Kernforderungen für eine bessere Ausgestaltung des niedersächsischen Gesundheitswesens

Niedersachsen

Hannover - Im Herbst 2022, am 9. Oktober, wird der neue Niedersächsische Landtag gewählt. Die niedersächsische Ärzteschaft möchte daher die künftigen Abgeordneten und die Mitglieder der Landesregierung schon frühzeitig auf die Anliegen der mehr als 44.000 niedersächsischen Ärztinnen und Ärzte im Hinblick auf ein besseres Gesundheitssystem aufmerksam machen. Die Delegierten der Kammerversammlung der Ärztekammer Niedersachsen (ÄKN) haben in ihrer Sitzung am 30. April daher einstimmig eine Resolution mit ihren Kernforderungen verabschiedet:

Kernforderungen der niedersächsischen Ärzteschaft an die künftige Landesregierung

Die Ärztekammer Niedersachsen (ÄKN) ruft die künftige Landesregierung dazu auf, das niedersächsische Gesundheitswesen zukunftsfähig auszugestalten und alle Maßnahmen zu ergreifen, die Humanität und Qualität der Patientenversorgung in den Vordergrund rücken. Hierzu zählt auch die weitere Umsetzung der erarbeiteten Empfehlungen der Enquetekommission „Sicherstellung der ambulanten und stationären medizinischen Versorgung in Niedersachsen“.

Konkret fordert die ÄKN:

Professionelle Notfallversorgung in allen Regionen sichern

Unabhängig von deren Wohnort muss für alle Bürgerinnen und Bürger in Niedersachsen gewährleistet sein, dass sie in Notfallsituationen eine schnelle, professionelle und medizinisch hochwertige Versorgung erhalten. Die ÄKN fordert, dass hierfür einheitliche Prozesse in der ambulanten und stationären Notfallversorgung definiert und in die jeweiligen regionalen Strukturen vor Ort adaptiert werden. Einsatzfahrzeuge des Rettungsdienstes sind flächendeckend in ganz Niedersachsen einheitlich mit telenotfallmedizinischer Unterstützung vorzuhalten. Es muss jedoch klar sein, dass dies eine körperliche fachärztliche Untersuchung nicht ersetzen kann. Eine Reduktion der rettungsdienstlichen Leistungen sowie eine Substitution der Leistungen durch nicht-ärztliches Personal lehnt die ÄKN ab. Stattdessen soll die notwendige ärztliche Notfallversorgung für ganz Niedersachsen gewährleistet werden.

Ressourcen zur ärztlichen Weiterbildung ermöglichen

Nur durch die flächendeckende Möglichkeit zur Weiterbildung kann die regionale Versorgung erhalten bleiben. Die ÄKN fordert, dass die ärztliche Weiterbildung bei einer neuen Systematik der Krankenhausplanung mitgedacht wird: Ärztliche Weiterbildung darf in Zukunft nicht nur in den großen Ballungsräumen stattfinden, sondern muss auch in peripheren Gegenden möglich sein. Zugleich müssen zeitliche Ressourcen eingeplant und bereitgestellt werden, um eine hochwertige ärztliche Weiterbildung gewährleisten zu können. Hierfür sollte das Land Niedersachsen entsprechende Anreize setzen (beispielsweise im Rahmen der Aufnahme einer Fachabteilung in den Krankenhausplan). Ärztinnen darf zudem durch Schwangerschaften kein Nachteil für ihre Fort- und Weiterbildung entstehen.

Medizinische Versorgung ganzheitlich denken

Für die Sicherstellung einer wohnortnahen hochwertigen medizinischen Behandlung sollte außerhalb starrer Sektorengrenzen gedacht werden. Die Niederlassung muss insbesondere für junge Ärztinnen und Ärzte attraktiver gestaltet werden, indem in die Betreuungslandschaft investiert wird. Um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu steigern gilt es, flexible Arbeitszeitmodelle zu gestalten. Zudem darf nicht die Ökonomie die Versorgungsstrukturen bestimmen, sondern individuelle medizinische Behandlungsmöglichkeiten und regionale Bedarfe. Zur individuellen medizinischen Beurteilung gehören dabei auch soziale Indikationen der Patientinnen und Patienten, die weder medizinisch noch ökonomisch nachteilig bewertet werden dürfen. Eine strukturierte Weiterleitung der Patientinnen und Patienten entlang der Behandlungspfade (bis in das Pflegeheim und die Rehabilitation) muss durch die Versorgungsstrukturen gewährleistet werden. Entsprechende Kooperationen und Versorgungskonzepte sind mitzudenken und mitzuplanen.

Die ÄKN fordert, dass die ärztliche Expertise in die politische Entscheidungsfindung zwingend von Beginn an einbezogen wird. Dies betrifft die Ausgestaltung passender Versorgungskonzepte sowie die konkrete regionale Planung und Konzeptionierung, wie etwa bei der Einführung von Regionalen Versorgungszentren, Regionalen Gesundheitszentren oder der Landeskrankenhausplanung. Es gilt, die freie Arztwahl als Grundbaustein der medizinischen Versorgung zu erhalten. Eine Priorisierung einzelner Facharztgruppen lehnt die ÄKN ab.

Medizinische Fachangestellte (MFA) sind systemrelevant – und das nicht erst seit Beginn der COVID-19-Pandemie. Sie tragen sowohl im ambulanten und stationären Bereich große Verantwortung und spielen eine wichtige Rolle für eine funktionierende Gesundheitsversorgung von Patientinnen und Patienten. Die ÄKN fordert mehr Wertschätzung für MFA und politische Signale, die in Zukunft den Einsatz dieser ebenso würdigen wie die Arbeit der Pflegekräfte im stationären Bereich.

Finanzierungsprobleme überwinden

Wirtschaftliches Handeln im Gesundheitswesen ist unabdingbar, darf aber nicht die medizinische Versorgung und die ärztliche Behandlungsentscheidung bevormunden. Die ÄKN fordert daher, dass die medizinische patientenorientierte Versorgung wieder primär im Vordergrund von Planungen und Konzepten steht.

Eine auskömmliche finanzielle Absicherung der Einrichtungen sozialer Daseinsvorsorge muss so ausgelegt sein, dass sie nicht maßgeblich von der Anzahl an Patientinnen und Patienten oder deren Behandlung(sart) abhängt. Leistungen sollten nach fachlichen Kriterien wie medizinischer Notwendigkeit und Machbarkeit ausgerichtet werden. Sie dürfen nicht an Sektorengrenzen und deren unterschiedlichen ökonomischen Anreizen stocken oder durch Kapitalinteressen von Finanzinvestoren beeinflusst werden.

Gesundheitswesen digitaler gestalten

Digitale Anwendungen verändern das Gesundheitswesen grundlegend, wobei im Fokus die Veränderungen des Patient-Arzt-Verhältnisses, des ärztlichen Handelns und auch von etablierten ärztlichen Berufsbildern stehen. Grundbaustein für diese Veränderungen ist eine Akzeptanz auf Seiten der Anwenderinnen und Anwender. Diese wird jedoch nur erreicht, wenn digitale Anwendungen zu einer spürbaren Erleichterung im Arbeitsalltag führen und die Interoperabilität der Systeme problemlos gegeben ist. Zudem sollte durch die Anwendungen eine patientenzentrierte und medizinisch sinnvolle Umsetzung angestrebt werden und eine ausreichende Erprobung unter realen Bedingungen erfolgreich stattgefunden haben. Die ÄKN fordert, dass sich das Land Niedersachsen dafür einsetzt, ein strukturiertes digitales Einweisermanagement einzuführen. Das Verhindern von Medienbrüchen und Zeitverzögerungen würde für viel Entlastung im ambulanten und stationären Arbeitsbereich sorgen. Gleichzeitig gilt, dass Digitalisierung die Chancengerechtigkeit beim Zugang zu guter medizinischer Versorgung nicht einschränken darf.

Damit dies gemeinsam gelingt, muss die digitale Kompetenz durch Lehre und Fortbildung bei dem gesamten medizinischen Personal ausgebaut werden und die baulichen, organisatorischen sowie strukturellen Rahmenbedingungen zur Verfügung gestellt werden. Die Ärzteschaft übernimmt dann gerne die Funktion des „Digitallotsen in Gesundheitsfragen“ für die Patientinnen und Patienten.

Sicherheit am Arbeitsplatz

Die Ärzteschaft hat großes Interesse daran, in den anderen Gesundheitsberufen kooperations- und verantwortungsbereite Partner zu finden. Eine spezifische Qualifikation anderer Gesundheitsberufe ermöglicht Ärztinnen und Ärzten die Konzentration auf die Kernaufgaben ärztlicher Tätigkeit und kann zur Verantwortungsübernahme für Teilbereiche führen. Gleichwohl erfahren nahezu alle an der Versorgung beteiligten Professionen eine zunehmende Gewaltbereitschaft durch Patientinnen und Patienten oder deren Angehörige.

Die Zunahme an körperlichen Angriffen sowie verbalen und non-verbalen Übergriffen muss gestoppt werden. Deswegen fordert die ÄKN, dass ein zentrales Meldesystem für Gewalt gegen Einsatzkräfte und medizinisches Personal in Rettungsdienst, Praxis und Klinik eingeführt wird. Zeitgleich muss eine strukturierte Aufarbeitung der Vorfälle (inklusive möglicher Strafverfolgung) stattfinden sowie etwaige niedrigschwellige (psychologische) Unterstützungs- und Hilfsangebote etabliert werden.

Übergriffe gegen Praxisteams: https://www.aekn.de/aerzte/infos-fuer-klinik-und-praxis/uebergriffe-gegen-praxisteams

Universitäre Strukturen fördern

Bereits heute können zahlreiche Arztsitze in Niedersachsen nicht nachbesetzt werden. Diese fehlenden Versorgungsmöglichkeiten werden sich in den kommenden Jahren bedeutend verstärken. Bemühungen des Landes Niedersachsen, die Sicherstellung der medizinischen Versorgung in allen Regionen auch in Zukunft zu gewährleisten, werden von der ÄKN begrüßt. Allerdings bedarf es darüber hinaus zwingend zusätzlicher Medizinstudienplätze in Oldenburg, Hannover und Göttingen. Die zu geringe Anzahl an Studienplätzen bedroht die Versorgungssituation. Nur ein Ausbau der Studierendenplätze sichert die künftige Versorgung.

Die Supramaximalversorgung an den niedersächsischen Universitätskliniken hat eine herausragende Bedeutung für die Ausbildung des akademischen Nachwuchses, die hochspezialisierten Behandlung und die internationales Spitzenforschung. Diese Strukturen gilt es noch stärker zu fördern. Besonders von Unterversorgung bedrohte Fachrichtungen sollten stärker in den Fokus der medizinischen Ausbildung genommen werden.

Krisenmanagement und Prävention ausbauen

Das Gesundheitswesen muss sich stärker auf vielschichtige Krisenszenarien vorbereiten. Hierzu bedarf es konkreter Strukturen und Investitionen des Landes Niedersachsen, um weiteren Krisen entgegentreten zu können und die aus dem Klimawandel resultierenden gesundheitlichen Auswirkungen abzumildern. Die ärztliche Expertise muss dabei systematisch eingebunden werden. Bisher gewonnene Lehren für die kommunalen Strukturen – wie beispielsweise den Katastrophenschutz auszubauen – sowie für alle Bereiche der medizinischen Versorgung müssen dabei zwingend berücksichtigt werden.

Die ÄKN fordert, dass sich das Land für klimaneutrale Neu- und Umbauten insbesondere im Gesundheitswesen, ressourcenschonende Arbeit sowie für nachhaltige Kantinenangebote einsetzt. Zudem brauchen wir in Niedersachsen eine spürbare Stärkung der (Primär-)Prävention und der Gesundheitsförderung.

Öffentlichen Gesundheitsdienst stärken

Der Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) nimmt in Deutschland eine exponierte Stellung als sogenannte dritte Säule im Gesundheitswesen ein. Die Bedeutung für die gesamte Bevölkerung und die herausragende Arbeitslast des ÖGD wurde während der Covid-19-Pandemie für alle Bürgerinnen und Bürgern sichtbar, wenngleich die Arbeitsbedingungen und -prozesse seit Jahrzehnten von Seiten der Politik vernachlässigt wurden. Nun gilt es auch, den Ausbau der Infrastruktur und die digitale Kooperation der Landkreise voranzutreiben.

Die ÄKN fordert zudem, dass endlich die Gehaltsbenachteiligung von Ärztinnen und Ärzten im ÖGD beendet und an das ärztliche Vergütungsniveau in Krankenhäusern kommunaler Trägerschaften angeglichen wird. Eine personelle, strukturelle und finanzielle Stärkung muss von Seiten des Landes Niedersachsens über den Pakt des ÖGD hinaus zugesichert werden.

Bürokratie abbauen

Behandlungsferne bürokratische Vorgaben und sich wiederholende Dokumentationen erzeugen bei allen Ärztinnen und Ärzte viel Frustration. Außerdem reduzieren sie die Zeit erheblich, welche für die ärztlichen Kernaufgaben vorgesehen ist: Das aufklärende Gespräch und die medizinische Versorgung der Patientinnen und Patienten.

Die ÄKN fordert, dass sich das Land Niedersachsen dafür einsetzt, den Dokumentationsaufwand zu reduzieren und Qualitätssicherungsmaßnahmen in allen Bereichen des Gesundheitswesens abzuschaffen, wenn diese keinen medizinischen patientenorientierten Nutzen erzeugen.

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