„Mit der Digitalisierung werden wir einen Dammbruch erleben“
Prof. Dr. Petra Thürmann hat eine verantwortungsvolle Aufgabe: Im Auftrag der Bundesregierung soll sie die Weichen für noch mehr Sicherheit bei Arzneimitteltherapien stellen. Dass 2026 erstmals auch umfassende Informationen zur Medikation in der ePA gespeichert werden können, ist für sie ein Durchbruch. Sorgen macht ihr dagegen die Situation in den Pflegeheimen.
Um bis zu vier Stunden kann sich die Behandlung von Notfallpatienten verzögern, wenn diese bei ihrer Einlieferung keine Informationen zu ihrer Medikation beisteuern können. Die Zahl stammt aus einer Studie, die Neurologen der Medizinischen Hochschule Hannover 2024 im Fachmagazin Journal of Clinical Medicine veröffentlichten. Immer wieder berichten Ärztinnen und Ärzte von dieser im klinischen Alltag fatalen Datenlücke: Gerade ältere Menschen nehmen nicht nur besonders häufig besonders viele Medikamente, die man bei einem Notfall berücksichtigen müsste. Ausgerechnet bei ihnen fehlen oft Informationen zu ihrer Medikation – in Hannover war jeder dritte Patient über 75 Jahren betroffen.
Petra Thürmann, Direktorin des Philipp Klee-Instituts für Pharmakologie am Helios Universitätsklinikum Wuppertal, kennt das auch aus ihrer Klinik: „Statt zu behandeln, müssen die Kollegen bei desorientierten, dämmerigen Patienten zunächst versuchen, Angehörige oder Hausärzte zu erreichen. Stellen Sie sich vor, jemand kommt mit einem Knochenbruch in ein Krankenhaus, der sofort operiert werden müsste. Solange nicht klar ist, ob die Person gerinnungshemmende Medikamente nimmt und welche genau, ist eine Operation zu riskant. Ohne passende Gegenmittel könnten die Betroffenen schwere Blutungen erleiden. Diese Situationen sind untragbar.“

Zur Person
Prof. Dr. Petra Thürmann spricht bei „BÄK im Dialog“ zum Thema „Der AMTS-Aktionsplan des BMG: Digitalisierung und Interdisziplinarität“. Sie hat Humanmedizin studiert und sich auf Medizinische Pharmakologie spezialisiert. Seit 2019 ist sie Stellvertretende Ärztliche Direktorin des Helios Universitätsklinikum Wuppertal, seit 2021 Vizepräsidentin für Forschung der Universität Witten/Herdecke. Im selben Jahr übernahm sie die Leitung der Koordinierungsgruppe für Arzneimitteltherapiesicherheit, seit 2024 ist sie Mitglied des ExpertInnenrats am Bundeskanzleramt. In ihren Forschungen beschäftigte sich Thürmann unter anderem mit Geriatrischer Pharmakotherapie und geschlechtsbezogenen Unterschieden in der Arzneimitteltherapie.
Einer Analyse der Weltgesundheitsorganisation von 2023 zufolge gehören Lücken bei der Weitergabe relevanter Informationen weltweit zu den häufigsten Gründen für Medikationsfehler. Fachleute hoffen, dass das Problem 2026 kleiner werden wird. Ab dem ersten Oktober des kommenden Jahres sollen digitale Medikationspläne in die elektronische Patientenakte (ePA) integriert sein, zusammen mit für die Medikation relevanten Informationen. Danach schließen sich Ärzte in Kliniken und Praxen mit dem Einlesen der Versichertenkarte die Information auf, was ihre Kolleginnen und Kollegen verordnet und welche Diagnosen sie gestellt haben. „Das ist wirklich ein großer Schritt“, sagt Thürmann. „Ein echter Durchbruch.“
Sie ist nicht nur Fachärztin für Klinische Pharmakologie und damit auf den sicheren Einsatz von Arzneimitteln spezialisiert. Die Professorin ist auch Mitglied der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, einem ständigen Ausschuss der Bundesärztekammer, und sie sitzt der vom Bundesministerium für Gesundheit eingerichteten Koordinierungsgruppe für Arzneimitteltherapiesicherheit vor.
In diesem Gremium sichten Vertreter von Ärzte- und Apothekerschaft, von Kliniken, Pflegekräften und Patienten typische Risikokonstellationen und erarbeiten auf der Basis ihrer praktischen Erfahrungen und ihres Wissens Maßnahmen und Projekte, die den gesamten Prozess der Arzneimitteltherapie, von der Verordnung bis zur Einnahme, sicherer gestalten. Vertreter des Ministeriums begleiten den Prozess.
Namensverwechslungen, Nierenprobleme, zu hohe Dosis
Wie Medikationspläne den Nebel in der Anamnese lichten könnten, ist nur eine von insgesamt 231 Ideen, die das Expertengremium seit Beginn seiner Arbeit im Jahr 2008 ausgearbeitet und praxistauglich gemacht hat, aber eine entscheidende. „Nicht nur Klinikärzte, auch Niedergelassene mussten sich bisher oft auf Patientenangaben verlassen, das war riskant“, erklärt Thürmann.
Durch reine Namensverwechslungen von Medikamenten im Anamnesegespräch könne es passieren, dass ein Mensch zwei verschiedene Wirkstoffe nehme, die man nicht kombinieren sollte, weil sie sich gegenseitig stören. „Oder ein Arzt erfährt nichts von den Nierenproblemen seines Patienten, sodass er die Medikamente in zu hoher Dosis verschreibt. In der ePA kann so eine Information hinterlegt werden.“
„Nicht nur Klinikärzte, auch Niedergelassene mussten sich bisher oft auf Patientenangaben verlassen, das war riskant.“
Prof. Dr. Petra Thürmann
Nach einer Metaanalyse aus dem Jahr 2016 gehen in entwickelten Ländern wie Deutschland 3,3 bis 11 Prozent aller Krankenhauseinweisungen auf Nebenwirkungen zurück, rund 70 Prozent dieser Ereignisse wären vermeidbar. Die häufigsten Probleme: innere Blutungen und Unterzuckerung, wie Forscher des Netzwerks regionaler Pharmakovigilanzzentren schon 2007 herausfanden.
Besonders wichtig ist ein guter Überblick aller Beteiligten bei Patienten mit „Polypharmazie“, bei Menschen also, die mehrere Wirkstoffe dauerhaft kombinieren müssen. Fast jede dritte Person über 65 Jahre nimmt fünf und mehr Medikamente gleichzeitig, ab dem 80. Lebensjahr ist es fast jede zweite. Etwa jeder Zehnte über 80 ist sogar auf zehn oder noch mehr Medikamente angewiesen, das kann trotz Medikationsplan unübersichtlich werden.
Thürmann begrüßt deswegen sehr, dass über die ePA auch die Apotheker Informationen zu Medikamenten und Stoffwechselproblemen der von ihnen versorgten Patienten erhalten. „Die Digitalisierung bietet uns hier die Chance auf mehr interprofessionellen Austausch. An Kliniken mit Stationsapothekern sehen wir, was das für eine gute Sache ist: Die Arzneimittelspezialisten sind auf diesen Stationen fester Teil des Teams, gehen komplexe Behandlungen durch und geben den Ärzten Hinweise, wie man die Kombinationen verschiedener Wirkstoffe aus pharmakologischer Sicht im individuellen Fall optimieren könnte.“
Ihrer Erfahrung nach sind auch Pflegekräfte wichtige – und bisher noch nicht genug berücksichtigte – Akteure auf dem Weg hin zu einer sicheren Arzneimitteltherapie. Sie seien es, die pflegebedürftigen Menschen ihre Medikamente verabreichen. Und sie erlebten als erste, ob es den Kranken damit besser oder schlechter geht. „Beobachten sie aufmerksam, kann schneller gegengesteuert werden.“
Das Problem in den Altenheimen
Nach wissenschaftlichen Erhebungen erhalten Menschen über 65 mitunter Medikamente, die für sie wegen ihres Alters nicht geeignet sind. Noch größer ist das Problem bei den Bewohnern von Altenheimen: Thürmann selbst hat sich in mehreren Forschungsprojekten in Dutzenden Einrichtungen damit auseinandergesetzt und untersucht, was sich verändert, wenn man das Arzneimittelwissen der Pflegenden stärkt.
Der Fokus lag auf Wirkstoffen mit hohem Nebenwirkungsrisiko, die bei hochaltrigen Menschen möglichst vermieden werden sollten. Pflegerinnen und Pfleger konnten sie daran klar erkennen, dass sie in einem Ampelsystem rot gekennzeichnet waren. „Uns ging es einerseits darum, das Bewusstsein dafür zu schulen, dass bestimmte Veränderungen eines Patienten auch die Folgen der Medikation sein können“, sagt Thürmann. „Und dann wollten wir mit dieser Studie auch das Problem mit den Psychopharmaka adressieren.“
Besonders häufig bekommen Heimbewohner Pipamperon, einen psychoaktiven Stoff, der sehr schläfrig macht. Auch für Erregungszustände bei Demenzerkrankungen ist dieses Neuroleptikum zwar zugelassen, aber der Einsatz muss sorgfältig abgewogen werden, denn gerade gebrechlichen Menschen kann Pipamperon in vielfältiger Weise schaden, wie Thürmann erklärt. „Etwa indem es Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Morbus Parkinson oder Gangunsicherheiten verstärkt.“
Dass es auch anders funktionieren kann, erlebte Thürmann ebenfalls in ihren Vor-Ort-Studien: Dort traf sie auch auf Heime, die es sich zur Regel gesetzt hatten, demente Menschen durch persönliche Zuwendung und Ergotherapie zu beruhigen, Pflegekräfte waren in entsprechenden Techniken geschult – und wussten über Risiken bestimmter Wirkstoffgruppen Bescheid. Nicht nur die so Betreuten profitierten dort gesundheitlich, auch die Pflegekräfte fühlten sich ausgeglichener, zufriedener.
„Die Lösung im Sinne der Arzneimitteltherapiesicherheit wäre aus meiner Sicht ganz einfach: Man könnte die Kriterien der Qualitätssicherung entsprechend anpassen und im Rahmen der Qualitätssicherung anhand der Krankenkassendaten prüfen, wieviel Prozent der Bewohner sedierende Medikamente bekommen und ob die Einrichtung unter oder über dem Durchschnitt liegt“, sagt sie. „Dann würden diese Zahlen bestimmt sinken. Und wohl auch weniger Pflegekräfte kündigen.“
Thürmann hofft nun auf neue Prüfrichtlinien für die Heimaufsicht: „Die Arzneimitteltherapiesicherheit ist so ein junges Fach, es dauert, bis die großen Veränderungen zum Medizinischen Dienst oder anderen Organisationen finden und umgesetzt werden. Ich bin der Überzeugung: Mit der Digitalisierung bei der ePA werden wir einen Dammbruch hin zu interprofessionellem Arbeiten erleben – und das wird auch die Pflegeheime verändern. Unser Argument ist schließlich unschlagbar: Wir tun das zum Wohle der Patienten.“
Hintergrund
Die Aktionspläne AMTS sind eine Initiative des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) zur Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit in Deutschland: Seit 2008 werden mehrjährige Aktionspläne aufgelegt, mit konkreten Maßnahmen, um die Zahl der Medikationsfehler und unerwünschten Arzneimittelwirkungen zu verringern. Mal ging es um interprofessionelle Kommunikation, mal um Schulungen oder darum, wie das potenziell tödliche Krebsmedikament Methotrexat sicher verabreicht werden kann. Mit Mitteln der AMTS-Aktionspläne wurden Forschungen rund um Arzneimittelsicherheit gefördert und vorgeschlagene Maßnahmen evaluiert. Unter anderem sind so auch die bei Eltern beliebten Rechercheplattformen „Kinderformularium“ und „Embryotox“ entstanden.
Die erste Idee für einen transparenten Medikationsplan stammt ebenfalls aus dem Gremium: Seit Oktober 2016 kann sich jeder Kassenversicherte in Deutschland, der drei oder mehr Medikamente gleichzeitig einnimmt, in den betreuenden Arztpraxen einen „Bundeseinheitlichen Medikationsplan“ (BMP) zusammenstellen und ausdrucken beziehungsweise auf seiner Versichertenkarte speichern lassen – verankert wurde das im Sozialgesetzbuch V und damit in der Versorgung der Patienten mit Paragraf 31a. Neben den Medikamentennamen sind im BMP auch der Grund und Hinweise für die Einnahme sowie Dosierangaben hinterlegt.
Aktuell wird der sechste Aktionsplan erarbeitet, dass die Pläne kontinuierlich fortgeschrieben werden, zeigt, was man ihnen für einen hohen gesundheitspolitischen Stellenwert zuschreibt.
„Koordinierungsgruppe des Bundesministeriums für Gesundheit zur Umsetzung und Fortschreibung des Aktionsplans AMTS“: In diesem Gremium tauschen sich auf Bundesebene Vertreter der Ärzte- und Apothekerschaft, der Krankenhäuser, der Pflegeberufe, der Patientenverbände und Mitarbeiter des BMG kontinuierlich über die Umsetzung und Ergebnisse der Maßnahmen des Aktionsplans aus. Prof. Dr. Petra Thürmann sitzt dem Gremium als Vertreterin der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) vor. Dr. Nina Griese-Mammen, Leiterin der Abteilung Wissenschaftliche Evaluation im Geschäftsbereich Arzneimittel der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA), ist die Co-Vorsitzende. Die Koordinierungsgruppe wird durch das wissenschaftliche Sekretariat bei der AkdÄ unterstützt.
Die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) ist ein ständiger Ausschuss der Bundesärztekammer. Von ihr erhält sie ihre Aufgaben. Dazu gehört Bundesärztekammer und Ärzteschaft zu wissenschaftlichen Fragen rund um Arzneimittel unabhängig zu beraten. Die AkdÄ informiert zum Beispiel, sich nach Datenlage auch unter Berücksichtigung von wirtschaftlichen Gesichtspunkten am besten eignen. Gemäß ärztlicher Berufsordnung müssen Ärztinnen und Ärzte unerwünschte Arzneimittelwirkungen der AkdÄ mitteilen. Online ist das ebenfalls möglich. Die Kommission steht unter anderem im Austausch mit den für Arzneimittelsicherheit zuständigen Bundesbehörden.