„Medizinische Versorgung von morgen - Balance zwischen Wertschöpfung und Wertschätzung“

Der 119. Deutsche Ärztetag hat in seiner gesundheits- und sozialpolitischen Generalaussprache in Hamburg den Leitantrag des Bundesärztekammer-Vorstands mit geringen Änderungen angenommen.

Die Entschließung im Wortlaut:

Der Gesetzgeber hat in der Bundesärzteordnung festgelegt: „Der ärztliche Beruf ist kein Gewerbe; er ist seiner Natur nach ein freier Beruf.“ Seine medizinisch-fachliche Weisungsfreiheit und seine im ärztlichen Berufsethos sowie im ärztlichen Berufsrecht verankerte Verpflichtung zur Übernahme persönlicher Verantwortung für das Wohl der Patienten stellen den wirksamsten Patientenschutz dar. Dies ist ein Grundrecht des Patienten. Überregulierung, ein über Jahre forcierter Preiswettbewerb und die damit einhergehende Kommerzialisierung des Gesundheitswesens stellen dieses Selbstverständnis ärztlicher Berufsausübung jedoch zunehmend in Frage. Dabei müssen medizinische Orientierung und ökonomisches Verantwortungsbewusstsein keinen Gegensatz darstellen. Voraussetzung aber ist, dass Gewinnmaximierung niemals Vorrang haben darf vor ärztlich wohl begründeten Entscheidungen. Wertschöpfung in unserem Gesundheitswesen muss immer einhergehen mit der Wertschätzung von Patienten und Ärzten.

Länder müssen Investitionsverpflichtungen für Krankenhäuser nachkommen

In einer älter werdenden Gesellschaft mit wachsender Multimorbidität und angesichts der Fortschritte der medizinischen Versorgung wird der Finanzierungsbedarf der Krankenhäuser weiter steigen. Trotzdem kommen die Bundesländer ihren Investitionsverpflichtungen seit Jahren nicht nach. Das zwingt die Kliniken dazu, erhebliche Finanzmittel, die eigentlich für die Patientenversorgung bestimmt sind, stattdessen für dringend notwendige Investitionen zu verwenden. Seit dem Jahr 1991 sind die Investitionsmittel der Länder um rund 30 Prozent gesunken. Das daraus entstandene Defizit beläuft sich bundesweit mittlerweile auf mehr als 30 Milliarden Euro. Dies geht zu Lasten der Patienten. Die Mitarbeiter in den Kliniken müssen dann die fehlenden Finanzmittel durch weitere Arbeitsverdichtung und schlechtere Arbeitsbedingungen kompensieren.

Der 119. Deutsche Ärztetag 2016 fordert daher klare und einklagbare Verpflichtungen der Länder für Krankenhausinvestitionen. Notwendig ist eine gemeinsame Finanzierung von Bund und Ländern über zusätzlich mindestens drei Milliarden Euro pro Jahr. Insbesondere im Hinblick auf die Patientensicherheit ist darüber hinaus eine deutlich verbesserte Berücksichtigung der notwendigen Personalausstattung, Personalentwicklung und Personalfinanzierung notwendig.

Tarifeinheitsgesetz aufheben

In kaum einem Land wird so wenig gestreikt wie in Deutschland. Pro 1.000 Beschäftigte fallen bei uns streikbedingt jährlich nur etwa 16 Arbeitstage aus. In Großbritannien gab es zuletzt 26 Streiktage, in Dänemark 106 und in Frankreich sogar 150.

In Anbetracht dieser Zahlen gibt es keinen Grund, berufsspezifische Gewerkschaften per Gesetz an der Ausübung einer eigenständigen Tarifpolitik zu hindern. Der 119. Deutsche Ärztetag kritisiert das Tarifeinheitsgesetz als undemokratisch und verfassungswidrig und fordert den Gesetzgeber auf, dieses Gesetz aufzuheben.

Das Tarifeinheitsgesetz gefährdet auch die Patientenversorgung, weil es Ärzten die Möglichkeit nimmt, für angemessene Rahmenbedingungen ihrer ärztlichen Tätigkeit zu streiten.

Masterplan Medizinstudium 2020 jetzt angehen

Obwohl sich der Ärztemangel in Deutschland immer weiter verschärft, müssen sich immer mehr Bewerber um immer weniger Studienplätze in der Humanmedizin bemühen. Allein in den alten Bundesländern gab es 1990 noch 12.000 Plätze. Heute sind es 10.000 im gesamten Bundesgebiet – und das trotz acht zusätzlicher Fakultäten in den neuen Bundesländern.

Der 119. Deutsche Ärztetag fordert die Bundesländer dazu auf, mindestens 1.000 weitere Studienplätze in der Humanmedizin zu schaffen. Der Ausbau der Kapazitäten an den medizinischen Fakultäten muss von einer Aufstockung der Lehrmittel für die Fakultäten flankiert werden, damit die Qualität der Ausbildung nicht unter der quantitativen Steigerung leidet. Zudem müssen bei der Auswahl der Studierenden neben der Abiturnote Kriterien wie psychosoziale Kompetenzen, soziales Engagement oder einschlägige Berufserfahrung stärker berücksichtigt werden. Um den Ärztemangel im hausärztlichen Bereich zu mildern, müssen Medizinstudierende während  ihres Studiums das Gebiet der Allgemeinmedizin kennenlernen. Daher müssen an allen medizinischen Fakultäten in Deutschland Lehrstühle für Allgemeinmedizin eingerichtet werden.

Ärztliche Verantwortung für ärztliches Handeln - Delegation statt Substitution

Die persönliche Leistungserbringung ist eines der wesentlichen Merkmale freiberuflicher Tätigkeit. Dennoch kann der Arzt Leistungen in Teilen auch an nichtärztliche Mitarbeiter delegieren. Der 119. Deutsche Ärztetag lehnt die Substitution ärztlicher Tätigkeit, insbesondere für Indikationsstellung, Diagnostik und Therapie, strikt ab. Sie schadet gleichermaßen der Patientensicherheit sowie der Versorgungsqualität und schafft Rechtsunsicherheit für Ärzte, nichtärztliche Fachberufe und Patienten.

Ärztliche Kompetenz in der Psychotherapie unverzichtbar

Bei der Gestaltung einer Direktausbildung von psychologischen Psychotherapeuten, muss die verfasste Ärzteschaft beteiligt werden. Die Direktausbildung zum psychologischen Psychotherapeuten darf die Qualifizierung ärztlicher Psychotherapeuten nicht gefährden, denn nur ärztliche Psychotherapeuten können die ganzheitliche Sicht auf die körperliche und seelische Gesundheit sicherstellen. Körperliche und psychische Behandlung dürfen nicht getrennt werden. Die Einheit von körperlicher und seelischer Gesundheit ist unauflösbar. Die komplexe Behandlung psychischer und psychosomatischer Störungen muss daher auch zukünftig die psychischen wie die somatischen Aspekte von Erkrankungen umfassen.  Die geplante Neuordnung des Bildungsweges für psychologische Psychotherapeuten muss eine qualitativ hochwertige Ausbildung gewährleisten. Dabei müssen Terminologien gefunden werden, die unmissverständlich sind. Es soll nicht der Begriff „Psychotherapeut“, sondern der treffendere Begriff „Psychologischer Psychotherapeut“ eingeführt werden.

Durch einen neuen Studiengang darf es nicht zur Ausgrenzung anderer Qualifizierungsformen, insbesondere der ärztlichen Psychotherapeuten kommen. Ebenso darf er nicht die Qualität und Sicherheit der psychotherapeutischen Behandlung gefährden.

Für eine bedarfsgerechte medizinische Versorgung von Asylbewerbern und anerkannten Flüchtlingen

Rund eine Million Flüchtlinge sind im vergangenen Jahr nach Deutschland gekommen. Die medizinische Versorgung der hier Schutzsuchenden stellte die Behörden vor enorme Herausforderungen, die nur durch das ehrenamtliche Engagement vieler Tausend Ärztinnen und Ärzte sowie anderer Helfer bewältigt werden konnten. Der 119. Deutsche Ärztetag fordert Bund, Länder und Kommunen zu grundsätzlichen Nachbesserungen bei der gesundheitlichen Erstversorgung sowie bei der medizinischen Regelversorgung von Flüchtlingen auf. Notwendig ist eine deutlich bessere Personalausstattung im Öffentlichen Gesundheitsdienst, damit dieser seinen Aufgaben unter anderem bei der gesundheitlichen Versorgung sowie bei der Gesundheitsprävention von Flüchtlingen nachkommen kann. Darüber hinaus muss ein möglichst barrierefreier Zugang für Flüchtlinge zu den Einrichtungen der ambulanten und stationären Regelversorgung sichergestellt werden. Der 119. Deutsche Ärztetag fordert deshalb die bundesweite Einführung einer Gesundheitskarte für alle Flüchtlinge. Im Asylbewerberleistungsgesetz sollten die Einschränkungen, nach denen bei Flüchtlingen nur akute Erkrankungen, nicht aber chronische Beschwerden behandelt werden dürfen, aufgehoben werden.

Gesundheit aus TTIP-Verhandlungen heraushalten

Der 119. Deutsche Ärztetag fordert von der Europäischen Kommission verbindliche Zusagen, dass Gesundheitsdienstleistungen, -standards und -leitlinien aus den Verhandlungen für ein Transatlantisches Freihandelsabkommen herausgehalten werden. Internationale Abkommen dürfen weder die Kompetenz der Mitgliedstaaten infrage stellen, ihre Gesundheitssysteme zu gestalten, noch dürfen sie deren Strukturprinzipien aufheben. Die bewährten Standards der Berufsausübung, der Ausbildung zum Arzt oder des in Deutschland weitreichenden Verbraucher- und Patientenschutzes dürfen nicht als vermeintliche Handelshemmnisse zugunsten von Industrieinteressen geopfert werden.

Für einen verantwortungsvollen Umgang mit digitalen Daten

Zahlreiche Plattformen bieten mittlerweile ein enormes Angebot an Smartphone-Apps im Bereich Lifestyle und Medizin an. Viele dieser Anwendungen können bei Prävention, Diagnostik und Therapie nützlich sein. Sie bergen aber auch Risiken im Hinblick auf die Zuverlässigkeit und die Sicherheit der Daten. Der 119. Deutsche Ärztetag fordert daher die Anbieter von Gesundheits-Apps auf, Nutzer in verständlicher Sprache über die Funktionen der App aufzuklären. Die Transparenz bei der Datenverarbeitung und die Kontrolle der Nutzer über ihre eigenen Daten müssen gewährleistet sein. Dies gilt insbesondere auch für Gesundheits-Apps, die von Privaten Krankenversicherungsunternehmen oder gesetzlichen Krankenkassen für Kunden bzw. Mitglieder angeboten werden. Es muss sichergestellt werden, dass Daten aus Gesundheits-Apps nicht zur individuellen Risikoadjustierung privater Krankenversicherungstarife eingesetzt werden. Ebenso muss Bestrebungen von gesetzlichen Krankenkassen entgegengetreten werden, Daten aus Gesundheits-Apps und Fitness-Trackern in der geplanten elektronischen Patientenakte zu sammeln und diese von den Krankenkassen verwalten zu lassen. Patientenakten dienen der ärztlichen Versorgung und gehören nicht in die Hände der Krankenkassen!

Für eine Beibehaltung der Dualität von GKV und PKV

Das duale Versicherungssystem mit den beiden Säulen Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) und Private Krankenversicherung (PKV) sichert die große Leistungsfähigkeit des deutschen Gesundheitswesens. Diese Leistungsfähigkeit darf nicht durch die Einführung eines staatlich erzwungenen Einheitssystems gefährdet werden. Die Bürgerversicherung löst kein einziges Problem des deutschen Gesundheitssystems, sondern schafft nur neue. Sie verhindert Wettbewerb und gefährdet die Therapiefreiheit des Arztes sowie die Wahlfreiheit der Bürger. Dagegen sorgt der Systemwettbewerb zwischen GKV und PKV für ein hohes Leistungsniveau auch in der gesetzlichen Krankenversicherung. Beide Systeme sind zu stärken und dort, wo es notwendig ist, an die Herausforderungen der Zukunft anzupassen. Diesem Ziel dient auch eine neue, rechtssichere und an die moderne wissenschaftliche Entwicklung angepasste Gebührenordnung für Ärzte.