt für Arzneimittel zu sichern.

Die nach Öffnung der Grenzen im Osten einsetzende freiheitliche Gestaltung der dortigen Gesundheits- und Sozialsysteme ist nach Kräften zu fördern.“

(Das gesundheitspolitische Programm kann bei der Bundesärztekammer angefordert werden.)

Über die Grundzüge der gesundheits- und sozialpolitischen Vorstellungen der deutschen Ärzteschaft ist mit der Politik sehr schnell Einigkeit zu erzielen. Diese Einigkeit wird aber schnell ad acta gelegt, wenn es darum geht, tagespolitische Arbeit zu leisten.

Wie in anderen Teilen dieses Tätigkeitsberichts niedergelegt, sieht zwar auch die rot/grüne Regierungskoalition den Versicherten/Patienten im Mittelpunkt der Gesundheitspolitik. Die hierbei eingeschlagenen Wege können aber oft nicht die Zustimmung der Ärzteschaft finden. Zu viel Reglementierungen, zu wenig Gestaltungsspielraum für die gemeinsame Selbstverwaltung und insbesondere die starre Budgetierung sind  nicht vereinbar mit einem freiheitlichen System der Versorgung der Bevölkerung im Falle von Erkrankungen. Die Überbetonung ökonomischer Grenzen für das Gesundheitswesen und die damit einhergehende Gefahr der Rationierung von Leistungen sind nach Auffassung der Ärzteschaft nicht vereinbar mit dem Anspruch der Bevölkerung, eine gute medizinische Versorgung nach dem Stand von Wissenschaft und Technik zu vermitteln. Hier zeigt das „Gesundheitspolitische Programm der deutschen Ärzteschaft“ einen anderen Weg.

Besonders deutlich wurde dies bei der Auseinandersetzung mit den vielfältigen und zum Teil widersprüchlichen Vorschlägen zur Reform der gesetzlichen Krankenversicherung von Regierung, aber auch Oposition im Rahmen des Außerordentlichen Deutschen Ärztetages am 18. Februar 2003 in Berlin. Die Ärzteschaft bezog in einer Resolution, die nachfolgend wiedergegeben ist, noch einmal deutlich Position, welche Eckpunkte handlungsleitend sein müssen zur Weiterentwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung und zum Erhalt einer guten Versorgung der Bevölkerung.

„Für eine neue soziale Krankenversicherung - Individuelle Gesundheitsversorgung für alle

Patient und Arzt brauchen Vertrauen und stabile Rahmenbedingungen für eine gute Medizin. Der Patient hat Anspruch auf eine individuelle Behandlung entsprechend dem medizinischen Fortschritt. Für eine solche Krankenversorgung zahlen die Versicherten bisher ihre Beiträge.

Allerdings braucht der Arzt auch die notwendige Zeit, um auf den einzelnen Patienten eingehen zu können. Schematisierung und Standardisierung der Medizin führen mehr und mehr in die Entfremdung der Patienten-Arzt-Beziehung. Staatlich vorgegebener Dokumentationswahn bindet Zeit, die für die Patientenbehandlung verloren geht.

Entmündigung des Patienten und Bevormundung des Arztes, das sind die offensichtlichen Konsequenzen der Gesundheitspolitik dieser Regierung. Die bisherigen Leistungen werden schlecht geredet, um eine staatlich verordnete Wartelisten-Medizin aufzubauen. Denn was jetzt als Effizienzsteigerung versprochen wird, ist in Wahrheit der direkte Weg in die Zuteilungsmedizin. Der Patient hat dann keine Aussicht mehr auf eine individuelle Behandlung. Die Ärzte werden nicht mehr das tun können, was nach dem medizinischen Fortschritt geboten ist. Der kranke Mensch wird so zur Norm- und Kostengröße, der Arzt zum Erfüllungsgehilfen der Krankenkassen.

Gesundheitspolitik heute plant unverkennbar den Wechsel von der Patientenversorgung in die Krankheitsverwaltung.

Notwendig sind vernünftige Arbeitsbedingungen in Klinik und Praxis, unter denen gute Medizin wieder möglich wird. Erforderlich sind außerdem Konzepte gegen den zunehmenden Ärztemangel.

Notwendigkeiten für eine gute Medizin

Die Entwicklung hin zu einer Gesellschaft des langen Lebens, die enormen Möglichkeiten des medizinischen Fortschritts und die gestiegene Bedeutung der Gesundheit im Leben des einzelnen Menschen bedeuten eine gewaltige Herausforderung für die Finanzierung unseres Gesundheitswesens. Eine Neugestaltung der sozialen Krankenversicherung ist unausweichlich, soll auch in Zukunft noch eine Gesundheitsversorgung für alle möglich sein. Die jetzt geplante Weichenstellung ist deshalb der wichtigste Einschnitt im Gesundheitswesen seit der Deutschen Einheit.

Eine Neugestaltung der sozialen Krankenversicherung muss gewährleisten,

     dass Patientinnen und Patienten die Gesundheitsversorgung bekommen, die sie individuell benötigen,

     dass Patientinnen und Patienten selbst entscheiden können, wem sie vertrauen und welche Behandlung sie akzeptieren, Patienten wollen in eigener Souveränität und mit dem Arzt als Partner die Behandlung selbst steuern,

         dass die Mittel für die Aufgaben der gesetzlichen Krankenversicherung gerecht zur Verfügung gestellt werden.

 

Die Ärzteschaft fordert deshalb die Politik auf, dem Arztberuf die Freiheit zu sichern, damit

         sich die Behandlung des Patienten nach medizinischen Notwendigkeiten richten kann und nicht nach ökonomischen Vorgaben;

         die Zusammenarbeit zwischen Ärzten und anderen Gesundheitsberufen gefördert wird und nicht der Konflikt um finanzielle Ressourcen;

         der Arzt nach höchstmöglicher Qualität der Patientenversorgung streben kann, statt an das Mittelmaß einer staatlich verordneten Programm-Medizin gebunden zu sein.

Eckpunkte des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung -oder: Rezepte von gestern für die Probleme von morgen

Der Ausblick der Bundesregierung ist ein Blick in den Rückspiegel. Mit Rezepten von gestern sollen die vor uns liegenden Probleme der modernen Medizin und der Gesundheitsversorgung von morgen gelöst werden. Eine rigide Kontrolle der Leistungserbringer, staatlicher Dirigismus und Zuteilung von medizinischen Leistungen lassen nicht erkennen, dass die Regierung die Probleme des Gesundheitswesens bisher wirklich verstanden hat.

Deutsches Zentrum für Qualität in der Medizin

Wenn die Regierung mit dem deutschen Zentrum für Qualität in der Medizin eine Art „Stiftung Warentest im Gesundheitswesen“ eröffnen will, dann zeigt das einmal mehr, dass diese Regierung das Gesundheitswesen zu einem Marktsegment degradieren will, indem es lediglich um Waren und Dienstleistungen geht, nicht aber um Menschen und deren Bedürfnisse. Die Qualität in der Medizin reduziert sich für die Regierung auf Kontrolle und staatlichen Dirigismus, der die Bedürfnisse des kranken Menschen in den Hintergrund drängt. Die Schematisierung von Diagnose und Therapie durch ein nicht-ärztliches, durch die Regierung installiertes Gremium, ist keine Garantie für Qualität, sondern eine Rechtfertigung der Rationierung und der Zuteilungsmedizin.

Behandlungs-TÜV

Der Medizin liegt kein mechanistisches Weltbild zu Grunde und sie ist auch nicht nur Naturwissenschaft. Medizin ist vor allem auch Erfahrungswissenschaft; der ärztliche Beruf den Grundsätzen einer humanen Patientenversorgung verpflichtet. Deshalb auch bedarf ärztliche Fortbildung der Vielfalt, deshalb auch ist Fortbildung Berufspflicht. Sinnvoll ist die Weiterentwicklung des von den Ärztekammern geschaffenen praxisbezogenen Fortbildungszertifikats und der Maßnahmen des Continuous Professional Development (CPD), d.h. der kontinuierlichen Kompetenzentwicklung unter Einschluss der entsprechenden Dokumentation. Zwangsmaßnahmen und staatliche Kontrollen hingegen mit denen überwacht werden soll, ob Seminare und Kurse besucht worden sind, suggerieren nur eine trügerische Sicherheit für den Patienten. In der internationalen Literatur gibt es nicht den geringsten Beleg dafür, dass eine Rezertifizierung – und um die handelt es sich hier – eine positive Wirkung auf die Behandlung der Patienten hat.

Anstatt die Bemühungen um Qualität zu fördern, wird hier im Gegenteil ein System von Repressionen aufgebaut werden.

Zerschlagung der fachärztlichen Struktur

Die Reformvorschläge der Regierung zielen darauf ab, die fachärztliche Versorgung radikal auszudünnen. Nach den Plänen der Regierung sollen sich die Patienten in Zukunft im Krankenhaus anstellen, um eine fachärztliche Behandlung zu erlangen. Wenn allerdings die Zahl der niedergelassenen Ärzte reduziert wird, ist eine wohnortnahe, fachärztliche Behandlung auf hohem Niveau nicht mehr möglich. Wie in den staatlichen Gesundheitswesen werden die Patienten dann längere Wege und lange Wartezeiten für die fachärztliche Behandlung in Kauf nehmen müssen. Kurzfristig mag damit Geld gespart werden können, langfristig aber wird der Schaden für die Gesundheit der Menschen dramatisch sein und bezahlen werden in erster Linie kranke Menschen. Auch dieser Vorschlag ist ein weiterer Schritt in die Rationierung und die Zuteilungsmedizin.

Reformvorschläge der Ärzteschaft

Der Patient hat Anspruch auf eine Krankenversicherung, die diesen Namen auch verdient. Aber allein in den letzten acht Jahren sind der Patientenversorgung 30 Milliarden Euro zur Quersubventionierung anderer Sozialversicherungszweige entzogen worden. Es gäbe kein milliardenschweres Defizit, wenn die Versichertengelder nur für die Patientenversorgung verwendet würden.

Neben einer sauberen Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung ist auch eine Weiterentwicklung der Strukturen notwendig. Die Ärzteschaft ist zu konstruktiver Mitarbeit bereit:

Hausärztliche Versorgung ausbauen

Die Gesellschaft eines langen Lebens – im Jahre 2030 ist mehr als ein Drittel der Bevölkerung älter als 60 Jahre –, die Entwicklung hin zu einer Single-Gesellschaft, vor allem aber die zunehmende Differenzierung in der Medizin sprechen für eine kontinuierliche Betreuung des Patienten durch eine qualifizierte hausärztliche Versorgung. Die modellhafte Erprobung freiwilliger Hausarzttarife erscheint gerade vor diesem Hintergrund sinnvoll.

Fachärztliche Versorgung stärken

Die ambulante fachärztliche Versorgung ist eine der bedeutendsten Strukturelemente der GKV. Sie garantiert eine wohnortnahe, den Patientenerfordernissen entsprechende Versorgung. Tendenzen, die eine generelle Ausdünnung der fachärztlichen ambulanten Versorgung favorisieren, ist entgegen zu treten.

Durchgängige medizinische Betreuung

Die bisherigen Grenzen zwischen ambulanter und stationärer Behandlung und die getrennten Budgets müssen zu Gunsten einer durchgängigen Betreuung des Patienten überwunden werden. Die Leistung sollte dort erbracht werden, wo sie patientengerecht und effizient durchgeführt werden kann. Krankenhausärzte sollten, über das heutige Maß hinaus, personenbezogen in hochspezialisierte ambulante Versorgung einbezogen werden; Vertragsärzte sollen verstärkt auch am Krankenhaus tätig werden können.

Wirtschaftliche Stabilität der Krankenkassen gewährleisten

Durch Verschiebebahnhöfe und versicherungsfremde Leistungen werden der GKV seit Jahren Milliardensummen (6 Milliarden Euro pro Jahr) entzogen. Zudem ist die Finanzierungsbasis darüber hinaus durch ihre alleinige Ankoppelung an die Löhne und Gehälter konjunkturellen Schwankungen und Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt schutzlos ausgesetzt. Diese Konstruktion der Einnahmeseite ist insbesondere im Hinblick auf die demographischen Veränderungen weder verteilungsgerecht noch zukunftsfest.

Mehr Transparenz schaffen

Jeder Patient sollte das Recht haben, sich über Art, Menge, Umfang und auch Kosten der für ihn erbrachten Leistungen informieren zu können. Transparenz bedeutet aber auch, dass Patienten in der Krankenversicherung die Möglichkeit erhalten, an den Entscheidungsprozessen mitzuwirken.

Prävention stärkt Lebensqualität

Steigende Lebenserwartungen bei schwindenden Finanzressourcen machen Prävention und Eigenvorsorge zunehmend wichtiger. Dabei sollten die Menschen verstehen lernen, dass sich gesundheitsbewusstes Verhalten für sie persönlich lohnt, wie auch für die Versichertengemeinschaft insgesamt. Die Ärzteschaft unterstützt deshalb nachhaltig nationale Präventionskampagnen wie auch das vom Bundesgesundheitsministerium geplante und ausreichend zu finanzierende „Forum für Prävention und Gesundheitsförderung“.

Ja zu einer Positivliste

Angesichts der Vielzahl der Arzneimittel und die Vielfalt der Informationen zur Arzneimittel Therapie kann eine Positivliste ein wirkungsvolles Instrument zur rationellen Arzneitherapie sein. Voraussetzung allerdings ist, dass eine solche Liste verordnungsfähiger Arzneimittel am jeweiligen Stand der medizinischen Wissenschaft ausgerichtet ist und keine medizinisch fragwürdigen Arzneien enthält. Das Buch „Arzneiverordnungen“ der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft ist bereits eine tragfähige Grundlage für die Erstellung einer Positivliste.

Nationales Leitlinien-Programm

Sicherung und Weiterentwicklung der Qualität ärztlicher Arbeit gehören zum Selbstverständnis des Arztberufes und zu den originären Aufgaben ärztlicher Selbstverwaltung. Die Ärzteschaft selbst hat deshalb medizinisch-wissenschaftliche Leitlinien als Entscheidungshilfe für eine wirksame Behandlung entwickelt. Die individuelle  Entscheidung im konkreten Behandlungsfall aber ist und bleibt ärztliche Kunst. Eine staatlich eingesetzte Zentralbehörde für Qualität aber, wie derzeit geplant, kann hingegen nur zu Normenmedizin und Schematisierung der Patientenbehandlung führen.

Sinnvoll sind also nationale Leitlinien, die als Entscheidungshilfen dienen, den Kriterien der evidenzbasierten Medizin entsprechen und zugleich ständig den rasant wachsenden Möglichkeiten des medizinischen Fortschritts angepasst werden. Das Nationale Leitlinien Programm unter der Schirmherrschaft der Bundesärztekammer und mit Beteiligung von Patientenvertretern ist die konsequente Weiterentwicklung einer solchen Leitlinienarbeit.

Patientenrechte verteidigen

Das wichtigste Patientenrecht ist der einklagbare Anspruch auf eine qualitativ hochstehende, dem wissenschaftlichen Stand der Erkenntnisse entsprechende medizinische Versorgung. Der Patient hat Anspruch auf eine individuelle, nach seinen Bedürfnissen ausgerichtete Behandlung und Betreuung. Das setzt die Therapiefreiheit des Arztes ebenso voraus, wie die Bereitstellung der notwendigen Mittel. Der Patient hat auch Anspruch auf die freie Arztwahl. Patientenrechte und Patientenautonomie bleiben hohle Phrasen, wenn dieses Recht auf freie Wahl und damit auf die individuelle Vertrauensbeziehung zum Patienten aufgehoben wird.

Menschliche Arbeitsbedingungen schaffen; Überbürokratisierung abbauen

Arbeitsüberlastung von Ärzten und Pflegekräften mit Millionen unbezahlter Überstunden gefährden die Sicherheit der Patientenversorgung. Eine unsinnige Bürokratisierung wirkt demotivierend und entzieht der Patientenversorgung zusätzlich notwendige Zeit.

Versorgungsforschung fördern

Das deutsche Gesundheitswesen wird zur Zeit mit den Negativattributen Über-, Unter- und Fehlversorgung schlecht geredet. Die Begründungen dafür bleiben vage und halten einer wissenschaftlichen Prüfung nicht stand. Zwingend geboten ist eine solide Beschreibung der Versorgungssituation im deutschen Gesundheitswesen, die auch den internationalen Vergleich mit einschließt. Die Ärzteschaft ist bereit, sich am Aufbau einer Versorgungsforschung in Deutschland zu beteiligen.

Die Ärzteschaft steht für eine soziale Krankenversicherung. Doch dazu ist eine Neudefinition von Subsidiarität und Solidarität und Eigenverantwortung notwendig. Die vor uns liegenden Probleme lassen sich durch Engagement der Gesundheitsberufe allein nicht mehr kompensieren.

Eine neue soziale Krankenversicherung, die auch in Zukunft gute Medizin für alle versprechen kann, wird nur dann entstehen, wenn wir ehrlich miteinander umgehen und uns tatsächlich um Generationengerechtigkeit bemühen!“

© 2003, Bundesärztekammer.