Gabapentinoide (Gabapentin, Pregabalin)

  • 1. Wie hat sich die Verschreibung der Gabapentinoide in den letzten Jahren entwickelt?

    In den letzten 15 Jahren kam es weltweit und auch in Deutschland zu einer massiven Zunahme der Verordnungen von Gabapentin und Pregabalin. Die Verschreibung von Medikamenten, die der Substanzklasse der Gabapentinoide in der Wirkung ähnlich sind, aber ein größeres Abhängigkeitspotenzial besitzen (d. h. v. a. Benzodiazepine), war initial jedoch noch deutlich häufiger, ist aber parallel zum Anstieg der Verschreibung von Gabapentinoiden (hier insbesondere Pregabalin) in den letzten Jahren in Deutschland beinahe auf das Niveau von Gabapentinoiden gesunken.


  • 2. Welche Fehlindikationen sind bei den Verschreibungen zu beachten?

    Zugelassen sind die Gabapentinoide zur Behandlung bestimmter Epilepsien, neuropathischer Schmerzen und der generalisierten Angststörung (Pregabalin). Ein Off-label-Gebrauch mit dem Risiko einer Fehlindikation liegt vor beim Einsatz gegen nicht-neuropathische Schmerzen, somatoforme Störungen und andere psychiatrische Erkrankungen außer der generalisierten Angsterkrankung.

    Besonders gefährlich und manchmal tödlich ist der unkontrollierte und ausgeprägte Ko-Konsum mit anderen Substanzen, die ebenfalls in höheren Dosen zu einer Atemdepression und auch malignen Herzrhythmusstörungen führen können  - wie Opioide und GABAmimetika (bspw. Alkohol, Benzodiazepine, Z-Substanzen, Clomethiazol, Propofol oder Chloraldurat).


  • 3. Wie ist das Abhängigkeitspotenzial der Gabapentinoide zu bewerten?

    Bei anderen substanzgebundenen Suchterkrankungen, hier insbesondere der Opiatabhängigkeit, ist das Abhängigkeitspotenzial von Gabapentinoiden erhöht. Vermutet wird, dass das Abhängigkeitspotenzial auch bei chronischen Schmerzerkrankungen und anderen psychiatrischen Erkrankungen erhöht ist. Dieses ist aber noch nicht ausreichend systematisch untersucht.

    Der epidemiologische Suchtsurvey, der vom Institut für Therapieforschung München seit 1980 im Rahmen regelmäßig wiederholter Querschnittsbefragungen den Konsum und Missbrauch von psychoaktiven Substanzen in der deutschen Allgemeinbevölkerung untersucht, hat Gabapentinoide bisher noch nicht systematisch erfasst. Für ältere Erwachsene, die in einem Allgemeinkrankenhaus im Ruhrgebiet behandelt wurden, fand sich eine Lebenszeit-Prävalenz der Abhängigkeit von Gabapentinoiden von 2,75 Prozent, allerdings immer in Kombination mit anderen Suchtmitteln, meistens mit Opioiden und/oder Benzodiazepinen. Die Abhängigkeit von Gabapentinoiden ist in der Regel eingebunden in andere Substanzabhängigkeiten, am häufigsten in die Opiatabhängigkeit.

    Alkohol, Opioide und Benzodiazepine haben ein höheres Abhängigkeitspotenzial als Gabapentinoide. Pregabalin scheint ein stärkeres Abhängigkeitspotenzial zu besitzen als Gabapentin.

    Bezüglich der zugelassenen Indikationenzur Behandlung bestimmter Epilepsien, neuropathischer Schmerzen und der generalisierten Angststörung und möglichen Neben- und Wechselwirkungen wird auf die Fachinformationen von Gabapentin bzw. Pregabalin hingewiesen.


  • 4. Wie lassen sich für Gabapentinoide Anzeichen für einen schädlichen oder abhängigen Konsum feststellen?

    Die üblichen Begleitphänomene der Medikamentenabhängigkeit auch von Gabapentinoiden sind bspw.:

    • Unabgesprochene Dosissteigerung
    • Versteckter Konsum bzw. Nachweis im Urin ohne vorherige Verschreibung
    • „Doktor Hopping“
    • Frequente, nicht plausible Rezeptanforderungen
    • Simulation von Symptomen wie Angst, innere Unruhe, Schmerzen oder unangemessenes Verdeutlichungsverhalten, um Gabapentinoide verschrieben zu bekommen
    • (Benzodiazepinähnliche) Entzugssymptome (z. B. Angst, innere Unruhe, Tremor, hoher Blutdruck, Sinustachykardie, Schlafstörungen, Schwitzen, epileptische Anfälle, Konzentrationsstörungen, verworrenes Denken, Desorientiertheit, Halluzinationen [meistens optische], Delir)
    • (Benzodiazepinähnliche) Intoxikationssymptome (z. B. unangemessene Sedierung, Konzentrations- und Merkfähigkeitsschwäche, Auffassungsstörungen, Tagesschläfrigkeit, Denkverlangsamung, Dysarthrie, Gangataxie)

  • 5. Gibt es Besonderheiten, die bei Kindern und Jugendlichen zu beachten sind?

    Gabapentin: wird bei Kindern unter sechs Jahren nicht zur Epilepsiebehandlung empfohlen, da hier nicht ausreichend untersucht. Darüber hinaus sind für Personen unter 18 Jahren noch keine ausreichenden Untersuchungen bezüglich der Verträglichkeit von Gabapentin bekannt.

    Pregabalin: Die Sicherheit und Wirksamkeit bei Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren ist noch nicht untersucht worden. Deshalb darf Pregabalin bei diesen Personen nicht angewendet werden.


  • 6. Welche Behandlungsalternativen stehen für Gabapentinoide zur Verfügung?

    Bei Epilepsie stehen andere Antikonvulsiva zur Verfügung.

    Bei generalisierten Angsterkrankungen können andere Anxiolytika sowie bestimmte Antidepressiva eingesetzt werden. Cave: Benzodiazepine haben ein höheres Abhängigkeitspotenzial als Gabapentinoide.

    Bei neuropathischen Schmerzen sollen als erste Wahl zur pharmakologischen Therapie Antikonvulsiva (Gabapentin/Pregabalin) sowie tri-/tetrazyklische Antidepressiva eingesetzt werden. Daneben kommt der topischen Therapie eine wichtige Rolle zu (z. B. Lidocain-5 %-, Capasaicin-8 %-Pflaster). Opioide Analgetika sind wirksam, es ist aber ein deutlich höheres Abhängigkeits- und Gefährdungspotenzial als bei Gabapentinoiden bekannt. Andere Antiepileptika sind aufgrund der geringeren Evidenz und häufigeren Nebenwirkungen nicht generell empfohlen, können in Einzelfällen erwogen werden. Nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR) sind aufgrund fehlender Evidenz nicht empfohlen und NSAR können bei Langzeitanwendung ein großes Potential an somatischen Nebenwirkungen haben.


  • 7. Wie sollte eine suchtpräventive Verschreibung von Gabapentinoiden erfolgen?

    Die Verschreibung von psychotropen suchtfördernden Medikamenten wie bspw. Gabapentinoiden, Benzodiazepinen oder Opioiden erfordert per se eine regelmäßige Therapiekontrolle, möglichst durch den gleichen verschreibenden Arzt, der am besten eine individuelle Risiko-Nutzenbewertung garantieren kann. Bei dieser Bewertung sollte neben der Wirksamkeit, auch explizit auf mögliche Nebenwirkungen inklusive Interaktionen mit anderen Medikamenten (z. B. Pregabalin erhöht den Clozapinspiegel, Gabapentinoide verstärken die Wirkung anderer sedierender Medikamente, Intoxikationssymptome, Entzugserscheinungen und die Therapieadhärenz geachtet werden. Es wird empfohlen, Pregabalin bei Patienten mit vorbestehender Substanzabhängigkeit zu vermeiden. Wegen der günstigeren Pharmakokinetik mit nichtlinearer Resorptionskinetik und geringerer Toxizität bei oraler Überdosierung wäre bei Abhängigkeitspotenzial je nach Indikation Gabapentin (statt Pregabalin) in Erwägung zu ziehen. Wenn die Risiken den Nutzen überschreiten, sollte möglichst eine Abdosierung durchgeführt werden. Die Verschreibung von psychotropen suchtfördernden Medikamenten sollte so kurz wie möglich durchgeführt werden.


  • 8. Welche Behandlung einer Abhängigkeit von Gabapentinoiden kann ambulant durchgeführt werden? Wann sollte eine stationäre Überweisung bzw. Weiterbehandlung erfolgen?

    In der Regel reicht eine ambulante Entzugsbehandung aus, bei der das betreffende Gabapentinoid langsam in kleinen Schritten ausschleichend abdosiert wird (z. B. 20 bis 25 % der jeweiligen Dosis pro Woche weniger; manchmal sind auch individuell mehrtägige Plateauphasen erforderlich). Ausdrücklich empfohlen werden regelmäßige mindestens wöchentliche Therapiekontrollen, bspw. Erfassen/Erfragen von Entzugssymptomen, der Aktivität von Grunderkrankungen, Complianceproblemen inklusive der evtl. Fehleinnahme anderer nicht vorher abgesprochener Medikamente, evtl. Überdosierungen – ggf. mit Plasmaspiegelkontrollen.

    Indikationen für eine stationäre Behandlung, bei der bei ständiger ärztlicher Kontrollmöglichkeit[1] die Abdosierung rascher erfolgen kann, sind:

    • Relevante instabile somatische oder psychiatrische Komorbidität
    • Vergebliche ambulante Abdosierungsversuche
    • Komplikationen bei ambulanter Abdosierung wie Angstattacken, massive Schlafstörungen, gravierende Unruhezustände, quälender Tremor, Entzugsanfälle oder Entzugsdelir
    • Wiederholte Intoxikationssymptome
    • Hochdosisabhängigkeit (z. B. konsumierte Menge regelmäßig oberhalb der in den Fachinformationen empfohlenen Tageshöchstdosis von 600 mg Pregabalin oder 3600 mg Gabapentin)
     

    [1] Epileptische Entzugsanfälle und Delirentwicklung sind Komplikationen von schweren Entzugssymptomen, die in der Regel dann auftreten, wenn ein GABAergikum nach länger annähernd täglicher Einnahme nicht ausschleichend, sondern plötzlich abgesetzt wird. Je höher die zuvor eingenommene Tagesdosis, desto wahrscheinlicher kommt es zu solchen Komplikationen. Darüber sollten auch die Patienten aufgeklärt werden. Sollten GABAergika, wie Gabapentinoide abrupt abgesetzt werden, dann wird das Gegenregulieren mit Benzodiazepinen in ausschleichender Dosierung empfohlen, um die Wahrscheinlichkeit von Entzugsanfällen und ‑delirien zu verringern. Hierzu gibt es noch keine kontrollierte Studien. Nach unserer Erfahrung können tägliche Gapapentinmengen von bis zu 4x300 mg oder tägliche Pregabalinmengen von bis 3x50 mg initial mit täglich bis zu 4x0.25 mg Clonazepam kompensiert werden. Höhrere Tagesmengen mit 4x0.25 bis 0.5 mg Clonazepam und sehr hohe Tagesmengen (Gabapentin ≥ 4x600 mg bzw. Pregabalin ≥ 600 mg) mit 4x0.5 mg bis 1 mg Clonazepam. Nach Kompensation der Entzugssymptome sollte die benötigte Benzodiazepinmenge dann ausschleichend abgesetzt werden (z. B. 25 % alle 5 bis 8 Tage). Selbstverständlich sind das nur Richtgrößen und individuelle Dosisanpassungen sind über die mindestens tägliche ärztliche Visite zu steuern.