Wer
gibt den Ton an in der rot-grünen Gesundheitspolitik? Bis weit in das Jahr 2002
hinein hätten die meisten Beobachter der Szene vermutlich
Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt diese Richtlinienkompetenz zugewiesen.
Spätestens aber mit der Einsetzung der Regierungskommission zur nachhaltigen
Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme (Rürup-Kommission) im November 2002
und dem Bekannt werden eines gezielt in die Öffentlichkeit lancierten
Strategiepapiers aus dem Bundeskanzleramt Ende des Jahres 2002 sind daran
Zweifel angebracht. Die Kräfteverhältnisse haben sich verschoben, sodass ein
parteiübergreifender Konsens möglich erscheint. Durch den Sieg bei den
Landtagswahlen in Hessen und Niedersachsen am 2. Februar 2003 hat die Union
deutlich an Gewicht gewonnen. Stärker als bisher schon kann die Opposition über
den Bundesrat Einfluss auf das anstehende Gesetzgebungsverfahren zur Reform des
Gesundheitswesens nehmen. Folgerichtig hat die Bundesregierung der Union
bereits Gespräche angeboten. Auch wurde das ursprüngliche Konzept von
Bundesgesundheitsministerin Schmidt, lediglich eine „Ausgabenstrukturreform“
vorzunehmen, durchkreuzt. Kein Geringerer als der Kanzler selbst gab die neue
Marschrichtung vor. Nun soll es eine „Reform aus einem Guss“ geben, bei der
auch die Finanzierungsvorschläge der Rürup-Kommission berücksichtigt werden.
Ohne das
beharrliche Eintreten der Ärzteschaft für eine saubere und dauerhaft gesicherte
Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung hätte die Politik vermutlich
noch viel länger die Einsicht in die Notwendigkeit einer umfassenden Reform
verweigert. Es bedurfte einer Vielzahl unterschiedlicher Anstrengungen, von
politischen Gesprächen über „Brandbriefe“ bis hin zu medienwirksamen Aktionen,
um die Behauptung zu korrigieren, die vorhandenen finanziellen Ressourcen
reichten für eine bedarfsgerechte medizinische Versorgung aus. Zwar gibt es
nach wie vor Krankenkassenfunktionäre und einige politische Mitstreiter, die
trotz Jahrzehnte langer Kostendämpfungspolitik noch milliardenschwere
Wirtschaftlichkeitsreserven in der Patientenversorgung vermuten, die es erst
einmal zu heben gelte, bevor man „mehr Geld ins System“ pumpe. Doch wenn nicht
alles täuscht, haben diese selbst ernannten Sparkommissare und
Regierungsberater an Einfluss und Zustimmung verloren. Die Glaubwürdigkeit so
mancher Kassenfunktionäre wurde im Berichtszeitraum auch dadurch nachhaltig
erschüttert, dass die exorbitante Zunahme der Verwaltungskosten der
Krankenkassen von bis zu 7 Prozent der Leistungsausgaben weitaus größere
Effizienzreserven im eigenen Haus nahe legten.
Alarmrufe finden Gehör: Ärztemangel wird zum Medienthema
Es war
letztlich die Macht des Faktischen, die zu einer politischen Neubewertung der
Lage im Gesundheitswesen führte. So war die lange für unumstößlich gehaltene
Gewissheit, es gebe „Überkapazitäten“ in der ärztlichen Versorgung, plötzlich
nichts mehr wert. Denn der sich abzeichnende und in Teilen Ostdeutschlands
bereits sichtbare Ärztemangel war auch von den größten Ignoranten unter den
Theoretikern der „Ärzteschwemme“ nicht länger zu leugnen. Das von den
Expertokraten gezeichnete Bild der „Über-, Unter- und Fehlversorgung“ bekam
erste deutliche Risse. Gerade die Vielzahl der Presse-Anfragen und
Veröffentlichungen zum Thema Ärztemangel im Berichtszeitraum kann als Indiz für
einen Umschwung in der öffentlichen Meinung gewertet werden. So schrieb die
„Süddeutsche Zeitung“ am 20.02.2003 in einem bemerkenswerten Kommentar:
„Deutschland
droht ein Ärztemangel. Viele Kliniken können ihre Stellen nicht mehr besetzen.
In Ostdeutschland fehlten im vergangenen Jahr in 237 Krankenhäusern 1051 Ärzte,
Abteilungen mussten geschlossen werden. Praxen auf dem Land machen zu, weil sie
niemand übernehmen will. Manche Fachmediziner gehören zu einer aussterbenden
Gattung, Kinderärzte zum Beispiel. Einige Kinderkliniken schließen bereits –
eine gefährliche Entwicklung, denn Kinder sind keine kleinen Erwachsenen, sie
brauchen ihre eigene Medizin. All das ist kein plötzlicher Wandel, er hat
schleichend begonnen. Doch selbst Alarmrufe wie 2002 auf dem Ärztetag in
Rostock werden ignoriert oder gar als Lüge bezeichnet.“
Und auch
die Tageszeitung „Die Welt“ (02.06.2002) konstatierte unter der Überschrift
„Dem Osten laufen die Ärzte weg“ eine zunehmende Unterversorgung mit Ärzten in
den neuen Bundesländern:
„Ob in
Sachsen oder Brandenburg – überall in Ostdeutschland mangelt es an Ärzten.
Schon jetzt stehen mehrere hundert Praxen leer, 450 Klinikärzte werden gesucht.
Doch es wird noch schlimmer kommen. Denn bis zu 40 Prozent der Kassenärzte in
den neuen Ländern werden in den nächsten fünf Jahren in den Ruhestand gehen.
‚Wenn es nicht schnell eine konzertierte Aktion von Politik, Kassen und
Verbänden gibt, droht ein Versorgungsnotstand', warnt Jan Schulze, Präsident
der sächsischen Ärztekammer“.
In den
Medien, vor allem in den ostdeutschen Tageszeitungen, ist der drohende oder
bereits existierende Ärztemangel zum einem immer wiederkehrenden Thema in der
Berichterstattung geworden. Selbst das Bundesgesundheitsministerium (BMG)
konnte das Problem nicht mehr ignorieren. In ihrer Rede zur Eröffnung des 51.
Deutschen Ärztekongresses am 17. Juni 2002 erklärte Ministerin Schmidt:
„Bei
meinen vielfältigen Besuchen vor Ort sehe ich, wie schwer es für Krankenhäuser
geworden ist, ärztlichen Nachwuchs zu gewinnen und zu halten. Das liegt nicht
an sinkenden Zahlen von Studienanfängerinnen und -anfängern, sondern teilweise
am Studienverlauf selber oder daran, dass junge Menschen nach dem Studium
aussteigen. Die Vergütung der Ärztinnen und Ärzte im Praktikum ist nicht
lukrativ und die Arbeits- und Arbeitszeitbedingungen in vielen Kliniken nicht
akzeptabel.“
In der
rot-grünen Koalitionsvereinbarung vom 16. Oktober 2002 versprach die Regierung
gar, dem sichtbaren Mangel entgegen zu wirken: „Der Bund wird seinen Beitrag
leisten, damit regionale Defizite an Ärztinnen und Ärzten und Pflegepersonal
ausgeglichen und unzumutbare Belastungen in Kliniken, Praxen und Pflegediensten
vermieden werden.“
Zwar
wurden diese Absichten durch die später beschlossene Nullrunde für Ärzte und
Krankenhäuser ins Gegenteil verkehrt, aber die Regierung konnte nun an ihren
eigenen Worten gemessen werden. Das Thema Ärztemangel blieb auf der
gesundheitspolitischen Agenda – dank der konsequenten, mit Daten und Fakten
belegten Vermittlung dieses Themas durch die Bundesärztekammer. Gleiches war
zuletzt mit dem 104. Deutschen Ärztetag 2001 in Ludwigshafen gelungen, als die
Ärzteschaft die Ausbeutung junger Ärztinnen und Ärzte anprangerte.
Die
Warnung vor Versorgungsengpässen und die Kritik an der zunehmenden
Durchökonomisierung des Gesundheitswesens zu Lasten der Patienten, wie sie in
den Stellungnahmen der Bundesärztekammer und des „Bündnis Gesundheit 2000“ zum
Ausdruck kamen, wurden nun nicht länger mehr als „Panikmache“ abgetan. Im
Gegenteil, das Plädoyer für eine zuwendungsorientierte Medizin und die Absage
an eine staatliche Zuteilungsmedizin nach englischem Muster erhielt breiten
publizistischen Rückhalt, auch und gerade bei den ‚Meinungsmachern' unter den
Tageszeitungen.
Die Konfrontation: Kampf gegen staatliche Bevormundung und fixe Ideen
Wie kaum
eine andere Idee verkörpert das „Institut für Qualität in der Medizin“ die
Zuteilungsphilosophie der staatsmedizinischen Vordenker. In einem von der SPD
in Auftrag gegebenen Gutachten forderten einige der Partei nahe stehende Gesundheitsökonomen bereits im Dezember 2001 die
Schaffung eines solchen Instituts. Anfang April 2002 fand sich diese Forderung
schließlich auch in den ersten Entwürfen eines SPD-Wahlprogramms. In einem
Papier für den „Arbeitskreis Arbeit und Soziales“ der Friedrich-Ebert-Stiftung
machten SPD-nahe Gesundheitsökonomen deutlich, dass dem neuen „Institut für
Qualität in der Medizin“ eine Schlüsselstellung innerhalb des
Gesundheitssystems zukomme. Nach den Vorstellungen der Experten sollte das
„staatliche Institut für Qualität in der Medizin ... auf der Grundlage
wissenschaftlicher Erkenntnisse die Qualitätsstandards für den Wettbewerb im
Gesundheitswesen definieren“. Zu diesen Standards sollten zum Beispiel
Mindestmengen oder Leitlinien für wichtige medizinische Eingriffe gehören.
„Spätestens nach einer Übergangszeit müssen Einrichtungen, die diesen
Qualitätsstandards nicht genügen, von der Teilnahme am Wettbewerb
ausgeschlossen werden“, forderten die SPD-Berater.
Wie ein
roter Faden durchzog die Idee des Staatsinstituts von nun an alle
programmatischen Aussagen der Regierungspartei. Das Institut geriet zum
Fixpunkt einer primär ökonomisch ausgerichteten Listenmedizin, der die
individuellen Bedürfnisse der Patienten untergeordnet werden sollten.
Dieses
mehr oder minder deutliche Bekenntnis zur staatlichen Steuerung des
Gesundheitswesens alarmierte die Bundesärztekammer. In einem Brandbrief an
Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt warnte Bundesärztekammer-Präsident
Hoppe am 4. April 2002 davor, die Ärzte „als technokratische Erfüllungsgehilfen
einer dogmatisierten Leitlinienmedizin degradieren und die Patienten zu einer
Norm- und Kostengröße reduzieren zu wollen“. Unter der Überschrift „Auf dem Weg
in englische Verhältnisse –Zukunftsperspektiven deutscher Gesundheitspolitik?“
legte Hoppe der Ministerin die aus seiner Sicht unverzichtbaren Grundlagen
einer bedarfsgerechten Versorgung in sieben Thesen dar. Der Patient habe
Anspruch auf eine individuelle, nach seinen Bedürfnissen ausgerichtete
Behandlung und Betreuung, schrieb der BÄK-Präsident. Das setze aber
Therapiefreiheit des Arztes ebenso voraus wie die Bereitstellung der
notwendigen Mittel. „Eine Rationierung medizinischer Leistungen oder auch der
Weg in die Checklistenmedizin führen in die Unterversorgung“, warnte Hoppe. Die
Gesundheitsversorgung Deutschlands drohe in einen Versorgungsnotstand zu
geraten. Schon jetzt zeichneten sich akute Nachwuchsprobleme in der Ärzteschaft
wie auch bei den Pflegeberufen ab. Trotzdem werde Gesundheitspolitik vorwiegend
als Kostendämpfungspolitik betrieben. Daran hätte auch die Diskussion über die
dramatischen Versorgungsengpässe in staatlichen Gesundheitssystemen wie dem
englischen nichts ändern können. „Im Gegenteil: Die verantwortlichen Politiker
lassen sich von parlamentarisch nicht legitimierten Expertokraten den Weg in
die staatliche Reglementierung der Gesundheitsberufe und in die gnadenlose
Durchökonomisierung der Krankenversicherung weisen. Nicht mehr der Patient
steht im Mittelpunkt der Betrachtung; Gesundheitspolitik droht zum Selbstzweck
zu verkommen“, kritisierte der BÄK-Präsident die Konzepte der
Regierungsberater.
„Ärztepräsident
warnt vor englischen Verhältnissen“ titelte am darauf folgenden Tag die
Tageszeitung „Die Welt“ und die „Berliner Zeitung“ (05.04.2002)
schlagzeilte:„Ärzteschaft warnt vor massiven Personal-Engpässen“. Vor allem das
Szenario eines „Versorgungsnotstands“ im Gesundheitswesen fand Eingang in die
Berichterstattung der Tagespresse. Damit erschienen auch die Thesen der
SPD-nahen Gesundheitsökonomen, die in ihrem Gutachten unter anderem eine
Übertragung des Sicherstellungsauftrages für die ambulante ärztliche Versorgung
an die Krankenkassen und die Aufhebung des Kontrahierungszwangs gefordert
hatten, in einem anderen Licht. Der Kontrast zwischen den Positionen der
SPD-nahen Experten und denen der Bundesärztekammer war jedenfalls augenfällig
und trat in mehreren Artikeln auch offen zu Tage. So stellte die „Rheinische
Post“ (05.04.2002) in ihrem Kommentar die Frage „Welche Maßstäbe gedenken
Bürokraten anzulegen, wenn es um die Bewertung ärztlicher und klinischer
Leistungen geht? Die Errichtung weiterer Überwachungsinstitutionen löst jedenfalls
keines der strukturellen Probleme.“ Der SPD riet der Kommentator der
„Rheinischen Post“, „jene Vorschläge, die ihr von parteinahen Experten zur
Gesundheitsreform angedient wurden, in der Versenkung verschwinden zu lassen“.
Nur
wenige Tage später stellte Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt in einer
Rede vor der Friedrich-Ebert-Stiftung die Leitlinien sozialdemokratischer
Gesundheitspolitik der Öffentlichkeit vor. Gleich zu Beginn ihrer Rede sah sie
sich gezwungen, in einem Punkt auf Distanz zu dem seit Tagen heftig
diskutierten Experten-Papier für die Friedrich-Ebert-Stiftung zu gehen. Die
populäre Forderung nach Zerschlagung der Monopole oder gar des gesamten
Gesundheitssystems sei für sie keine Lösung. Zugleich aber unterstützte sie die
Forderung der Experten nach einem Qualitätsinstitut. Die Frage der Bewertung
der Qualität solle von der Frage der Finanzierung getrennt werden. Über
Behandlungsleitlinien müssten die „unabhängigen Sachverständigen“ des Instituts
entscheiden. Der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen würde dann von
diesem „Zentrum für Qualität in der Medizin“ die notwendigen Grundlagen
erhalten, um über die Fortschreibung des Leistungskatalogs entscheiden zu
können. Auch müssten die Kassen die Freiheit haben, Einzelverträge mit
Leistungsanbietern abzuschließen, die ein festgelegtes Qualitätsniveau
garantierten.
Staatliche
Kontrolle der Leistungsanbieter und Einkaufsmodelle zur „Stärkung des
Wettbewerbs der Krankenkassen“ – so sah das Programm der Ministerin aus. Gegen
diesen „Paradigmenwechsel“ im Gesundheitswesen machte die Ärzteschaft nun
verstärkt Front. Der Präsident der Bundesärztekammer brachte die
gegensätzlichen Positionen in einem Interview mit der „Berliner Morgenpost“
(09.04.2002) auf den Punkt: „Wir wechseln von einem sehr freien
Gesundheitswesen in ein staatliches Gesundheitswesen“, warnte Hoppe. Zugleich
wandte er sich gegen das mechanistische Weltbild, das der Staatsmedizin
zugrunde liege: „Die Medizin ist keine exakte Naturwissenschaft, sondern sehr
individuell. Ärztliche Betreuung darf keine Checklistenmedizin sein.“
Die
offen artikulierten Vorstellungen des BMG riefen nun auch die Heilberufe
gemeinsam auf den Plan. Zusammen mit der Bundeszahnärztekammer und der
Bundesapothekerkammer präsentierte die Bundesärztekammer am 16. April 2002 vor
der Bundes-Pressekonferenz in Berlin ein Sieben-Punkte-Programm zur Reform des
Gesundheitswesens. In den Medien wurde diese Intervention als „Gegenkurs zur
rot-grünen Regierung“ (Deutsche Presse-Agentur) und Forderung nach einer
„Kehrtwende der Gesundheitspolitik“ („Die Welt“) verstanden. Besonders
gewürdigt wurde, dass sich Ärzte, Zahnärzte und Apotheker „erstmals in rund 30
Jahren Kostendämpfungspolitik“ („Handelsblatt“) auf Eckpunkte für eine
Gesundheitsreform verständigen konnten. „Fünf Monate vor der Bundestagswahl
gehen Ärzte und Apotheker auf einen scharfen Konfrontationskurs zur
Gesundheitspolitik der rot-grünen Bundesregierung. Der werfen sie vor, die
Selbstverwaltung aus Ärzten und Krankenkassen zugunsten staatlicher Bevormundung
schwächen zu wollen“, berichtete die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“
(17.04.2002).
Vor dem
Hintergrund zahlreicher Vorschläge für Veränderungen des deutschen
Gesundheitswesens warnte BÄK-Präsident Hoppe davor, das „System kaputt zu
reden“. Bei fairer Betrachtung müssten selbst schärfste Kritiker einräumen,
dass „es höchstens eine Hand voll Länder gibt, die einen ähnlich hohen
Qualitätsstandard in der medizinischen Versorgung bieten wie Deutschland“,
zitierte die „Berliner Zeitung“ (21.05.2002) aus seiner Rede zum
Hauptstadtkongress „Medizin und Gesundheit“. Hoppe betonte, dass sich die
Ärztinnen und Ärzte bei der für den 1. Juli 2002 geplanten Einführung der
Disease Management-Programme (DMP) nicht als staatliche Erfüllungsgehilfen
sähen. „Patienten sind keine Kunden, sondern Bedürftige“, sagte Hoppe. Kaltes
betriebswirtschaftliches Denken habe in einem Gesundheitswesen der
Menschlichkeit nichts zu suchen.
DMP: Medizin als Tagesgeschäft
Die
Bundesärztekammer verwahrte sich gegen die nunmehr unübersehbaren Versuche des
Bundesgesundheitsministeriums, die finanziellen Defizite der gesetzlichen
Krankenversicherung in Qualitätsdefizite der Leistungserbringer umzudeuten. Mit
Blick auf den Termin der Bundestagswahl am 22. September 2002 ließen Ministerin
Schmidt und ihr Chefberater Lauterbach kaum eine Gelegenheit aus, die
vermeintliche „Über-, Unter- und Fehlversorgung“ in Deutschland zu beklagen.
Die bereits Mitte 2001 angezettelte Debatte um angeblich „mittelmäßige“ und „zu
teure“ Leistungen bekam dadurch neuen Auftrieb. Zwar hielt die Behauptung,
Deutschland stehe trotz hoher Gesundheitsausgaben international vergleichsweise
schlecht da, keiner wissenschaftlichen Prüfung stand, doch darum ging es
ohnehin nicht mehr. Echte Expertise und informativer Austausch mit den
Beteiligten und Betroffenen waren nicht gefragt. Es ging für das BMG um die
Frage, wie man eine unterfinanzierte und dadurch sukzessive schlechter werdende
Versorgung trotzdem als politisch verwertbaren Erfolg verkaufen konnte. Das
Paradoxon wurde in den schwer verständlichen, aber sehr professionell
klingenden Namen „Disease Management-Programm“ gekleidet und sollte unbedingt
zur persönlichen Erfolgsstory der Ministerin werden. Denn mit diesem Instrument
ließen sich nach den immer wieder geäußerten Vorstellungen des BMG gleich
mehrere Probleme auf einmal lösen: Die „Über-, Fehl- und Unterversorgung“
chronisch Kranker würde beendet; der Wettbewerb um gesunde Versicherte zu
Lasten der „großen Versorgerkassen“ könnte durch die Kopplung der Programme an
den Risikostrukturausgleich wieder in
geregelten Bahnen verlaufen; der Verschwendung von Versichertengeldern durch
unbotmäßige Normalversorgung würde ein Riegel vorgeschoben. Letzteres war ein
Standardargument der Ministerin: Gleichgültig um was es sich handelte – DMP,
Fallpauschalen oder elektronische Gesundheitskarte – ,
Einsparmöglichkeiten schien es überall zu geben. Der Beitrag zahlende Wähler
sollte jedenfalls wissen, so das Kalkül, wem er das beharrliche Aufspüren
milliardenschwerer „Effizienzreserven“ zu verdanken hatte.
Das
Kalkül konnte aber nur dann aufgehen, wenn die vermeintlichen Fortschritte auch
sichtbar gemacht würden. Daher sollte nichts unversucht bleiben, um wenigstens
eines der Disease Management-Programme vor den Wahlen am 22. September in Form
eines unterschriftsreifen Vertrages präsentieren zu können. Schon Ende März
2002 drohte die Ministerin mit einer „staatlichen Ersatzvornahme“ für den Fall,
dass die Selbstverwaltungspartner im Koordinierungsausschuss keine Einigung über
die inhaltliche Ausgestaltung der Programme erzielen würden. Dagegen erhob sich
vehementer Protest:„Wir lassen uns nicht unter Druck setzen und werden auch
eine staatlich verordnete Checklistenmedizin nicht akzeptieren“, stellte
BÄK-Präsident Hoppe in einer Pressemitteilung unmissverständlich klar. Die
Bundesärztekammer habe immer wieder deutlich gemacht, dass solche
strukturierten Behandlungsprogramme für chronisch Kranke hohen
Qualitätsstandards genügen müssten. „Notwendig ist eine behutsame Sacharbeit zur
Entwicklung von evidenzbasierten Leitlinien, um tatsächlich eine bessere
Behandlung von chronisch Kranken zu ermöglichen. Hektik und
staatsdirigistischer Aktionismus sind hier völlig fehl am Platze“, kritisierte
Hoppe. Wenn die Ministerin die Programme ohne verlässliche Grundlage allein aus
politischen Gründen zum 1. Juli 2002 durchpeitschen wolle, erzwinge sie den Weg
in die staatliche Zuteilungsmedizin. „Wir lassen uns auch nicht von der
Androhung beeindrucken, dass die Behandlungsleitlinien notfalls über der
Medizin völlig entfremdete Institute politiknaher Berater erstellt werden
sollen – Medizin ist eben kein Tagesgeschäft“, warnte der BÄK-Präsident.
Ähnlich
kritisch beurteilte das Magazin „Focus“ (03.06.2002) das Vorgehen der
Ministerin: „Das einzig verbliebene Vorzeigeprojekt der Gesundheitsministerin
entpuppt sich vier Monate vor der Bundestagswahl als Riesenflop. (...)
Aktionismus vor Qualität scheint die Devise von Schmidt, mit der sie die
Diabetes-Programme vor der Wahl noch durchpauken will. Ein riskanter
Schnellschuss.“ Obwohl mit den Programmen Millionen Euro von den Krankenkassen
mit vielen gesunden Versicherten zu jenen mit vielen Chronikern verschoben
würden, fehlten bisher sämtliche Prüfvorschriften. „Die Kopplung der Programme
an das Geld sei eine ‚unheilvolle Verquickung', warnt der Präsident der
Bundesärztekammer, Jörg-Dietrich Hoppe“, hieß es im Bericht des „Focus“.
Die
medizinisch widersinnige Verquickung von Wettbewerb, Finanzausgleich und DMP
müsse aufgehoben werden, forderte Hoppe im Interview mit dem „Forum für
Gesundheitspolitik“ (09/2002). Den Kassen gehe es darum, möglichst viele
Patienten für die Programme zu gewinnen, um ein großes Stück vom gemeinsamen
Kuchen Finanzausgleich zu bekommen. Zugleich aber sollten die Programme aus
Sicht der Kassen keine höheren Kosten verursachen, denn das würde die
ökonomischen Ziele sonst konterkarieren. „Gefragt ist also der ‚gesunde
Chroniker', der gerade eben die Einschreibe-Kriterien der Programme erfüllt,
ohne nennenswerte Leistungen in Anspruch zu nehmen“, sagte der BÄK-Präsident.
Unterdessen
legten die Kassenärztlichen Vereinigungen und die Krankenkassen ihren Streit um
die Frage bei, welche Patienten- und Behandlungsdaten die Kassen für die DMP
erhalten sollen. Der Kompromiss sah vor, dass die Ärzte die Behandlungsdaten an
eine von den Kassenärztlichen Vereinigungen und den Krankenkassen neu zu
gründende Gesellschaft übertragen, die den Kassen nur Datenmaterial mit
Pseudonymen zur Verfügung stellt. Damit war allerdings nur eine der Voraussetzungen
für ein In-Kraft-Treten der Behandlungsprogramme erfüllt. Über die weitaus
schwierigere Frage der Anforderungsprofile für die DMP Diabetes mellitus Typ 2
und Brustkrebs wurde im Koordinierungsausschuss noch heftig gerungen. Unter dem
Druck der angedrohten Ersatzvornahme durch das BMG kam es schließlich zu einem
Beschluss, der den kleinsten gemeinsamen Nenner der gemeinsamen
Selbstverwaltung von Ärzten und Krankenkassen definierte. Die Gefahr einer
Versorgung nach unzureichenden Mindeststandards war damit aber keineswegs
gebannt.
Als die
4. Änderungsverordnung zur Risikostruktur-Ausgleichsverordnung des
Bundesgesundheitsministeriums am 1. Juli 2002 in Kraft trat, waren zwar die
formalen Voraussetzungen für den Start der Programme erfüllt, doch die Skepsis
der Ärzte war unüberhörbar. „Die medizinischen Inhalte der
Disease-Mangament-Programme sind im Schweinsgalopp festgelegt worden und
entsprechen bei weitem nicht immer dem heute bereits erreichten Standard“,
sagte BÄK-Präsident Hoppe. Dieser immer wieder von der Ärzteschaft kritisierte
enorme Druck im Verfahren mache sich selbstredend an der Qualität der Programme
und damit auch an der Akzeptanz unter den Ärzten und Ärztekammern bemerkbar.
Als grundsätzlicher Webfehler der geplanten DMP musste die Festlegung auf
Mindeststandards gesehen werden. Daran entzündete sich der Hauptwiderstand der
Ärzteschaft: „Wir wollen verhindern, dass aus Mindeststandards Minderstandards
werden. Davor müssen wir die Patienten schützen“, sagte der Präsident der
Bundesärztekammer in einem Interview mit der „Berliner Zeitung“ (16.09.2002).
Das
Unbehagen der Ärzte war größer, als die Politik es wahrhaben wollte. Deshalb
erwies sich auch die vollmundige Prophezeiung der Ministerin, im Laufe des
Jahres würden noch Empfehlungen des Koordinierungsausschusses für DMP zu
koronaren Herzkrankheiten und chronisch obstruktiven Atemwegserkrankungen
folgen, als außerordentlich realitätsfremd. Der Koordinierungsausschuss ließ
jedenfalls keinen Zweifel daran, dass man sich nicht wieder unter Zeitdruck
setzen lassen werde. Besondere Unterstützung in seiner Arbeit erfuhr der
Koordinierungsausschuss derweil durch das „Nationale Programm für Versorgungs-
Leitlinien bei der Bundesärztekammer“ (NPL). Damit sollten die inhaltlichen
Grundlagen für strukturierte Behandlungsprogramme unter Berücksichtigung der
Kriterien der evidenzbasierten Medizin geschaffen werden. Mit dem NPL
untermauerte die Ärzteschaft aber auch ihre grundsätzliche Bereitschaft, die
Implementierung abgestimmter Schlüsselempfehlungen deutscher Leitlinien für die
Entwicklung von Disease Management-Programmen voran zu bringen.
Je näher
der Wahltermin am 22. September aber rückte, umso heftiger wurde über die
Qualität der Programme gestritten. Schließlich ging es um ein Markenzeichen
sozialdemokratischer Gesundheitspolitik. Ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte
die Kontroverse, als der Länderausschuss der Kassenärztlichen Bundesvereinigung
die KVen Anfang September aufforderte, mit Blick auf das bevorstehende Ergebnis
der Bundestagswahl vorerst keine DMP-Verträge mit den Krankenkassen
abzuschließen. Daraufhin schaltete sich eine Woche vor den Wahlen sogar der
Bundeskanzler in die Debatte ein. Er warf der KBV vor, sie mische sich als
„Lobby der Oppositionsparteien in den Wahlkampf“ ein und torpediere aus
egoistischen Interessen eine bessere Behandlung von Brustkrebspatientinnen.
Dies sei „zynisch und wohl kaum mit ärztlichem Eid und Selbstverständnis
vereinbar“. Die Auseinandersetzung zwischen Regierung und Kassenärzten hatte
damit aber noch nicht ihren Höhepunkt erreicht: Unmittelbar vor den Wahlen
schalteten 19 Kassenärztliche Vereinigungen Anzeigen in der Tagespresse, um die
Wähler von der Notwendigkeit eines Politikwechsels zu überzeugen. Der
Intervention mitten in der heißesten Phase des Wahlkampfs blieb ein Erfolg aber
versagt. Rot-Grün wurde – wenn auch knapp – im Amt bestätigt.
DRG-Einführung: „Würfelspiel auf falscher Grundlage“
Unmittelbar
vor der Wahl hatte das Bundesgesundheitsministerium bei einem weiteren
Großprojekt vollendete Tatsachen geschaffen. Per Rechtsverordnung wurde die
Einführung der diagnosebezogenen Fallpauschalen im Rahmen eines Optionsmodells
ab 1. Januar 2003 zur beschlossenen Sache erklärt. Die verbindliche Einführung
des neuen Vergütungssystems war nach langem Hin und Her zwischen Bundestag und
Bundesrat im Fallpauschalengesetz auf den 1. Januar 2004 festgelegt worden.
Dabei war
nicht nur den mit der Materie vertrauten Experten längst klar, dass der
Zeitplan zur Einführung der von Australien übernommenen Diagnosis Related
Groups (DRGs) im krassen Gegensatz zu den Versorgungsrealitäten in den
Krankenhäusern stand. Deshalb versuchten Ärzteschaft, Krankenkassen – mit
Ausnahme der AOK – und Pflegeverbände in einer bis dahin nicht gekannten
Geschlossenheit, verlässliche Rahmenbedingungen zu erreichen. In einer auf
maßgebliche Initiative der Bundesärztekammer zustande gekommenen gemeinsamen
Presse-Erklärung (09.09.2002) kritisierten sie die Unzulänglichkeiten der
BMG-Rechtsverordnung. Es sei unverantwortlich, wenn das Ministerium weiterhin
Schönfärberei betreibe und an dem mit heißer Nadel gestrickten Optionsmodell
festhalte. Die Einführung der DRGs gestalte sich so zu einem „Würfelspiel auf
falscher Datengrundlage“. „Ärzte und Kassen rügen geplante Klinikreform“ titelte
am Tag nach Veröffentlichung der Erklärung die „Süddeutsche Zeitung“ und die
„Frankfurter Allgemeine Zeitung“ schrieb: „Die Spitzenverbände der Ärzte und
Krankenkassen laufen Sturm gegen das neue Abrechnungssystem für Krankenhäuser“.
„Nach wie
vor ignoriert das Ministerium beharrlich die ... groben Mängel des Systems,
wohl aus Gründen der politischen Opportunität“, hieß es in einer weiteren
Pressemitteilung der Bundesärztekammer (12.09.2002). Auf einer Anhörung des BMG
forderten Ärzteschaft und Krankenkassen unisono, das DRG-System im Jahr 2003
zunächst im Rahmen einer für die Krankenhäuser wie Krankenkassen
kostenneutralen Simulation auf bundesdeutscher Datenbasis zu validieren und die
vorhandenen groben Fehler zu bereinigen und erst danach zur Abrechnung
einzusetzen.
Die
Bundesärztekammer kritisierte entschieden den viel zu engen Zeitplan, der eine
verlässliche Kalkulation der neuen Fallpauschalen kaum möglich mache. Die
hierfür notwendige Ermittlung von Kostengewichten könne verständlicherweise nur
auf der Grundlage deutscher Kostenerhebungen geschehen. Die Regierungspläne
sahen aber eine Verpflichtung der Krankenhäuser vor, ihre Bewertungen auf der
Grundlage des australischen Ursprungssystems vorzunehmen, um den selbst
gesetzten Zeitplan einzuhalten. „Unter diesen Voraussetzungen drohen nicht zu
verantwortende Versorgungsdefizite und Innovationshemmnisse. Deshalb plädieren
wir dafür, den Zeitplan zu entzerren“, äußerte sich BÄK-Präsident Hoppe. Mit
dem vorgesehenen Optionsmodell sollten nicht die effizientesten Krankenhäuser
belohnt werden, sondern zunächst die Kliniken, die den Übergang in das neue
Vergütungssystem am schnellsten bewerkstelligten. „Die Versorgung der Patienten
ist vor allem dann gefährdet, wenn das neue DRG-System ohne Rücksicht auf die
durch das ärztliche und pflegerische Personal tatsächlich geleistete
Arbeitszeit durchgesetzt wird“, kritisierte bereits Ende Mai der 105. Deutsche
Ärztetag in Rostock das Vorgehen der Regierung.
105. Deutscher Ärztetag in Rostock
Der
105. Deutsche Ärztetag in Rostock war ein Medienereignis ersten Ranges. Bilder
und Berichte von der Eröffnungsveranstaltung in der Warnemünder Werft waren in
den Nachrichtensendungen des Fernsehens ebenso zu sehen wie in den
Tageszeitungen und der Fachpresse.
Allein die Zahl der akkreditierten Journalisten – es waren mehr als 110 –
verdeutlicht das große Interesse der Medien an dem Rostocker Ärztetag. Das ist
insofern bemerkenswert, als parallel zum Ärztetag der Bundeskongress des
Deutschen Gewerkschaftsbundes in Berlin tagte, der gleichfalls sozialpolitisch
interessierte Journalisten ansprach.
Neben den
Nachrichtenagenturen dpa, AP, ddp, Reuters, AFP, KNA und epd sowie bundesweit
erscheinenden und lokalen Tageszeitungen berichteten zahlreiche Hörfunk- und
Fernsehteams von der Eröffnungsveranstaltung des 105. Deutschen Ärztetages.
Aktuelle Meldungen sowie Hintergrundinformationen zu den Themen des Ärztetages
konnten auch über das Internet-Angebot der Bundesärztekammer abgerufen werden.
Darüber hinaus wurde erneut der Originaltextservice der dpa-Tochter News
aktuell genutzt, um die Pressemitteilungen der Bundesärztekammer bundesweit
allen angeschlossenen Redaktionen in Deutschland sofort verfügbar zu machen.
Entsprechend lückenlos war die Berichterstattung in den Medien.
Eine
sehr gute Medienresonanz erfuhr der Ärztetag aber nicht nur hinsichtlich der
Breite der Berichterstattung. Auch die Kommentierung der Beschlüsse und
Debatten auf dem Ärztetag verdiente das Prädikat „ausgesprochen wohlwollend“.
So nahmen beispielsweise die Warnungen der Ärzteschaft vor einem drohenden
Ärztemangel breiten Raum in der Presse Berichterstattung ein. Allein die
„Süddeutsche Zeitung“ widmete dem Thema eine ganze Seite und auch die Medien –
allen voran der Norddeutsche Rundfunk – griffen in ihren Beiträgen auf die
Argumente der Ärzteschaft zurück. In einem Interview mit der „Frankfurter
Rundschau“ (24.05.2002) hatte BÄK-Präsident Hoppe schon unmittelbar vor dem
Ärztetag auf die „Nachwuchssorgen“ der Ärzteschaft hingewiesen: „Schlechte
Bezahlung, viel Arbeit, wenig Freizeit – immer weniger junge Leute haben Lust,
diese Maloche mitzumachen.“
 Abb.: Pressespiegel
Für die
„Fernsehschiene“ der ARD wie auch für die „Sammelberichterstattung zum Hörfunk“
der ARD-Anstalten produzierte der NDR Live-Gespräche, Magazinbeiträge,
Reportagen und Hintergrundberichte. Hinzu kamen Reporter anderer Hörfunksender,
die ihre Rundfunkhäuser zusätzlich mit Berichten und vor allem Interviews
belieferten. Neben den ARD-Anstalten berichteten auch das ZDF und private
Fernsehsender wie SAT.1, n-tv und RTL vom Ärztetag. Hörfunk-Interviews mit
Vorstandsmitgliedern der Bundesärztekammer sendeten neben dem NDR auch das
Deutschlandradio Berlin, der Deutschlandfunk und der Westdeutsche Rundfunk.
Außerdem
gab es in den Pressekonferenzen am Mittwoch und Donnerstag Gelegenheit, die
Themen des Vormittags nachzuarbeiten bzw. des Nachmittags vorzubereiten. Außer
den Pressekonferenzen fand zum Abschluss eines jeden Tages ein bilanzierendes
Pressegespräch in der Pressestelle des Ärztetages statt.
Wahlkampf 2002: Schönwetterprognosen und fehlender Mut
Anders
als vielfach erwartet war die Reform des Gesundheitswesens kein intensiv
diskutiertes Thema im Wahlkampf. In der öffentlichen Diskussion konzentrierte
sich das Interesse vorrangig auf die Beschäftigungskrise und die Diskussionen
über Reformen auf dem Arbeitsmarkt. In den letzten Wochen des Wahlkampfs
standen dann die verheerenden Hochwasser in Teilen Ostdeutschlands und die
Irak-Frage im Vordergrund. Trotzdem versuchte die Bundesärztekammer, auf die
Notwendigkeit einer wirklichen Strukturreform im Gesundheitswesen aufmerksam zu
machen.
In einem
Offenen Brief an die Vorsitzenden der im Deutschen Bundestag vertretenen
Parteien verlangte BÄK-Präsident Hoppe Ende August 2002 von den Parteien ein
klares Bekenntnis zu mehr Solidarität und Menschlichkeit im Gesundheitswesen.
Der Brief fand in der Presse ein breites Echo. So berichteten mehrere
Tageszeitungen ausführlich über die dem Brief als Anlage beigefügten
„Gesundheitspolitischen Positionen der Ärzteschaft“. Die „Frankfurter
Rundschau“ titelte:„Ärzteschaft warnt vor Kollaps“. Hoppe hatte die
Parteivorsitzenden aufgefordert, „den Schönwetter-Prognosen der Expertokraten
im Gesundheitswesen eine klare Absage zu erteilen“. Spätestens jetzt sei es an
der Zeit, die Struktur des Gesundheitswesens nicht länger kaputt zu reden,
sondern die Einnahmebasis der Krankenkassen zu stabilisieren und endlich auch
die unmenschlichen Arbeitsbedingungen in der Patientenversorgung grundlegend zu
verbessern. „Patienten haben Anspruch darauf, individuell und nach bestem
Wissen und Gewissen behandelt zu werden, und das heißt nach dem jeweils
möglichen Stand der medizinischen Wissenschaft, aber auch mit dem
höchstmöglichen Maß an Zuwendung und Vertrauen. Eine gnadenlose Durchökonomisierung
des Gesundheitswesens aber wird weder Ressourcen für den Notfall noch Zeit und
Zuwendung für die Patienten zulassen. Ich bitte Sie deshalb, politisch darauf
hinzuwirken, dass wir unserer Verantwortung für den Patienten gerecht werden können“,
schrieb Hoppe an die Parteichefs.
Hoppes
Diktum, dass die meisten Probleme im Gesundheitswesen politisch erzeugt und zu
verantworten seien, richtete sich gegen die parteiübergreifend betriebene
„Verschiebebahnhofpolitik“ zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung. „Die
gesetzliche Krankenversicherung ist mehr und mehr sozialpolitische
Manövriermasse und politischer Spielball geworden. Wo aber Versichertengelder
zweckentfremdet werden, ist dann leichtfertig von „Kostenexplosion“ die Rede“,
wurde Hoppe von der Nachrichtenagentur „Associated Press“ zitiert. Die von
Hoppe genannte Größenordnung von 30 Milliarden Euro, die der GKV seit 1995
durch „Verschiebebahnhöfe“ entzogen wurden, fand in den folgenden Monaten an
verschiedenen Stellen in den Medien immer wieder Erwähnung.
Der
BÄK-Präsident kritisierte den fehlenden Mut der Politik, die Herausforderungen
im Gesundheitswesen anzugehen. Milliardendefizite, Personalmangel und inhumane
Arbeitsbedingungen könnten nicht länger allein mit dem Engagement der
Gesundheitsberufe kompensiert werden. Seinen Offenen Brief beschloss er mit
einem Appell an die Parteivorsitzenden: „Zeigen Sie Problembewusstsein in der
öffentlichen Diskussion und werben Sie mit uns gemeinsam für mehr
Menschlichkeit im Gesundheitswesen.“
Regierung
und Opposition blieben jedoch konkrete Antworten auf die Strukturkrise der
gesetzlichen Krankenversicherung weitgehend schuldig und beließen es bei
Absichtserklärungen und Allgemeinplätzen. So fand sich in allen Programmen das
Bekenntnis zu „mehr Wettbewerb und Flexibilität“ und „stabilen Beiträgen“. Der
Wettbewerb wurde zum Allheilmittel erkoren: er sollte die Qualität sichern
helfen oder gar verbessern, die Finanzierbarkeit der Versorgung gewährleisten,
die strukturellen Defizite im Gesundheitswesen beseitigen, die
Wirtschaftlichkeit erhöhen und dem Gesundheitswesen insgesamt zu besserer
Effizienz verhelfen. Dafür müssten nur das „starre Vertragssystem zwischen
Kassen und Leistungserbringern“ (CDU/CSU) aufgebrochen werden, den Kassen das
Recht eingeräumt werden, Verträge mit Leistungsanbietern zu schließen, „die ein
festgelegtes Qualitätsniveau zu angemessenen Kosten“ garantieren“ (SPD) und
eine „neue Balance zwischen Markt, Selbstverwaltung und Staat im
Gesundheitswesen“ (Bündnis 90/Die Grünen) gefunden werden.
Eine
seltsame große Koalition hatte sich hier zusammengetan. Alle miteinander
huldigten sie dem Wettbewerb, als könnten damit die Finanzierungsprobleme in
der gesetzlichen Krankenversicherung vollständig beseitigt werden. Keine Partei
befasste sich ernsthaft mit den erodierenden Einnahmen der GKV und den
finanziellen Herausforderungen einer Gesellschaft des langen Lebens. Zwar
betonten alle Parteien, dass den Menschen „unabhängig von ihrem Einkommen oder
einer eventuellen Behinderung oder Vorerkrankung“ (FDP) eine uneingeschränkte
Teilhabe am medizinischen Fortschritt ermöglicht werden müsse, doch blieben sie
– vermutlich aus Angst vor unangenehmen Wahrheiten – eine ehrliche Antwort
darauf schuldig, wie der Fortschritt in Zukunft finanziert werden soll, ohne
dass es zu der befürchteten Zwei-Klassen-Medizin kommt.
Kaum
war die Bundestagswahl vorbei, wandelte sich das Bild. Nun auf einmal wurde das
Gesundheitswesen neben dem Arbeitsmarkt zum Top-Thema der nächsten vier Jahre
erkoren. Vom „schwierigsten Reformvorhaben“ der Legislaturperiode war plötzlich
die Rede, und manche Kommentatoren sahen in der Reform des Gesundheitswesens
sogar eine kaum zu bewältigende Herkules-Aufgabe, für die in der Tat
übermenschliche Kräfte vonnöten seien. So verwunderte es nicht, dass sogar eine
neue „Hartz-Kommission“ gefordert wurde, diesmal für das Gesundheitswesen. Sie
sollte wenige Monate später tatsächlich eingesetzt werden, hörte fortan aber
auf den Namen „Rürup-Kommission“.
Bündnis für mehr Menschlichkeit statt Durchökonomisierung
Konstruktiv-kritisch
begleitete das „Bündnis Gesundheit 2000“ die Entwicklung in der
Gesundheitspolitik. Nach mehrmonatiger Schaffenspause meldete sich das Bündnis
der 38 Verbände und Organisationen der Gesundheitsberufe im September 2002 mit
einem neuen Positionspapier zurück, das auf dem Eckpunktepapier aus dem Jahr
2000 aufbaute. An dem Zustandekommen des „Positionspapiers der
Gesundheitsberufe für ein patientengerechtes Gesundheitswesen“ war die
Pressestelle der deutschen Ärzteschaft maßgeblich beteiligt. Bei den
vorbereitenden Sitzungen der Planungsgruppe des Bündnisses übernahm die
Pressestelle eine koordinierende Funktion und unterstützte den
Abstimmungsprozess zwischen den Verbänden nach Kräften. So konnte das neue
Positionspapier des Bündnisses am 12. September 2002 – neun Tage vor der
Bundestagswahl – der Presse in Berlin vorgestellt werden.
Das
Bündnis plädierte für rasche Veränderungen der wirtschaftlichen und beruflichen
Rahmenbedingungen der Beschäftigten, um wieder Zuwendung möglich zu machen, wo
Zuteilung, also Rationierung, drohe. „Mehr Menschlichkeit statt
Durchökonomisierung“ –so lautete die zentrale Forderung des Bündnisses. Das
Positionspapier dokumentierte den Willen der Bündnisteilnehmer, gemeinsam mit
Politik, Patienten und Krankenkassen die derzeitigen Probleme des
Gesundheitswesens zu diskutieren und – wenn möglich – einvernehmlich zu lösen.
Als
Hauptproblem betrachtete das Bündnis die zunehmende „Durchökonomisierung“ des
Gesundheitswesens vor dem Hintergrund einer immer stärker um sich greifenden
Wettbewerbsdoktrin. Der Patient drohe anonymisiert, Behandlung und Betreuung
typisiert zu werden. Die Gesundheitsberufe würden unter einen enormen Kosten-
und Konkurrenzdruck gesetzt; Zuwendung drohe im Zuge von Effizienzsteigerungen
und Rationalisierungen verloren zu gehen. „Die Berufe im Gesundheitswesen
verlieren an Attraktivität, derweil die Zahl der Behandlungsbedürftigen stetig
steigt. Die Gesundheitsversorgung gerät in Not“, hieß es in dem Papier.
Ein zukunftsfähiges
Gesundheitswesen brauche eine stabile Finanzierungsgrundlage, um den wachsenden
Bedarf an medizinischen und pflegerischen Leistungen decken zu können. Im
krassen Gegensatz dazu stünden aber die fortgesetzte Auszehrung der
gesetzlichen Krankenversicherung durch versicherungsfremde Leistungen und der
politische Missbrauch zur Entlastung anderer Sozialversicherungszweige.
Angesichts dieser Entwicklung werde dem GKV-Versicherten das Notwendige nicht
mehr entsprechend dem medizinischen Fortschritt gewährleistet werden können.
Das Bündnis appellierte deshalb dringend an die verantwortlichen Politiker wie
an die Partner im Gesundheitswesen, „in ihrem Aktionismus inne zu halten und zu
überlegen, was wirklich wichtig für eine gute Versorgung ist und wie dies
solidarisch finanziert werden kann“.
„Eine
neue Debatte über die Finanzierung im Gesundheitswesen“ habe das Bündnis
anstoßen wollen, berichtete „Associated Press“ (12.09.2002) unter der
Überschrift „Verbände gegen Ökonomisierung der Gesundheitspolitik“. Besondere
Erwähnung fand in der Tagespresse die Forderung des Bündnisses, den
Verschiebebahnhof zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung zu beenden.
Die von BÄK-Präsident Hoppe in der Pressekonferenz geäußerte Enttäuschung über
die Wahlaussagen der Parteien war dem „Handelsblatt“ (13.09.2002) sogar eine
Schlagzeile wert. Unter der Headline „Ärzte-Lobby: Keine Partei hat taugliche
Konzepte für das Gesundheitswesen“ hieß es: „Als gestern das Bündnis Gesundheit
seine Wahlprüfsteine vorlegte, holte Ärztekammerpräsident Hoppe vorsorglich zum
Rundumschlag gegen alle Parteien aus. Keine von ihnen habe taugliche Konzepte
für das Gesundheitswesen, stellte er fest und vermied jede Parteinahme für eine
politische Couleur.“
Kundgebung am 12. November 2002: „Das Gesundheitswesen in Aufruhr“
Kurz nach
ihrer Wiederwahl erhob die rot-grüne Bundesregierung die Reform des
Gesundheitswesens zum prioritären Vorhaben der nächsten zwei Jahre. Die nunmehr
auch für die Rentenversicherung zuständige neue Bundessozialministerin Schmidt
schien sich mit ihrer Ansicht durchgesetzt zu haben, dass die Reform in zwei
aufeinander folgenden Schritten zu erfolgen habe: Zunächst gelte es, ließ die
Ministerin unentwegt verkünden, die Strukturen so zu verändern, dass „mehr
Qualität und mehr Wettbewerb“ möglich werde. Erst wenn dies zum Abschluss
gebracht worden sei, könne über die Veränderungen der Finanzgrundlagen
diskutiert werden. Bis dahin reichten aber die bereits im Wahlkampf
angekündigte Anhebung der Versicherungspflichtgrenze und die Erschließung von
Rationalisierungsreserven aus, um das unter einem Defizit von rund 2,4
Milliarden Euro leidende System zu stabilisieren. Folgerichtig hieß es in der
am 16. Oktober 2002 beschlossenen rot-grünen Koalitionsvereinbarung: „Wir
sorgen durch die Erhöhung von Effizienz und Wirtschaftlichkeit für sichere
Finanzgrundlagen der Gesetzlichen Krankenversicherung. Erste Maßnahmen zur
Beitragssatzstabilisierung werden wir kurzfristig ergreifen (Vorschaltgesetz).“
Das
Vorschaltgesetz entpuppte sich keine zwei Wochen später als pures Spargesetz,
das erhebliche Konsequenzen für die im Gesundheitswesen Beschäftigten und die
Patienten befürchten ließ. Entsprechend deutlich fiel die Reaktion der
Ärzteschaft aus: „Die Regierung unternimmt alles, um Arbeitsplätze im
Gesundheitswesen zu vernichten. Das widerspricht nicht nur den selbstgesteckten
Zielen in der Koalitionsvereinbarung, für mehr Beschäftigung zu sorgen. Die
Koalition gefährdet mit ihren konfusen Sparbemühungen auch massiv die
Versorgung der Patientinnen und Patienten“, kritisierte die Bundesärztekammer
in einer Pressemitteilung. Zu befürchten sei ein großes Praxensterben und auch
in den Krankenhäusern werde die Personalschraube weiter heruntergedreht werden.
Diese Politik des Ausverkaufs führe zur völligen Demotivation der Berufe im
Gesundheitswesen, eine humane Patientenversorgung auf dem heutigen Niveau werde
unmöglich gemacht. „Wenn das kommt, werden sich massive Versorgungsengpässe
nicht vermeiden lassen“, so BÄK-Präsident Hoppe gegenüber der „Financial Times
Deutschland“ (31.10.2002).
In einem
Interview mit der Nachrichtenagentur ddp bezeichnete Hoppe die angekündigte
Nullrunde für Ärzte und Krankenhäuser im Jahr 2003 als „Schlag in die
Magengrube“. Zugleich kündigte er in weiteren Interviews mit Tageszeitungen
sowie Hörfunk- und Fernsehsendern Proteste der Leistungserbringer im
Gesundheitswesen an. Die Kommentatorin der „Süddeutschen Zeitung“ (04.11.2002)
gab Hoppe ausdrücklich Recht, wenn er darauf dränge, so schnell wie möglich
eine Reform auf den Weg zu bringen, „die das marode System endlich
stabilisiert“. Weiter hieß es:
„Der
Protest der Ärzte gegen die Nullrunde ist heftig; der verärgerte Kanzler
verliert die Contenance und schürt Sozialneid, das Ärzteeinkommen liege ‚nicht
nur wenig über dem Sozialhilfeniveau'. So heizt Schröder die Situation unnötig
an und ist zudem nicht auf der Höhe der Diskussion: Sicher, viele Ärzte können
eine Nullrunde gut ertragen, ebenso vielen aber geht es schlecht. Im Osten
herrscht bereits Ärztemangel, Westdeutschland steuert darauf zu.“
Wie groß
der Unmut über die geplante Nullrunde war, wurde schon wenige Tage später
sichtbar. In einer konzertierten Aktion zwischen der Deutschen
Krankenhausgesellschaft (DKG) und dem „Bündnis Gesundheit 2000“ gelang es
innerhalb kürzester Zeit, eine Großkundgebung vor dem Brandenburger Tor in
Sicht- und Hörweite des Bundestages und des Bundeskanzleramtes zu organisieren.
Rund
15.000 Beschäftigte im Gesundheitswesen folgten am 12. November 2002 in Berlin
dem Aufruf der Initiatoren, für „mehr Menschlichkeit statt Durchökonomisierung“
zu demonstrieren. Unmittelbar nach einer Anhörung des Bundestages über das
geplante Beitragssatzsicherungsgesetz geißelten Ärzte, Apotheker,
Arzthelferinnen, Krankenschwestern und Angehörige anderer Gesundheitsberufe die
geplante Sparmaßnahmen als konzeptionslose, beschäftigungs- und
patientenfeindliche Kostendämpfungspolitik. In einer gemeinsam verabschiedeten
Resolution forderten das „Bündnis Gesundheit 2000“ und die DKG Bundeskanzler
Gerhard Schröder auf, das Gesetz zurückzuziehen. „Die Jobmaschine
Gesundheitswesen wird abgewürgt, wenn die Vergütung von Apotheken, Ärzten,
Zahnärzten und Krankenhäusern drastisch reduziert wird“, heißt es darin. Die
„Flucht aus den Gesundheitsberufen“ werde weiter zunehmen, die Qualität der
Versorgung steht auf der Kippe.
Die
Demonstration am 12. November war ein Großereignis in zweierlei Hinsicht:
zahlenmäßig, was die unerwartet hohe Zahl der Teilnehmer anbelangt, und medial,
wie sich an den vielen Berichten in Presse, Funk und Fernsehen ablesen ließ.
Das beachtliche Medienecho zeigte, dass die Kundgebung eines ihrer wichtigsten
Ziele erreicht hatte: Die breite Öffentlichkeit war sensibilisiert und der
Protest in die aktuelle politische Debatte getragen worden. Zudem wurde die
Kundgebung in den Medien und der Öffentlichkeit weniger als Protest der
Lobbyisten denn als Protest aller Beschäftigten im Gesundheitswesen
wahrgenommen. „Gesundheitswesen in Aufruhr“ überschrieb die Nachrichtenagentur
„Associated Press“ ihren Korrespondentenbericht. In ihren Headlines zitierten
die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ („Ullas Zeiten – Schlechte Zeiten“) und
die „Westdeutsche Zeitung“ („Frau Schmidt, Sie wissen nicht, was Sie tun“)
Spruchbänder der Demonstranten. Die Kundgebung war das Top-Thema des Tages und
der ARD-Tagesschau“ sogar der Aufmacher wert. Auf den Titelseiten aller großen
Tageszeitungen fanden sich am Tag danach Bilder und Berichte über die
Demonstration der Gesundheitsberufe. Ausführlich schilderte der Korrespondent
der „Westdeutschen Zeitung“ (13.11.2002) seine Eindrücke vom Ort des
Geschehens:
„Aus
ganz Deutschland waren die Betroffenen an die Spree gereist, um mit
Trillerpfeifen und Transparenten der rot-grünen Regierung und vor allem der
ungeliebten Gesundheitsministerin Ulla Schmidt einzuheizen. ‚Frau Schmidt, es
reicht' oder ‚Denn Sie wissen nicht, was Sie tun' waren die Parolen. Das
Beitrags-Sicherungsgesetz der Ministerin, das Nullrunden im Gesundheitsbereich
und massive Einschnitte für Apotheker sowie den Pharma-Bereich vorsieht, bringt
die ganze Branche auf die Barrikaden.“
Nicht
nur die Beschäftigten wendeten sich gegen die als „Nullrunde“ getarnte
Minusrunde für das Gesundheitswesen. Auch das wichtigste Beratergremium der
Bundesregierung, der Sachverständigenrat zur Begutachtung der
gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, kritisierte die Spargesetze als
„Adhoc-Maßnahmen“, die „überwiegend dirigistischer Natur“ seien. Gleichwohl
unterstützte der Rat einige der Reformvorstellungen des BMGS, wie z.B. die
Stärkung wettbewerblicher Elemente bei der Vertragsgestaltung zwischen
Krankenkassen und Ärzten. Die finanziellen Probleme der gesetzlichen
Krankenversicherung seien allerdings mit „Herumdoktern an Symptomen“ nicht zu
lösen, schrieben die Fünf Wirtschaftsweisen in ihrem Jahresgutachten 2002/03.
Eine
Lösung dieser Probleme sollte nun die „Kommission zur nachhaltigen Finanzierung
der Sozialversicherungssysteme“ in Angriff nehmen, deren Leitung einem der Fünf
Wirtschaftsweisen, dem Darmstädter Finanzwissenschaftler und Rentenexperten
Prof. Dr. Dr. Bert Rürup, übertragen wurde. Die Einberufung einer solchen
Kommission hatte die Regierung in ihrem Koalitionsvertrag festgelegt. Das Tempo
aber, mit dem die Rürup-Kommission nun ihre Arbeit aufnahm, deutete eine
veränderte Prioritätensetzung an. Die Strategie der Ministerin, grundlegende
Finanzierungsfragen hintan zu stellen und lediglich Ausgaben und
Vertragsstrukturen zum Gegenstand der für 2003 angekündigten Gesundheitsreform
zu machen, war gescheitert. Bundeskanzler Schröder ließ in der Folge keinen
Zweifel daran, dass er Finanzierung und Ausgaben als zwei Seiten einer Medaille
betrachtete, die einer gemeinsamen Lösung sprich Reform bedürften. Der
Rürup-Kommission kam nun die Aufgabe zu, die Finanzierung der
Sozialversicherung unter Wahrung der Generationengerechtigkeit langfristig zu
sichern. Darüber hinaus soll die Kommission Vorschläge entwickeln, wie
zukünftig die immer stärker werdende Bedeutung der Prävention zur Vorbeugung
gegen Krankheiten sowie auch zur finanziellen Stabilisierung des Systems
genutzt werden kann. Auch „die internationalen Diskussionen und Erfahrungen,
insbesondere in der Europäischen Union, sind einzubeziehen“, so der
Regierungsauftrag an die Kommission.
 Abb.: Pressespiegel
Aktionstag: Erfolgreicher Start der Informationskampagne
Trotz der
massiven Proteste der Beschäftigten und der Kritik von Fachleuten, wie etwa den
Fünf Wirtschaftsweisen, wurde das Beitragssatzsicherungsgesetz in beispielloser
Eile über die parlamentarischen Hürden gebracht. Gegen das Veto der
unionsgeführten Länder im Bundesrat setzte sich die rot-grüne Koalition mit der
erforderlichen Kanzlermehrheit gegen die Opposition im Bundestag durch. Das
Sparpaket mit einem geschätzten Volumen von 3,5 Milliarden Euro konnte nun am
1. Januar 2003 in Kraft treten.
Wer
geglaubt hatte, die Proteste der Gesundheitsberufe würden erlahmen, musste sich
eines Besseren belehren lassen. Bereits vor Verabschiedung des Gesetzes hatte
die Bundesärztekammer mit einem Boykott der Bürokratie im Gesundheitswesen
gedroht, falls die Probleme des Systems weiterhin auf dem Rücken der
Beschäftigten ausgetragen würden. „Wir werden nicht die Patienten-Versorgung
lahm legen“, sagte BÄK-Präsident Hoppe im Interview mit der „Financial Times
Deutschland“ (11.12.2002). Als Reaktion auf die bevorstehende Honorar-Nullrunde
würden die Ärzte aber weniger bürokratische Aufgaben erledigen und so den
„Datenfluss empfindlich stören“. „Es geht darum, dass wir uns auf unsere
Kernaufgaben konzentrieren und uns mehr Zeit dafür nehmen, uns intensiv um
unsere Patienten zu kümmern“, so Hoppe gegenüber der „FTD“.
Die im
„Bündnis Gesundheit 2000“ zusammengeschlossenen Gesundheitsberufe setzten bei
ihren Protesten nunmehr auf konzertierte Aktionen in den Regionen. Dabei ging
es nicht um einen „Dienst nach Vorschrift“, wie ihn die Kassenärztliche
Bundesvereinigung plante, und auch nicht um zeitweilige Praxisschließungen, zu
denen ärztliche Berufsverbände aufriefen, sondern um eine abgestufte Kampagne
zur Information und Aufklärung der Bevölkerung über die Reformpläne der
Bundesregierung. Denn ganz offensichtlich war die Nullrunde nur ein erster
Schritt zur Umgestaltung des Gesundheitswesens nach planwirtschaftlichen
Vorgaben. Die Wahl der Protestmittel traf zwar nicht überall auf Verständnis, aber
die Botschaft wurde verstanden: „Populistisch tönt Ulla Schmidt, sie lasse
‚keine Politik auf Kosten der Patienten' zu. Nur eines geht ihr offenbar ab:
der Blick für die Prämissen, die eine Berufsausübung nach dem noblen Vorbild
des hippokratischen Arztes überhaupt erst möglich machen“, kommentierte die
„Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (10.01.2003).
Den
Beginn der Informationskampagne des Bündnisses markierten Aktionen in vier
Städten am 22. Januar 2003. Mehrere tausend Beschäftigte aus Verbänden und Organisationen
der Gesundheitsberufe machten auf verschiedenen Kundgebungen und
Informationsveranstaltungen in Rostock, Potsdam, Bremen und Stuttgart
erfolgreich auf die Missstände im Gesundheitswesen aufmerksam. Allein in
Rostock beteiligten sich rund 2.500 Menschen an einer Demonstration des
„Bündnis Gesundheit Mecklenburg-Vorpommern“ gegen den Ausverkauf des
Gesundheitswesens. In Stuttgart kamen mehr als 1.300 Arzthelferinnen,
Apotheker, Krankenhausmitarbeiter und Ärzte zu einem zentralen Aktionstag zusammen.
In Potsdam folgten dem Aufruf der brandenburgischen Ärzteschaft zu einer
Protestkundgebung über 500 Teilnehmer. Und in Bremen diskutierten die
Mitglieder des Bremer „Bündnis Gesundheit 2000“ auf dem Marktplatz mit den
Bürgern die Probleme des Gesundheitswesens.
Die
Proteste richteten sich längst nicht mehr gegen die Nullrundenpolitik der
Regierung. Im Kreuzfeuer der Kritik standen die Reformpläne der
Bundesgesundheitsministerin. „Die Öffentlichkeit soll erfahren, was
gesundheitspolitisch gewollt ist“, begründete der Präsident der
Bundesärztekammer gegenüber der „Aachener Zeitung“ (11.01.2003) die
Informationskampagne der Gesundheitsberufe. Im Koalitionsvertrag sei noch
versprochen worden, die Arbeitsbedingungen für Ärzte zu verbessern. „Tatsache
aber ist, dass diese Bedingungen unter dem Deckmantel der Qualitätsverbesserung
und Wirtschaftlichkeitssteigerung weiter verschlechtert werden. In Wirklichkeit
streben wir der Zuteilungsmedizin und Rationierung zu. Aber das wird von der
Politik vernebelt“, sagte Hoppe.
Wenn die
Ministerin nicht einlenke, seien die Aktionen am 22. Januar nur der Auftakt für
weitere Proteste gewesen, warnte die Bundesärztekammer. „Wir können noch
schärfer sein“, sagte Hoppe im Interview mit der „Berliner Zeitung“
(18.01.2003). Zugleich zeigte er sich gesprächsbereit: „Wir bevorzugen Lösungen
am Verhandlungstisch.“ Der Kommentator der „Berliner Zeitung“ empfahl der
Bundesgesundheitsministerin daraufhin, die Proteste der Gesundheitsberufe schon
im eigenen Interesse ernst zu nehmen: „Denn gegen den Widerstand der Mediziner,
Arzthelferinnen, Krankenschwestern, Zahntechniker, Apotheker und anderen
Beschäftigten im Gesundheitswesen sind keine tief greifenden Veränderungen
möglich.“
Außerordentlicher Deutscher Ärztetag am 18. Februar 2003
Es war
aber nicht allein der Druck der Straße, der Bundesgesundheitsministerin Schmidt
zu neuen Einsichten zwang. In einem 90-minütigen Gespräch hatte Bundeskanzler
Schröder ihr bereits am 9. Januar dargelegt, dass es eine „enge Verzahnung“ von
„Inhalt und Prozessen“ der geplanten Strukturreform des BMGS und der Vorschläge
der Rürup-Kommission geben müsse, wie Regierungssprecher Anda berichtete.
„Schröder durchkreuzt Pläne von Gesundheitsministerin Schmidt“ titelte
daraufhin die „Frankfurter Rundschau“ (11.01.2003).
Zwar
kündigte die Ministerin auch danach noch an, 2003 komme ihre Reform der
„Leistungsseite“ und schon in wenigen Tagen werde sie die entsprechenden
Eckpunkte vorstellen, doch das Heft des Handelns hatte sie nicht mehr allein in
der Hand. Das „Handelsblatt“ (14.01.2003) wusste zu berichten, Kommissionschef
Rürup habe persönlich mit dem Kanzler „ein höheres Reformtempo“ vereinbart. Bis
zum Sommer wolle er „verwertbare Vorschläge vorlegen, die nach seiner Meinung
noch in Schmidts Reform einfließen könnten“. Die Eckpunkte ihrer Reform konnte
die Ministerin vorerst nicht präsentieren. Bis zu den Landtagswahlen in
Niedersachsen und Hessen am 2. Februar 2003 wollte der Kanzler offenkundig
größeres Unheil verhindern.
Als
die Ministerin am 6. Februar, wenige Tage nach den beiden für die SPD sehr
schmerzlichen Wahlniederlagen, ihre Eckpunkte der Öffentlichkeit vorstellen
durfte, geschah dies im Beisein des Kommissionsvorsitzenden Rürup. Wie nun
nicht mehr anders zu erwarten, teilte die Ministerin mit, dass
„Ausgabenstrukturreform“ und „Finanzierungsreform“ miteinander verknüpft
würden. Die Beratungen der Rürup-Kommission zur Reform des Gesundheitswesens
würden bis Mai 2003 zu Ende geführt. Die Ergebnisse der Kommission würden dann
noch in das Reformgesetz einfließen. Diese Marschrichtung war bereits zwei Tage
vorher im SPD-Präsidium verabredet worden. Sobald die Vorschläge der Kommission
zur Finanzierung und die Vorschläge der Ministerin Ulla Schmidt zur Struktur
des Gesundheitswesens vorlägen, würde die Union zu Konsensgesprächen noch vor
Eintritt in den Gesetzgebungsprozess eingeladen, hieß es in einer Mitteilung
des SPD-Präsidiums. Auch die CDU-Vorsitzende Angela Merkel bekräftigte bei der
Präsentation der CDU-Reformkommission „Soziale Sicherheit“ unter der Leitung
des Alt-Bundespräsidenten Prof. Dr. Roman Herzog die Bereitschaft der Union,
mit der Bundesregierung über Reformschritte im Gesundheitswesen zu sprechen.
Zunächst müsse aber Schmidt konkrete Vorschläge für eine Gesundheitsreform
unterbreiten.
Unter
diesen Umständen bekam der bereits im Dezember 2002 vom Vorstand der
Bundesärztekammer beschlossene Außerordentliche Deutsche Ärztetag am 18.
Februar 2003 eine neue Bedeutung. Die Teilnahme der Fraktionschefs der im
Bundestag vertretenen Parteien versprach neue Erkenntnisse darüber, wie der
weitere Fahrplan der Reform aussehen sollte.
Entsprechend
groß war auch das Interesse der Medien an dem Ärztetag. Das zeigte sich bereits
in der Vorberichterstattung der Nachrichtenagenturen und Tageszeitungen. In einem
Interview mit der „Frankfurter Rundschau“ (15.02.2003) erneuerte BÄK-Präsident
Hoppe seine Kritik an den staatsmedizinischen Vorstellungen des BMGS, wie sie
in den Eckpunkten zum Ausdruck kamen. „Die Vorstellung, dass ein nationales
Institut Vorgaben macht, die in das medizinische Geschehen eingreifen, dass ein
solches Institut Leitlinien bestimmt, an die sich Ärztinnen und Ärzte halten
müssen – das ist dem deutschen Gesundheitswesen bislang fremd. Die Patienten
haben Ansprüche und dürfen nicht nur etwas zugeteilt bekommen. Dazu möchten wir
uns als Ärzte nicht hergeben“, so Hoppe. Die Grundphilosophie der Ministerin
stimme einfach nicht:„Zu viel Entrechtung, zu viel Bevormundung“. Zugleich
signalisierte Hoppe Zustimmung zu einzelnen Reformmaßnahmen. Auch an der
Bereitschaft zu einem konstruktiven Dialog mit der rot-grünen Koalition ließ er
keinen Zweifel. Im Interview mit dem Berliner „Tagesspiegel“ (17.02.2003) trat
er dem Eindruck entgegen, die Ärzte seien nur Neinsager. „Ganz im Gegenteil.
Wir werden zustimmen, wenn die hausärztliche Versorgung verbessert wird. Wir
wollen die Facharzt Versorgung in der Breite erhalten, möchten aber dass man
hochspezialisierte Tätigkeiten zu den Kliniken hin organisiert. Wir möchten
auch mehr Transparenz. Patentenquittungen haben ja vielleicht eine gewisse
Verhaltensänderung bei den Versicherten zur Folge“, sagte Hoppe. Der Ärztetag
diene dazu, Politik und Öffentlichkeit mit den Reformvorstellungen der
Ärzteschaft zu konfrontieren. Dies kam auch in weiteren Interviews, unter
anderem mit dem Deutschlandradio Berlin, dem Westdeutschen Rundfunk und dem
„Inforadio“ des Senders Freies Berlin und in den Pressemitteilungen des
Ärztetages zum Ausdruck.
Die
Einladung zur Diskussion mit dem Ärztetag schlug Bundesgesundheitsministerin
Schmidt allerdings aus. Die
Bundesärztekammer nahm die kurzfristige Absage mit Bedauern zur Kenntnis.
„Damit ist eine Chance vertan worden, einen offenen Dialog zu führen“, sagte
BÄK-Präsident Hoppe gegenüber der „Berliner Zeitung“ (18.02.2003). Auf dem
Ärztetag wurde allerdings deutlich sichtbar, dass die Koalitionsfraktionen
solche Gespräche für sinnvoll und notwendig erachteten. SPD-Fraktionschef Franz
Müntefering bot der Bundesärztekammer gleich zu Beginn seiner Ausführungen vor
den 250 Delegierten des Außerordentlichen Deutschen Ärztetages Gespräche an:
„Ich glaube, dass wir gemeinsam viele Dinge voranbringen können“, sagte er. Die
Eckpunkte des Ministeriums seien nur ein Beitrag zur Entscheidungsfindung und
ein Teil des Meinungsbildes, stellte der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion
ganz unverblümt fest. Damit sei er „auf Distanz zu den Reform-Eckpunkten von
Gesundheitsministerin Schmidt“ gegangen, stellte der Korrespondent der
„Frankfurter Rundschau“ (19.02.2003) nicht ohne Verblüffung fest.
Die
Ärzteschaft begrüßte die Gesprächsangebote von Müntefering und der
Fraktionsvorsitzenden der Grünen, Krista Sager, fand sich aber vor allem durch
die Statements der CDU-Fraktionsvorsitzenden Merkel und des
FDP-Fraktionsvorsitzenden Gerhardt in vielen ihrer Positionen bestätigt. „Wir
wollen uns aktiv am Reformprozess beteiligen“, sagte BÄK-Präsident Hoppe. An
seiner Kritik der BMGS-Reformpläne machte er aber keine Abstriche: Die
Vorstellungen des Gesundheitsministeriums seien „eine Anleitung zum Aufbau einer
staatsmedizinischen Bürokratie, wie wir sie bisher nicht gekannt haben“, sagte
er in seiner Rede, für die er – wie viele Korrespondenten vermerkten –
„stehende Ovationen“ des Ärztetages erhielt. „Ärzte greifen Schmidts
Gesundheitspläne scharf an“, titelte am Tag danach die Tageszeitung „Die Welt“,
„Auch Koalitionspartner auf Distanz zu Schmidt“ meldete die „Süddeutsche
Zeitung“ und das „Handelsblatt“ resümierte: „Ulla Schmidt steht im Abseits“.
Für den Kommentator der „Süddeutschen Zeitung“ stand nach dem Ärztetag fest,
dass die Ministerin „nicht mehr Herrin der Reform, sondern bestenfalls
Stichwortgeberin“ sei. „Andere schreiben die Inhalte: die Rürup-Kommission, die
SPD-Fraktion, das Kanzleramt und vor allem die Union über ihre Mehrheit im
Bundesrat“, hieß es in der „SZ“.
Mit ihrem
auf dem Ärztetag verabschiedeten Reformprogramm bekräftigte die Ärzteschaft
ihre Bereitschaft zur Mitarbeit an einer Reform der gesetzlichen
Krankenversicherung, die auch in Zukunft eine individuelle
Gesundheitsversorgung für alle ermöglicht. „Wir müssen die Stellschrauben des
Systems auf mehr Freiheit drehen. Was wir nicht brauchen sind staatliche
Bevormundung, außenstehende Experten und Krankenkassenkommissare in der
Medizin“, sagte der Präsident der Bundesärztekammer in seiner viel beachteten
Rede. Bei der anstehenden Reform müsse es wieder um Patientenbehandlung und
nicht um Krankheitsverwaltung gehen. „Wir brauchen endlich vernünftige
Arbeitsbedingungen, unter denen gute Medizin wieder möglich wird“, sagte Hoppe.
Vor allem
sei eine Reform nötig, die dem Versorgungsbedarf des Patienten gerecht werde.
„Wir können bei derart begrenzten Ressourcen nicht länger für die unbegrenzten
Leistungsversprechen der Politiker einstehen. Und wir können und wollen auch
nicht länger diese Lebenslüge der gesetzlichen Krankenversicherung durch unser
Engagement kompensieren“, betonte Hoppe. „Wir haben Vorschläge, die es lohnt zu
diskutieren – weil sie ehrlich sind und uns in der Sache weiterbringen.“
Die
Ärzteschaft forderte die Politik entschieden auf, die Behandlung der Patienten
nach medizinischen Notwendigkeiten auszurichten und nicht nach ökonomischen
Vorgaben. Ausschlaggebend für eine gute Versorgung der Patienten seien eine
individuelle Behandlung entsprechend dem medizinischen Fortschritt, freie
Arztwahl und eine gerechte Verteilung der Mittel für die Aufgaben der
gesetzlichen Krankenversicherung.
Der
Medienresonanz auf den Ärztetag übertraf selbst die
kühnsten Erwartungen. Auf allen Kanälen und in allen Tageszeitungen wurde über
den Sonderärztetag berichtet. Schon die umfangreiche Vorberichterstattung ließ
erkennen, dass Zeitpunkt und Ort der Versammlung außerordentlich gut gewählt
waren. Weit über hundert Journalisten hatten eine Akkreditierung erhalten und
berichteten vom Ort des Geschehens im Axica Tagungszentrum direkt am
Brandenburger Tor. Elf Kamerateams drängten sich im Tagungssaal, darunter die
Berichterstatter der ARD-Tagesschau“, von ZDF-“heute“ sowie von RTL und
SAT.1/Pro Sieben. Der Dokumentationskanal Phoenix übertrug die ersten
zweieinhalb Stunden der Veranstaltung in voller Länge. Vor und nach der
Pressekonferenz in der Mittagspause gab der Präsident der Bundesärztekammer
drei Nachrichtensendungen Interviews und auch die Hörfunk-Korrespondentin des
Ostdeutschen Rundfunks Brandenburg konnte noch während der
Veranstaltung ihre Sammelberichterstattung für die ARD-Rundfunkanstalten mit
einem aktuellen Interview ergänzen, in dem BÄK-Präsident Hoppe eine erste
persönliche Bewertung der Statements und Diskussionen auf dem Ärztetag vornahm.
 Abb.: Pressespiegel
Ärztliche Präventionstage 2002: Gesund – mitten im Leben
Die
Ärzteschaft widmete sich im Berichtszeitraum aber nicht nur den viel
diskutierten Fragen der Gesundheitspolitik. Auch bei einer Vielzahl von
medizinischen Themen war die Pressestelle um die Vermittlung kompetenter
Gesprächspartner für die Medien bemüht. Einen Schwerpunkt in der
Berichterstattung bildete die Krankheitsprävention, wobei dem Thema Rauchen
eine besondere Bedeutung zukam, weil hier auch Verbindungslinien zur
Gesundheitspolitik bestanden. So kritisierte die Bundesärztekammer wiederholt
die Blockadehaltung der Bundesregierung in der Frage eines EU-weiten
Werbeverbots für Tabakwaren. Auch die Forderung des Ärztepräsidenten nach einem
Gesundheitszuschlag auf Tabakwaren und Spirituosen fand zum Jahreswechsel
2002/2003 ein großes Echo in den Medien.
Die
Ärzteschaft beließ es aber nicht allein bei Forderungen an die Politik. Unter
dem Motto Gesund – mitten im Leben veranstalteten die Ärztekammern und
Kassenärztliche Vereinigungen Ende Oktober 2002 zum dritten Mal „Ärztliche
Präventionstage“. Mit einer Vielzahl unterschiedlicher Aktivitäten und
insgesamt 50 Veranstaltungen machten die ärztlichen Körperschaften deutlich,
wie Krankheiten frühzeitig erkannt und Risikofaktoren positiv beeinflusst
werden können. Durch die Aktionen zu den Themen Bewegung und
Sport,Stressbewältigung,Raucherberatung,Impfberatung,Krankheitsfrüherkennung
wurde der Öffentlichkeit vermittelt, dass Ärzte nicht nur kompetente
Ansprechpartner bei Erkrankungen, sondern auch in Fragen der
Gesundheitsvorsorge und Gesunderhaltung sind. Besondere Zielgruppe der
Präventionstage waren Menschen im mittleren Erwachsenenalter, also solche, die
in der Mitte des Lebens stehen, durch Beruf und Familie bestens ausgelastet,
aber auch erhöhten gesundheitlichen Risiken ausgesetzt sind. Die Palette der
Themen reichte dabei von Bewegung und Sport, über Stressbewältigung und
Raucherberatung bis hin zu Impfberatung und Krankheitsfrüherkennung.
Einen Tag
vor dem Start der Präventionstage lud die Bundesärztekammer am 28. Oktober 2002
gemeinsam mit der Kassenärztlichen Bundesvereinigung zu einer Pressekonferenz
ein, auf der die Ziele und Themen der Aktion erläutert wurden. In ihrem
Statement vor den Journalisten in Berlin hob die Vizepräsidentin der
Bundesärztekammer und Präsidentin der Ärztekammer Bremen, Frau Dr. Ursula
Auerswald, die politische Bedeutung der Prävention bei der anstehenden Reform
des Gesundheitswesens hervor. Alle Parteien räumten Prävention und Gesundheitsförderung
einen hohen Stellenwert ein und sprachen sich für eine Stärkung solcher
Maßnahmen aus, konstatierte Auerswald. Fast habe es den Anschein, als sei
Prävention zum Zauberwort geworden, mit dem sich gleich mehrere Probleme auf
einmal lösen ließen. „Es wird der Eindruck erweckt, mit Prävention könnten
Milliardensummen im Gesundheitswesen eingespart werden. Das ist freilich ein
Trugschluss. Bevor durch wirksame Krankheitsvorsorge größere Einsparungen
erzielt werden können, muss erst einmal die Finanzierung solcher Maßnahmen
gesichert werden“, sagte Auerswald. Denn jede Aufklärungskampagne, die breite
Bevölkerungsschichten erreichen soll, erfordere massive Anschubfinanzierungen.
Und auch die spezifisch ärztlichen Beratungsleistungen bedürften einer angemessenen
Vergütung. Es werde deutlich, dass Prävention nicht zur 4. Säule des
Gesundheitswesens ausgebaut werden könne, wenn es am finanziellen Fundament
fehle.
Die von
der Bundesregierung in der Koalitionsvereinbarung angekündigte Stärkung der
Prävention begrüßte die Vizepräsidentin der Bundesärztekammer ausdrücklich.
Damit würden langjährige Forderungen der Ärzteschaft aufgegriffen, Prävention
und Eigenvorsorge zu stärken. „Die Menschen müssen verstehen, dass sich
gesundheitsbewusstes Verhalten auszahlt – für sie persönlich und für die
Versichertengemeinschaft insgesamt“, so Auerswald.
Auch
müsse die Frage erlaubt sein, wie eine nationale Kampagne zur Reduktion des
Tabakkonsums wirksam sein könne, wenn sie nicht die Durchsetzung eines
umfassenden Tabakwerbeverbots mit einbeziehe. Anstatt aber dem britischen
Vorbild zu folgen und Zigarettenwerbung zu verbieten, blockiere Deutschland als
einziges EU-Mitgliedsland ein europaweites Werbeverbot für Tabakwaren. „Die
Politik der Bundesregierung auf diesem Gebiet verstehe wer will, ich verstehe
sie nicht. Die Anti-Tabak-Kampagne kann nicht erfolgreich sein, wenn junge
Menschen an jeder Straßenecke mit zielgruppengerechter Werbung zum Rauchen
verführt werden“, betonte Auerswald.
Auch
die Bedeutung eines umfassenden Impfschutzes hob die Bundesärztekammer in der
Pressekonferenz hervor. „Gerade im Erwachsenenalter wird dieser höchst wirksame
Schutz vor schwersten Infektionskrankheiten sehr vernachlässigt. Die
Impfbereitschaft in Deutschland ist nach wie vor zu gering. Das betrifft sowohl
Auffrischungsimpfungen wie auch Reise-Impfungen, die ja in unserem hochmobilen
Zeitalter eine ganz wichtige Rolle spielen“, so Dr. Ulrich Oesingmann,
stellvertrender Vorsitzender des Ausschusses „Gesundheitsförderung, Prävention
und Rehabilitation“ der Bundesärztekammer.
Fortbildung in der Medizin: Fortschritte und Rückschritte
Während
sich das Thema Prävention kaum zur parteipolitischen Profilierung eignete, war
die Fortbildung von Ärzten immer wieder Gegenstand öffentlicher Diskussionen.
Mal waren es die Krankenkassen, die einen „Ärzte-TÜV“ ins Gespräch brachten,
mal Politiker und Berater der Regierungskoalition. Kurz nach der Bundestagswahl
am 22. September 2002 sprach sich erneut Bundesgesundheitsministerin Schmidt
für eine Zwangsüberprüfung der regelmäßigen Fortbildung von Ärzten aus. Die
Bundesärztekammer bezeichnete diese Idee einer Rezertifizierung als „völlig
unsinnig und realitätsfremd“. Berufsbegleitende Fortbildung sei längst
verpflichtender Bestandteil der ärztlichen Berufsordnung, sagte Prof. Dr. Heyo
Eckel, Vorsitzender des Deutschen Senats für ärztliche Fortbildung und
Präsident der Ärztekammer Niedersachsen. Seit Einführung des
Fortbildungszertifikats der Ärztekammern im Jahr 1999 könnten die Ärzte ihre
Fortbildungsaktivitäten auch nachweisen und gegenüber den Patenten
dokumentieren. „Ein solches Verfahren ist transparenter und sicher auch
motivierender als die Drohung mit ‚Strafen'. Letztlich entscheiden die
Patienten darüber, welchem Arzt sie vertrauen“, so Eckel.
In einem
Presse-Hintergrundgespräch betonte die Bundesärztekammer, dass es eine rigorose
Rezertifizierung mit dem drohenden Verlust der Arztzulassung nur in Slowenien
und Kroatien gebe. In anderen europäischen Ländern und in Nordamerika gebe es
verschiedene Modelle der Zertifizierung von Fortbildung, aber keinen
„Ärzte-TÜV“. Im Vordergrund stehe auch in diesen Ländern die Bereitstellung
eines vielfältigen Angebots zur Fortbildung der Ärzte. Rezertifizierungen nach
slowenischem oder kroatischem Muster würden als Rückschritt betrachtet.
Die
Bundesärztekammer wies auf die hohe Zahl der Teilnehmer an den zahlreichen
Fortbildungsveranstaltungen der Ärztekammern hin und hob ihren eigenen großen
Fortbildungskongress hervor, das Interdisziplinäre Forum „Fortschritt und
Fortbildung in der Medizin“. Auch in den Medien traf das 27. Interdisziplinäre
Forum der Bundesärztekammer im Januar 2003 auf ein bemerkenswertes Echo. Das
war nicht unbedingt zu erwarten. Denn der Standort Köln bot für die
Pressearbeit zum Forum keine allzu guten Voraussetzungen. Das Interesse an dem
Kongress als solchen ist zwar ungebrochen, den Aufwand einer Anreise nach Köln
scheuen viele Fach- und Wissenschaftsjournalisten aber zunehmend. Deshalb war
es auch eine glückliche Fügung, dass die Wissenschafts- Pressekonferenz e.V.
eine Anfrage der Pressestelle positiv beschied und ihr Interesse an einer
Pressekonferenz zum Forum bekundete. Auf Einladung des renommierten Vereins von
Medizin- und Wissenschaftsjournalisten fand die traditionelle Pressekonferenz
zum Forum daher zum ersten Mal „auswärts“ statt, am 9. Januar im
Wissenschaftszentrum Bonn.
Die
Pressekonferenz mit den Referenten des Forums stieß auf großes Interesse und
wurde sogar live im Internet übertragen. Im Anschluss an die Pressekonferenz
bot sich in Interviews mit dem Deutschlandfunk und dem Saarländischen Rundfunk
Gelegenheit, einem breiten Publikum die Ziele und Themenschwerpunkte des Forums
zu erläutern. Auch mit anderen Hörfunksendern wie dem WDR und dem SWR konnten
während der Tagung Interviews vermittelt werden. Darüber hinaus gab der
Vorsitzende des Deutschen Senats für ärztliche Fortbildung, Prof. Dr. Heyo
Eckel, der „Süddeutschen Zeitung“ (14.01.2003) ein ausführliches Interview, in
dem er die Bedeutung der medizinischen Forschung für die Arztpraxis erläuterte.
Für die in Köln ansässige lokale Presse fand ein weiteres Pressegespräch statt,
sodass alle interessierten Medien umfassend informiert werden konnten.
Hervorzuheben
ist die fundierte Berichterstattung der Fach- und Wissenschaftsjournalisten,
wie z.B. der Ärzte Zeitung. Aber auch in Berichten der Nachrichtenagenturen und
in verschiedenen Tageszeitungen fanden die Themen des Forums ihren
Niederschlag, insbesondere das Thema Botulinum – vom giftigsten aller Gifte
zum segensreichen Medikament? Die Berichte über den Missbrauch von
Botulinumtoxin ('Botox') als Lifestyle-Medikament zum Körperdesign verliehen
diesem Thema besondere Aktualität. Die Referenten zeigten jedoch auf, dass
Botulinumtoxin auch anderweitig einsetzbar ist und zum Beispiel gute Ergebnisse
bei der Behandlung spastischer Bewegungsstörungen zu verzeichnen sind. Auf
großes Interesse stieß bei den Medien auch das Thema Angststörungen bei
Kindern und Jugendlichen. Prof. Dr. Bernhard Blanz von der Klinik für
Kinder- und Jugendpsychiatrie am Klinikum der Universität Jena erläuterte, dass
zwischen fünf und zehn Prozent aller Kinder und Jugendlichen an solchen
Störungen litten und auf den jeweiligen Patienten abgestimmte
Behandlungsprogramme unabdingbar seien.
Zu der
überraschend vielgestaltigen Berichterstattung haben auch die sieben
Pressemitteilungen beigetragen, die von der Pressestelle zu den Themen des
Forums verbreitet wurden. Ein Teil davon wurde auch als „Tickermeldung“ über
den Originaltextservice der dpa-Tochter News Aktuell versendet und erreichte
dadurch eine außerordentlich große Breitenwirkung.
Das Forum
bot den Journalisten zudem einen hervorragenden Überblick über die Mechanismen
ärztlicher Fortbildung. Mediziner und Medienvertreter nutzten die Möglichkeit,
aktuelle Fragen auch aus den Randbereichen der jeweiligen Fortbildungsthemen zu
diskutieren.
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