Auf der
Grundlage einleitender Ausführungen von Dr. Crusius wurde die sogen.
„Slim-Richtlinie“ der EU-Kommission, insbesondere in ihrer Auswirkung auf die
Allgemeinmedizin, eingehend diskutiert; in der Slim-Richtlinie wird die
„spezifische Ausbildung“ in der Allgemeinmedizin zwar beibehalten, jedoch die
bisher bestehende Möglichkeit der „Ausbildung“ in eigener Praxis abgeschafft.
Neu sei die Bestimmung, wonach die Mitgliedstaaten das
Allgemeinmediziner-Diplom auch Ärzten ausstellen dürfen, die keine
richtlinienkonforme Ausbildung, jedoch andere qualitative Voraussetzungen
nachweisen können. Des weiteren sei die EU-weite Verlängerung
der Ausbildungsdauer für die Allgemeinmedizin von zwei auf drei Jahre in
Zusammenhang mit dem Diplom nach Artikel 30 der Richtlinie 93/16-EWG und die
Parallelität von „Praktischem Arzt“ und „Facharzt für Allgemeinmedizin“ zu
diskutieren.
Der Vorstand
der Bundesärztekammer hatte sich mit den Folgerungen aus der „SLIM-Richtlinie“
befasst und beschlossen, die „SLIM-Richtlinie“ so in nationales Recht
umzusetzen, dass in den Heilberufsgesetzen der Länder die bisherige zweijährige
spezifische Ausbildung in der Allgemeinmedizin EU-konform auf drei Jahre
aufgestockt wird. Mit diesem Beschluss des Vorstandes der Bundesärztekammer
würde die Parallelität zwischen der dann dreijährigen „Spezifischen Ausbildung
in der Allgemeinmedizin“ und der fünfjährigen Weiterbildung zum Facharzt für
Allgemeinmedizin in der Bundesrepublik Deutschland bestehen bleiben. Die
möglichen Konsequenzen – auch angesichts des drohenden
Vertragsverletzungsverfahrens gegen die Bundesrepublik Deutschland – wurden in
der Akademie diskutiert.
Kommt das
drohende Vertragsverletzungsverfahren des Europäischen Gerichtshofes gegen die
Bundesrepublik Deutschland zum Tragen, wird Deutschland verpflichtet, dem
bisherigen Euro-Praktiker (in Deutschland bisher „Praktischer Arzt“), den Titel
„Facharzt für Allgemeinmedizin“ zu verleihen mit der Folge, dass zwischen
inländisch fünfjährig weitergebildetem Allgemeinarzt und dreijährig
ausgebildetem Euro-Praktiker nicht mehr unterschieden wird. Als Folgen einer
solchen Gleichstellung werden gesehen: die Inländerdiskriminierung (auch bisher
schon); die Umgehung der bisherigen Weiterbildung in der Allgemeinmedizin durch
Absolvierung von Teilen der Weiterbildung im europäischen Ausland (auch bisher
schon); das Risiko einer verfassungsrechtlichen Klage eines deutschen Arztes,
der sich auf Grund des fünfjährigen Weiterbildungsganges in Deutschland
benachteiligt fühlt mit der möglichen Folge, dass eine dreijährige
Weiterbildung generell anerkannt werden muss; das Risiko, dass auf Grund des
Ärztemangels, insbesondere in der hausärztlichen Versorgung, politischer Druck
entsteht, die Weiterbildung in Allgemeinmedizin erneut auf drei Jahre und damit
auf das Niveau der EU-Norm abzusenken; eine Qualitätsminderung bei der
Reduzierung der Weiterbildung in Allgemeinmedizin auf drei Jahre. Die durch den
Beschluss des 104. Deutschen Ärztetages 2001 in Ludwigshafen initiierte und von
der Vorstandsarbeitsgruppe „Zukunft der hausärztlichen Versorgung“ vorbereitete
Integration von Allgemeinmedizin und Innerer Medizin wäre mit einer dann
dreijährigen Allgemeinmedizin und fünfjährigen Inneren Medizin nicht mehr
realisierbar. Damit wäre das Ziel, eine einheitliche Hausarztqualifikation zu
schaffen gefährdet, mit der Folge, dass eine zweistufige hausärztliche
Versorgung erneut unvermeidbar ist.
Die
Akademie sah in der vom Vorstand beschlossenen Umsetzung der SLIM-Richtlinie
mit der Anhebung der bislang zweijährigen spezifischen Ausbildung in der
Allgemeinmedizin auf drei Jahre und deren Verankerung in den Kammer- und
Heilberufsgesetzen der Länder erhebliche Nachteile. Demgegenüber wurde
empfohlen, die europäische Mindestausbildungszeit in Deutschland auf fünf Jahre
aufzustocken, um dem politisch geforderten Qualitätsanspruch an die ärztliche
Versorgung Rechnung zu tragen, insbesondere auch wegen des umfassenderen
Versorgungsauftrages des deutschen Hausarztes im Vergleich zum Primärarzt
anderer EU-Mitgliedstaaten. Als flankierende Maßnahmen für den Fall, dass in
nennenswerter Zahl minderqualifizierte dreijährige Euro-Praktiker in Deutschland
tätig werden wollen, sollten die Landesärztekammern entsprechende
Qualitätssicherungsmaßnahmen und sonstige Anreizsysteme erwägen. Die
Förderungsmaßnahmen für die Allgemeinmedizin, wie z.B. das Initiativprogramm,
sollen auf die fünfjährige Weiterbildung in Allgemeinmedizin konzentriert
werden. Der Vorstand der Bundesärztekammer wurde gebeten, seine
Beschlussfassung zur Umsetzung der „SLIM-Richtlinie“ für die Allgemeinmedizin
unter Berücksichtigung der Argumente der Akademie zu überprüfen.
In
der Herbstsitzung der Akademie am 14. Dezember 2002 erstattete die
Vizepräsidentin der Bundesärztekammer, Frau Dr. Auerswald, den Bericht zur
gesundheits- und sozialpolitischen Lage, die vor allem durch das
Beitragssicherungsgesetz und die beginnende Debatte über eine grundlegende
Gesundheitsreform geprägt war. In einem Gespräch zwischen Prof. Hoppe und
Bundesgesundheitsministerin Schmidt wurden die geplanten Eckpunkte zur
Gesundheitsreform grob umrissen, wie z.B. Errichtung eines Deutschen Instituts
für Qualität in der Medizin, Verstärkung der Fortbildungspflicht im SGB V,
Sicherung einer „interessensunabhängigen“ Fortbildung für Ärztinnen und Ärzte,
eine Befristung der Zulassung vertragsärztlicher Tätigkeit, eine verstärkte
Betonung der Fortbildungspflicht für alle Gesundheitsberufe, Ausbau von
Disease-Management-Programmen, die als Regelbehandlung in der gesetzlichen
Krankenversicherung gelten sollen (ca. 80 % aller Patientenbetreuungen sollen
zukünftig im Rahmen von Disease-Management-Programmen erfolgen). Verstärkung
der Dienstleistungsfunktionen von Krankenkassen und Kassenärztlichen
Vereinigungen, Stärkung der hausärztlichen Versorgung. Nebeneinander von
Einzelvertragssystem neben Kollektivvertragssystem, institutionelle Öffnung der
Krankenhäuser für die ambulante Versorgung, Einbeziehung anderer
Gesundheitsberufe in die ambulante Versorgung (Pflege), Schaffung von Anreizen
in Form von Bonussystemen für Versicherte für die primäre Inanspruchnahme von
Hausärzten (Hausarztwahltarif), stärkere Bindung der Honorierung ärztlicher
Leistung an die Beachtung von Leitlinien, Vergütung der Hausärzte über
Kopfpauschalen, der Fachärzte über Fallpauschalen, Schaffung von
konkurrierenden Gesundheitszentren mit haus- und fachärztlicher Besetzung für
die ambulante Versorgung, Einführung einer neuen Versicherungskarte zur Stärkung der Transparenz im
Gesundheitswesen, Einführung des Versandhandels für Arzneimittel, Ausbau der
Patientenrechte, Einrichtung einer Arbeitsgruppe „Korruption im Gesundheitswesen“.
Verschiedene Kommissionen sollen der Politik zuarbeiten (Rürup,
Sachverständigenrat, Lauterbach, Gläske, u.a.). Politische Defizitvorwürfe,
durch umstrittene Studien belegt (wie z.B. die Studie in Nordrhein-Westfalen
über radiologische Leistungen), würden als zielgerichtete Stimmungsmache zur
Begründung von radikalen Eingriffen und des geplanten Systemwandels genutzt.
Die in der letzten Sitzung des Vorstandes vorgestellten Daten zur
Arztzahlentwicklung könnten geeignet sein, die politischen Intentionen zu
konterkarieren. Das bestehende Einnahmeproblem in der GKV werde von Seiten der
Politik nicht angegangen. Bei steigender Arbeitslosigkeit und weiteren
„Verschiebebahnhöfen“ würde die Finanzsituation noch prekärer. Andere
Gesundheitsberufe drängten zunehmend in ärztliche Tätigkeitsbereiche,
insbesondere in die ambulante Versorgung; hier findet in erheblichem Umfang
eine Professionalisierung und Akademisierung medizinischer Fachberufe,
insbesondere der Pflege, statt, die – auch mit politischem Rückenwind – ärztliche
Tätigkeitsfelder anstreben.
Die
Akademie wurde unterrichtet, dass im Februar 2003 ein außerordentlicher
Ärztetag einberufen wird, um ein politisches Signal gegen den geplanten
Systemwandel im Gesundheitswesen zu setzen und eigene Reformvorstellungen zur
Weiterentwicklung des Gesundheitswesens bekannt zu geben. Die Diskussion in der
Akademie konzentrierte sich auf die Bewertung der gesundheitspolitischen
Planungen, die insgesamt als „zerstörerisch“ für die Perspektiven aller Arztgruppen
charakterisiert wurden.
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